Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Im Herbst 2018 erschien mit einem Kiezspaziergang durch Alt-Pankow die erste Folge dieser Serie. In den letzten sechs Jahren hat sich rund um den Pankower Dorfanger einiges verändert.
Zeit für einen erneuten Besuch.

Im Großbezirk Pankow macht der namensgebende Ortsteil flächenmäßig nur einen geringen Teil aus: Er ist der viertkleinste der 13 Ortsteile, weitaus kleiner als Weißensee oder Prenzlauer Berg, selbst Niederschönhausen ist größer. Nichtsdestotrotz hat das 1311 erstmals urkundlich erwähnte Angerdorf, das seinen Namen der es im Norden begrenzenden Panke verdankt, über Jahrhunderte eine große Strahlkraft in die Stadt Berlin hinein gehabt: Seit auf der anderen Seite des Flüsschens Elisabeth Christine, die ungeliebte Gemahlin Friedrichs II., im Schloss Schönhausen glückliche Sommermonate verbrachte, bedachte man das dörfliche Pankow und das angrenzende, als Rückzugsort der Hohenzollern dienende Schlossparkareal zunehmend mit Aufmerksamkeit. Heute erinnert hier wenig daran: Neben dem Schloss Schönhausen ist das einzig erhaltene Gebäude aus friderizianischer Zeit eine altrosa Villa in der Breiten Straße 44. Das sogenannte Kavalierhaus, um 1765 errichtet, war zwischen 1866 und 1938 im Besitz der Schokoladenfabrikantenfamilie Hildebrand, die 1935 die Scho-Ka-Kola erfand, und wird heute von der Caritas für Veranstaltungen genutzt. Mit dem industriellen und wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerjahre wurde Pankow – wie auch die umliegenden Gemeinden – aufgrund seiner landschaftlichen Vorzüge zu einem beliebten Ziel der Sommerfrischler, was zu einem Ausbau der Infrastruktur führte, sodass Fabrikanten, Bankiers und andere Gutbetuchte sich villenartige Sommersitze und bald auch winterfeste Residenzen errichten ließen. Mit der zunehmenden Bebauung und der Anlage des heutigen Straßensystems ging in den 1890er-Jahren der dörfliche Charakter Pankows weitestgehend verloren. Erahnen lässt er sich noch an der ellipsenförmigen Teilung der Breiten Straße, wo auf dem ursprünglichen Dorfanger seit 1857 einer der ältesten noch existierenden Wochenmärkte abgehalten wird. Hier befindet sich auch die einstige Dorfkirche, deren grobe Feldsteingrundmauern im 15. Jahrhundert einen Vorgängerbau aus Holz ersetzten.

Ende der 1850er-Jahre ließ der berühmte preußische Baumeister Friedrich August Stüler die Kirche erweitern, indem er ihr die heutige Backsteingestalt verpasste und zwei achteckige Glockentürme errichten ließ. Wer heute nach Spuren des dörflichen Lebens in Pankow sucht, findet in der Wollankstraße 130 die vor gut 150 Jahren erbaute Alte Bäckerei. Die mit Originalmöbeln eingerichteten Räume des kleinen Hauses spiegeln das ländliche Leben einer Pankower Familie um das Jahr 1900 wider, auch historisches Spielzeug könnte man hier im Museum für Kindheit entdecken, wäre es nicht auf unbestimmte Zeit geschlossen. Bis zum letzten Jahr wehte an drei Nachmittagen in der Woche noch der Duft frisch gebackenen Brotes, das direkt vom historischen Brustfeuerungsofen aus verkauft wurde, von der Remise herüber in die Räumlichkeiten, ein Pächter für die Backstube wird derzeit gesucht. Einzig die Herberge scheint noch betrieben zu werden: Wer einmal in einem alten Bauernbett schlafen und in einer Holztrogbadewanne planschen will, hat die Möglichkeit, sich unter dem Giebeldach des Hauses tageweise einzuquartieren. Um die Wohnsituation der Wohlsituierten jener Zeit kennenzulernen, empfiehlt sich der kurze Spaziergang in die Heynstraße 8. Hier ließ der Stuhlrohrfabrikant Fritz Heyn im Jahr 1893 direkt neben seinem Gewerbehof, den heutigen Heynhöfen, in der bereits zu Lebzeiten nach ihm benannten Straße ein repräsentatives Wohnhaus errichten, in welchem er mit seiner Familie die Beletage bewohnte. Achtzig Jahre später fand man im Zuge der Wohnungsauflösung einige der Räumlichkeiten in ihrer originalen Ausstattung vor und machte sie umgehend zum Museumsstandort. In den opulent ausgestatteten Salons mit ihren bemalten Stuckdecken und Wänden, den schmuckvollen Kachelöfen, schweren Kristallleuchtern und der historischen Möblierung bekommt man auch heute noch einen authentischen Eindruck vom großbürgerlichen Leben in wilhelminischer Zeit, in der Badewannen noch Einstiegstreppchen hatten und Küchenofen eingebaute Waffeleisen.

