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Gegen Putin hilft kein Zaudern – nur Handeln

Es ist wieder Krieg in Europa. Nur wenige Flugstunden von Berlin entfernt führt Putin seit dem 24. Februar einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er bombardiert Städte, Charkiw, zerstört deren Infrastruktur, vertreibt und ermordet die Zivilbevölkerung. Inzwischen sind deshalb bereits mehr als zehn Millionen Menschen auf der Flucht. Aber nicht nur das. In Butscha werden vor dem Rückzug der russischen Truppen Zivilsten wahllos abgeschlachtet und demonstrativ in den Straßen liegen gelassen. Warum? Damit auch niemand an der Entschlossenheit und der Brutalität des „Feldherrn“ Putin zweifelt? Wir werden siegen, heißt das, koste es was es wolle. Diese gruselige Botschaft geht auch von der Belagerung Mariupols aus. Dort harrten bis zuletzt unter permanentem Bombenhagel Tausende Zivilisten und verletzte Soldaten in den Katakomben des Stahlwerkes Asowstal aus. Von Mariupol selbst ist nur noch Schutt und Asche übrig. Die überlebenden Zivilisten und 959 Soldaten haben sich ergeben und wurden nun in die sogenannte Donezker Volksrepublik deportiert. Ihr Schicksal ist ungewiss.

Ein Kommentar von Kerstin Müller

Russland hat also nicht nur einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen seinen friedlichen Nachbarn, die Ukraine eröffnet. Es verletzt permanent das Kriegsvölkerrecht, indem Zivilisten und Kriegsverletzte bombardiert, ermordet und verschleppt werden. Die ukrainische Armee wehrt sich dennoch seit drei Monaten sehr erfolgreich gegen die russischen Invasoren. Von ungeahntem Widerstandswillen geleitet ist sie so erfolgreich, dass Putin noch vor den Feierlichkeiten zum 9. Mai seine Kriegsstrategie ändern musste: Statt auf die gesamte Ukraine konzentriert er sich nun auf die Regionen des Donbass und entlang des Asowschen Meeres. Die Eroberung Mariupols und wahrscheinlich demnächst Odessa scheinen inzwischen zentrale Kriegsziele, um für die Ukraine den lebenswichtigen Zugang zum Schwarzen Meer zu blockieren.

Der Ukraine fehlt es nicht an Kampfgeist – aber sonst leider fast an allem. Genau deshalb ist die Unterstützung des Westens so zentral. Der amerikanische Kongress hat daher gerade mit den Stimmen von Demokraten und Republikanern ein historisches Unterstützungspaket in Höhe von 40 Milliarden USD beschlossen. Auch der Deutsche Bundestag hat nach heftigen Debatten am 28. April einen historischen Beschluss gefasst und sich über die Fraktionsgrenzen hinweg für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen.

Aus meiner Sicht völlig zu Recht, denn die Ukraine hat nach der UN-Charta nicht nur ein Recht auf Selbstverteidigung. Sie verteidigt in diesem Krieg gegen die russischen Invasoren unsere europäische Friedensordnung und die Werte und Prinzipien der UN-Charta. Daher: Wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt, müssen ihr in ihrem Existenzkampf beistehen – oder etwa nicht?

Ein Kreis von Intellektuellen, emeritieren Professoren sowie Schriftstellerinnen und Schriftstellern rund um Alice Schwarzer findet das nicht und hat in einem offenen Brief an Olaf Scholz den Stopp von Waffenlieferungen gefordert. Die wenigsten der Unterzeichnenden sind zwar bisher außenpolitisch in Erscheinung getreten. Aber klar: Wenn es um Krieg geht und der vielleicht auch uns droht, dann sollte jeder und jede eine Meinung dazu haben. Und ja – ich bin unbedingt dafür, dass eine so zentrale Frage, wie die zur richtigen Haltung zum russischen Angriffskrieg, in der Breite der Gesellschaft diskutiert wird. Immerhin tragen nach aktuellen Umfragen 58 Prozent der Deutschen die Entscheidung mit, nur 34 Prozent sind dagegen. Die Argumente und die Schwere der Entscheidung offen darzulegen, wie Robert Habeck es z. B. macht, bleibt also sehr wichtig.

Aber der ein oder andere Vorschlag in der Debatte mutet doch höchst seltsam an.

So fordern die Autoren Scholz auf, keine schweren Waffen zu liefern, weil wir so zur Kriegspartei

würden. Sie warnen davor, dass man damit, das „manifeste Risiko der Eskalation des Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf nehmen würde.“ Zum einen zeigen Putins Kriege in der Vergangenheit: Er allein entscheidet, ab wann jemand – also hier ggf. die NATO – Kriegspartei wird. Wenn er gewollt hätte, hätte er schon längst bisherige Waffenlieferungen, etwa durch die Amerikaner, oder auch das Sanktionspaket als Kriegseintritt werten können. Zum anderen: Die Annahme, nur weil Putin Atomwaffen hat und damit droht, wird er sie auch einsetzen und daher dürfe man ihm nicht entgegentreten – ist gleich in mehrfacher Hinsicht falsch. Denn einerseits wurden sehr wohl Kriege gegen Atommächte gewonnen. In Vietnam gegen die USA z. B. und Afghanistan gegen die UDSSR und die Nato. Atomwaffen dienten bisher vor allem dazu, durch Abschreckung atomare Kriege zu verhindern. Putin muss daher fürchten, dass, wenn er Atomwaffen einsetzt, er selbst zum Angriffsziel wird. Es spricht aus Sicht Putins nichts dafür, dieses „Gleichgewicht des Schreckens“, das mehr als 40 Jahre funktioniert hat, jetzt aufzugeben.

