„Kurz und knapp“ ist eine Interview-Serie des Berliner Fotografen Jens Wazel.

Kurz und knapp … wer bist du?

Ich bin Musikerin, genauer gesagt Singer-Songwriterin.

Was sind das für Songs?

Ich singe sehr emotionale Lieder, in denen viel Unsicherheit verarbeitet wird, und ich hoffe, damit andere Leute auf eine Art und Weise zu berühren, dass sie sich gestützt fühlen.

Wie entstehen die Lieder?

Ich setze mich mit der Gitarre oder dem Klavier hin und nehme mir vor, einen Song zu schreiben. Wenn dann ein Satz kommt, ist das ein Zeichen, dass ein Lied entstehen kann. Manchmal habe ich auch nachts Gedanken, die ich in ein kleines Notizbuch schreibe. Aber ich bin selten so konsequent, dass ich das zu Ende führe, ich muss mich wirklich zwingen, Songs fertig zu schreiben. Beim letzten Studioalbum habe ich mir eine Deadline gesetzt, indem ich einen Studiotermin gebucht habe, und dann war klar, dass bis dahin zwölf Songs fertig sein müssen.

Was sind deine Themen?

Ich glaube, ich bin auf ein Thema spezialisiert: Herzschmerz und die Verarbeitung von Zurückweisung. Das hat mit dem Prozess zu tun, wie ich Lieder schreibe: Ich spiele irgendwelche Harmonien, die mich in einen bestimmten Zustand versetzen. Ich höre hin, was die Musik für eine Emotion in sich birgt, und versuche dann, dazu Worte zu finden. Es gibt für mich scheinbar nur ein gewisses Spektrum an Emotionen, die Lust haben, zu Worten zu werden. Das hat etwas Kathartisches: Es gibt keinen Song, bei dem ich während der Entstehung nicht zumindest ein Tränchen verdrückt habe – selbst bei den fröhlichen.

Es sind nicht alles meine Geschichten, die ich erzähle, aber sie sind schon verwandt mit eigenen Erfahrungen. Ich war in der Schule lange Außenseiterin. Es hat bis zur 7. Klasse gedauert, bis ich mich auch mal zugehörig gefühlt habe. Viele Singer-Songwriterinnen, die ich kenne, haben sich in der Schulzeit als Außenseiterin oder Außenseiter empfunden. Es gab später dann einen Moment, wo ich gemerkt habe, was für Brücken es schlagen kann, Musik zu machen. Es gab Leute, die mich vorher komplett ignoriert und dann plötzlich umarmt haben und offen mir gegenüber waren.

Hast du eine Message?

Mir ist irgendwann aufgefallen, dass Liedermacher einen ganz anderen Ansatz haben als ich. Sie haben ein politisches Anliegen und suchen ein Sprachrohr, um ihre Sichtweise zu verbreiten. Meine Inspiration kommt aber aus der Musik, und die löst bei mir aus, dass ich meinen Blick eher nach innen als nach außen kehre.

Wie ging das los mit der Musik?

Ich habe im Schulchor gesungen, dann mit sechs mit Klavierunterricht begonnen, mit 13 noch Klarinette. Mein Vater ist sehr musikalisch. Seine Großmutter war Opernsängerin, er selber durfte aber keine Musik machen. Er hat erst mit 41 angefangen, Klavier zu lernen.

Ich bin in Hamburg geboren, habe da auch noch ein Semester Medizin studiert, aber das Studium abgebrochen. Anschließend war ich drei Monate in Indien und ein halbes Jahr in Schweden. Da hatte ich viel Zeit und eine Gitarre und fing an, Lieder zu schreiben. Mit 20 wusste ich, dass ich Singer-Songwriterin werden möchte und bin nach Weimar gezogen, um da Infrastruktur und Umwelt zu studieren. Allerdings habe ich in meiner Zeit als Studentin auch Songs geschrieben und 2007 meine Band gegründet.

Und dann?

Dann bin ich 2011 nach Leipzig gezogen, und es lief eigentlich ziemlich gut mit der Musik, bis ich 2014 dachte, ich bin durch damit, Musikerin zu sein.

Plötzlich fühlte es sich einfach sinnlos für mich an – oberflächlich, mit zu wenig Impact. Ich wollte etwas Sinnvolles machen auf diesem Planeten, mit dem wir so ausbeuterisch umgehen und habe gedacht, dass ich Umweltaktivistin werden muss. Also bin ich nach Holland gegangen, habe einen Master in Wasserressourcen-Management begonnen und im Rahmen davon für ein halbes Jahr ein Praktikum bei Greenpeace gemacht.