Vom Baumboom jener Jahre zeugen die vielen Gründerzeitbauten im Kiez, aber auch einige bemerkenswerte Gebäudeensembles, wie der nach der jüngsten Schwester Friedrichs des Großen benannte Amalienpark, eine 1897 von Otto March im englischen Landhausstil entworfene Wohnanlage. Ursprünglich gruppierten sich hier neun zwei- und dreigeschossige Mietswohnhäuser um einen gärtnerisch gestalteten Ehrenhof.

Die offene Bauweise des Amalienparks gilt als ein Vorläufer des späteren Reformwohnungsbaus. Ähnlich luftig kommt auch die Alte Mälzerei in der Neuen Schönhauser Straße daher, in der bis 1945 Malz für die Bierherstellung produziert wurde. Zu DDR-Zeiten als Lager genutzt, entstanden hier ab 2007 etwa 150 Eigentumswohnungen.

Amalienpark
Amalienpark

Wenige Jahre später wurde auch aus der Zigarettenfabrik Garbáty in der Hadlichstraße ein exklusiver Wohnkomplex. Das Gebäude entstand einst in drei Bauphasen, deren Zeitgeist sich in der architektonischen Formgebung niederschlägt. Der älteste Fabrikteil mit weißen Glasursteinen und Jugendstilelementen wurde 1906/07 nach Plänen von Paul Überholz errichtet, der 1913 zur Berliner Straße hin einen rechtwinkligen Bau mit neoklassizistischer Fassade anbaute. 1930 wurde das u-förmige Ensemble nach Entwürfen Fritz Högers durch einen modernen, der Neuen Sachlichkeit verpflichteten Riegel an der Ostseite geschlossen. 1938 wurde das Unternehmen im Zuge der „Arisierung“ zwangsverkauft, bis zur Wende stellte man hier im volkseigenen Betrieb vor allem die beliebte Zigarettenmarke Club her.

Direkt nebenan, an der Ecke Hadlichstraße/Berliner Straße, entstand 1912 nach Entwürfen Alexander Beers das Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde mit einem nicht nur durch seine schmuckvolle Kassettendecke beeindruckenden Betsaal, den der Zigarettenfabrikant Josef Garbáty, der das Waisenhaus auch finanziell unterstützte, gestiftet hat. Nachdem die Nationalsozialisten das Gebäude als Reichssicherheitshauptamt nutzten, hatten hier ab 1951 die polnische und zwischen 1971 und 1991 die kubanische Botschaft ihren Sitz. Nach einer umfassenden Sanierung wird das Gebäude heute als Bibliothek und Schule sowie als Veranstaltungsort genutzt.

Zu den repräsentativsten Bauten jener Jahre zählt sicher der 1909/10 vom Pankower Gemeindebaurat Carl Fenten geschaffene Gebäudekomplex an der Ecke Florastraße/Görsch-
straße, der seinerzeit der größte Schulcampus im Berliner Raum war. Das Gebäude, dessen historistische Fassadengestaltung der deutschen Spätrenaissance zuzuordnen ist, während die einzelnen Etagen sich verschiedenen Kunstepochen widmen, trägt seit 1951 den Namen des Pazifisten Carl von Ossietzky und beherbergt heute ein Gymnasium. Dem Geschmack der Zeit geschuldet, findet man auch im rotverklinkerten Pankower Rathaus einen wilden Mix verschiedener Baustile. Besonders beeindruckend sind in dem nach Plänen von Wilhelm Johow 1901–1903 errichteten Gebäude das prachtvolle Vestibül und das dahinterliegende Haupttreppenhaus, in denen Jugendstileinflüsse dominieren.