Und ja, eine Eskalationsdynamik ist in keinem Krieg auszuschließen. Aber was soll daraus folgen? Heißt das, aus Angst vor einem Atomkrieg befähigen wir die Ukraine nicht, sich zu wehren, nehmen „ein bisschen Landbesetzung“, Vergewaltigungen, Mord und Vertreibung einfach hin, fordern sie praktisch zur Kapitulation auf? In der Hoffnung, das würde den Krieg beenden? Das ist nicht nur abgrundtief naiv – diese Argumentation sendet ein völlig falsches Signal: Putin versteht Kapitulation als Schwäche. Das haben wir bei der Annexion der Krim und des Krieges in Luhansk und Donezk gesehen: Die Tatsache, dass die internationale Gemeinschaft ihm diese völkerrechtswidrige Aggression seit 2014 hat durchgehen lassen, hat er als Aufforderung verstanden, mit seinem imperialistischen Plan von der Wiederherstellung des „zaristischen Noworossija“ weiterzumachen. Wenn wir also weiter die gewaltsame Verschiebung der europäischen Grenzen, die Verletzung des Völkerrechts und massive Kriegsverbrechen einfach so hinnehmen; wenn so Putins revisionistischer Krieg gegen die Ukraine Erfolg hat, dann wächst die Gefahr, dass der nächste Krieg auf dem Territorium anderer Nachbarstaaten, wie in Georgien, Transnistrien in Moldawien, in Teilen Kasachstans und auch der Nato stattfindet. Wenn eine Atommacht damit durchkommt, ein Land unwidersprochen anzugreifen, das seine Atomwaffen abgegeben hat, dann ist das ein schwerer Schlag gegen den Vertrag der Nichtverbreitung von Atomwaffen. Eine solche Politik würde den Autokraten dieser Welt geradezu jeden Vorwand liefern, sich ebenfalls atomar zu bewaffnen und das gleiche zynische und gefährliche Spiel zu spielen. Das können wir nicht ernsthaft wollen. In einer solchen Situation, in der internationales Recht mit Füßen getreten wird und die internationale Friedensordnung aus den Angeln gehoben werden soll, dann ist es nicht nur unsere humanitäre und völkerrechtliche Pflicht der Ukraine beizustehen. Es ist auch in unserem ureigenen Sicherheitsinteresse, wenn wir nicht wollen, dass Autokraten wie Putin künftig die internationale Politik bestimmen und sich eine Weltordnung nach ihrem Gusto basteln. Wir würden nicht den Krieg in der Ukraine schneller beenden. Im Gegenteil: Wir würden die Tür öffnen für viele unkalkulierbare Folgekriege und Konflikte.

Wir müssen also die bittere Pille schlucken: Erst die massive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen wird Putin militärisch in seine Schranken weisen und ihn schwächen. Auch der Eintritt Finnlands und Schwedens in die Nato gerade jetzt ist ein konsequenter, richtiger Schritt, der ihm signalisiert: Wir werden uns nicht einschüchtern lassen. Die schnelle Beitrittsperspektive der Ukraine zur EU zeigt dieser, dass sie zu Europa gehört und Putin, dass die Ukraine nicht alleinsteht. Auch hier darf es daher kein Zaudern geben. Zusammen mit einem Energieembargo und dem bereits beschlossenen Sanktionspaket wird die Ukraine erst in der Lage sein, Putin so zu schwächen, dass er wieder bereit ist, ernsthaft zu verhandeln. Denn auch das ist eine Lehre aus allen Konflikten der Welt, ob im Sudan, in Syrien oder auf dem Balkan. Überall sind und waren die Kriegstreiber erst bereit zu verhandeln, wenn sie ihre Felle „auf dem Schlachtfeld“ davonschwimmen sahen.

Sicher – es ist für eine Demokratie kaum aushaltbar, tagtäglich diese Kriegsbilder über den TV flimmern zu sehen. Wir sollten aber bedenken: Nicht wir kämpfen, nicht wir müssen fliehen oder Tag und Nacht Angst haben, dass wir und unsere Kinder durch eine Bombe ermordet werden. Unserer Regierungen fassen Beschlüsse – aber so richtig unbequem wurde es für uns persönlich noch nicht. Wir sehen diese Bilder immer noch vom Sofa aus. Und das Einzige, was wir tun können und daher auch tun müssen, ist, die Ukraine solidarisch mit allem zu unterstützen, was sie braucht.

Kerstin Müller

Staatsministerin im Auswärtigen
Amt a.D. (2002-05)
MdB Bündnis 90/Die Grünen 1994-2013, davon u.a. 8 Jahre Fraktionsvorsitzende
Senior Associate Fellow der DGAP,
Kuratorium Aktion Deutschland hilft,
Beiratsmitglied von ELNET

Unterschreibt bitte hier:
https://www.change.org/p/die-sache-der-ukraine-ist-auch-unsere-sache