Wie lange lebst du schon in Berlin?

Ich bin 2017 nach Berlin gekommen. Ein Großteil meines Freundeskreises ist hier. Es ist ein Ort, der viele Musikerinnen und Musiker anzieht, weil es eine Infrastruktur dafür gibt. Ich hatte zwischen 2012 und 2016 keine Songs geschrieben und von 2013 bis 2020 kein neues Album rausgebracht, aber zum Glück habe ich eine sehr treue Zuhörerschaft, die in der Zeit trotzdem weitergewachsen ist.

2020 hast du dein Album „Nah“ veröffentlicht …

Ja, und da hat mein Vater das Cover gezeichnet, auch die Zeichnungen im Booklet sind von ihm. Ich bin mit seinen Bildern aufgewachsen, und ich hatte die Vision, dass der visuelle Teil des Albums so aussehen soll wie das, was er zeichnet. Er war zu dem Zeitpunkt nicht mehr inspiriert zu malen – eine Blockade. Die Arbeit an meinem Album hat ihn dann wieder ins Schaffen gebracht, vielleicht weil er einen Auftrag hatte. Jetzt malt er wieder ein Bild nach dem anderen.

Du bist zweisprachig aufgewachsen, singst du auch auf Spanisch?

Mein Papa ist aus Mexiko und war in Hamburg in einem deutsch-mexikanischen Zirkel, wo es Feiern gab und mexikanisches Essen. Alle zwei Jahre haben wir die Familie in Mexico City besucht. Spanisch habe ich aber nur als gesprochene Sprache gelernt, und Songschreiben ist für mich mit der Schriftsprache verbunden. Es fühlt sich schön an, auf Spanisch zu singen, aber es hat sich nie in eigenen Liedern manifestiert. Aber das kann ja noch kommen.

Gibt es neben der Musik noch andere Themen, die dir wichtig sind?

Mein großer Sohn ist jetzt in die Schule gekommen und hat mir gesagt, dass er und ein anderer die einzigen Jungs sind, die auch mit Mädchen spielen. Warum ist das 2023 immer noch so? Wo haben die Kinder das her? Das ist so ein Thema, das mich beschäftigt.

Ich wünsche mir, dass wir alle füreinander das Beste wollen, aber ich habe das Gefühl, dass viele Leute sich abschotten müssen gegen all die Eindrücke, die sie erreichen, und wenig rücksichtsvoll mit den Menschen um sie herum umgehen. Wie kann man es fördern, dass wir mehr aufeinander achten? Meine Schwester lebt in den USA, und da ist mir aufgefallen, dass man in der Öffentlichkeit auf einer höflichen Ebene sehr viel rücksichtsvoller miteinander ist. Man rempelt sich z. B. nicht an, man lässt sich gegenseitig den Vortritt.

Ich bin in Deutschland auch immer wieder erstaunt, wie Kinder in öffentlichen Räumen ignoriert werden, als ob sie nur Beiwerk von Eltern wären, oder sogar als lästig empfunden werden. In der Bahn oder in Restaurants zum Beispiel. In anderen Ländern gibt es Restaurants, die eine Kinderspielecke haben und manchmal sogar Leute, die die Kinder betreuen.

Arbeitest du an neuen Songs?

Ich habe seit langer Zeit den Plan, ein tanzbares Album zu schreiben. Ich liebe es zu tanzen, wollte als Kind auch mal Tänzerin werden. Ich mag es, wenn das Publikum sich bei den Konzerten bewegt und zu sehen ist, wie es mitgeht.

Stell dir ein Leben ohne Musik vor …

Ich wäre aufgeschmissen. Ich bin so froh, dass ich das mit der Musik gefunden habe.

Vielen Dank!

Alin Coen

Alin Coen ist Singer-Songwriterin. Sie hat zwischen 2010 und 2022 sechs Alben veröffentlicht, u. a. Nah. Alin lebt mit ihrer Familie in Berlin.

www.alincoen.com

Jens Wazel

ist Fotograf und Videofilmer. Im Osten aufgewachsen, wohnt er nach 25 Jahren in den USA wieder in Berlin.

www.jenswazelphotography.com