Ein Vierteljahrhundert später konzipierten Alexander Poeschke und Rudolf Klante an der Westseite einen Erweiterungsbau mit spätexpressionistischer Formgebung. Die dunklen Klinker findet man auch am zur selben Zeit nach Entwürfen von Magistratsbaurat Eilert Franzen entstandenen städtischen Gesundheitshaus, dessen Kunststeinfiguren an den Vorsprüngen Allegorien des Gesundheitswesens darstellen. In dem dreigeschossigen Bau wurden die Schulzahn- und Säuglingspflege ebenso untergebracht wie das Schul- und Wohlfahrtsamt, eine Entlausungsanstalt sowie ein Röntgenlaboratorium und ein Vortragssaal. Das durch seine expressionistische Raumgestaltung auch im Inneren sehenswerte Gebäude beherbergt bis heute das Gesundheitsamt des Bezirks. Eine kommunale Einrichtung ist auch die Galerie Pankow, die bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts existiert und damit zu den ältesten kommunalen Galerien Berlins gehört. 1990 zog sie in die Breite Straße 8 und liegt dort etwas versteckt in einer Jugendstilwohnung in der ersten Etage. Hier werden künstlerische Positionen in den Bereichen Malerei, Zeichnung, Fotografie und Videokunst gezeigt, wobei vor allem an die Kunstentwicklung im ehemaligen Ostteil der Stadt angeknüpft wird, in dem beispielsweise Künstlerinnen und Künstler der älteren und mittleren Generation, die bereits vor 1989 ein eigenständiges Werk vorweisen konnten, aktuelle Arbeiten präsentieren. Darüber hinaus erhalten junge Kunstschaffende die Möglichkeit, sich hier erstmals der Öffentlichkeit vorzustellen.

Der zeitgenössischen Kunst widmen sich auch die anderen Galerien im Kiez, so die Kunstbuch-Plattform einBuch.haus, die vor fünf Jahren den Winskiez in Prenzlauer Berg verlassen hat und sich seitdem in der Florastraße 61 dem Medium Künstlerbuch widmet. Die jüngste Galerie in der Gegend dürfte die Galerie Seelenkuss sein, die Anfang dieses Jahres in der Wollankstraße 135 eröffnet hat, und farbenfrohe Bilder von international ausstellenden Künstlerinnen und Künstlern in den Mittelpunkt stellt. Einige Querstraßen weiter, an der Wollankstraße 112a ist die Galerie Wolf & Galentz zu finden, die sich auf Kunst des 20. Jahrhunderts aus Ost- und Westberlin fokussiert und dieser aktuelle künstlerische Positionen gegenüberstellt. Auf regionale Kunst hat sich auch die Galerie A in der Breiten Straße 2 am Amalienpark spezialisiert. Nicht verwechseln sollte man diesen Kunstort mit der nun bald seit drei Dekaden existierenden Galerie Amalienpark, die, 800 Meter von ihrem ursprünglichen Standort entfernt, im Jahr 2020 neue Ausstellungsräume gegenüber dem Rathaus bezogen hat, ohne ihren alten Namen gänzlich abzulegen. Hier wird das Galerieprogramm von einer Gruppe von elf Künstlerinnen und Künstlern gestaltet, die in acht Ausstellungen pro Jahr bevorzugt eigene Werke ausstellt, jedoch immer wieder auch Gastkünstlerinnen und -künstler einlädt. Die Galerieräume sind auch am aktuellen Standort ein Treffpunkt für Kunst- und Kulturinteressierte, ein Umstand, dem mit Buchpräsentationen und gelegentlichen Abendveranstaltungen Rechnung getragen wird.

Regelmäßige Abendveranstaltungen gibt es hingegen im Zimmer 16, einer Kleinkunstbühne, die nationalen wie internationalen Künstlerinnen und Künstlern offen steht. Zumeist sind Singer/Songwriter zu Gast, darüber hinaus gibt es Unplugged-Konzerte, Weltmusikprojekte, Lesungen, kleine Schauspielproduktionen und Comedyabende, hin und wieder auch Programm für Kinder. Dies bietet seit mehr als zehn Jahren regelmäßig auch das Theater Boka in der Wollankstraße 112. Das Kinder- und Puppentheater präsentiert bekannte Märchen und selbstgeschriebene Stücke mit viel Musik und Witz

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen