Bärbels ungebetener Ratschlag
Freunde, das Jahr neigt sich dem Ende entgegen, und jetzt reißt
euch mal alle zusammen!
So kann man das ja wohl nicht stehen lassen, das sieht aus wie der Tiergarten nach der Loveparade. Und das alles ohne Party. Gut, du bist fertig und hast echt die Nase voll – vielleicht nur mit Rotz von den Schrillionen Infekten, die gerade rumfleuchen, sicherlich aber von dem ganzen Weltgeschehen. Das ist schon alles enorm scheußlich, aber gerade deswegen musst du jetzt nicht alle Hoffnung, Zuversicht und gute Laune für immer hinschmeißen.
Eine Kolumne von Bärbel Stolz
Ich bin hin und wieder anfällig für Self-improvement- Ratschläge und magisches Denken und habe schon vieles ausprobiert. Ich habe mich in Hörbücher und Workshops versenkt und war überzeugt, jetzt ändert sich alles und zwar schnipps. Es klingelt quasi an der Tür und ein fröhlicher Paketbote bringt „mein neues Leben“ vorbei. Das kann dich ganz schön runterziehen, sage ich dir. Denn manchmal hast du einfach eine schlechte Minute, einen schlechten Tag, eine miese Woche. Dir ist was richtig Doofes widerfahren, zum Beispiel bist du in Hundekacke getreten und hast es erst beim Betreten deiner Wohnung bemerkt, oder du willst spontan eine Geburtstagsparty feiern und niemand hat Zeit, oder genau die einzige Hose, die du momentan anziehen könntest, ist gerissen! Oder gar nichts ist anders, aber du bist trotzdem niedergeschlagen und trübsinnig und alle nerven. Aber wenn du in der Positiv- Denken-Schule steckst, bist du natürlich komplett schuld an all dem und hast es in dein Leben GEZOGEN.
Weil Energie folgt immer der Aufmerksamkeit, das sagte schon Einstein, und das steht auf Tassen und Lätzchen, also stimmt es. Und du hast womöglich an was Blödes gedacht oder zumindest nicht positiv genug, das hast du jetzt davon, streng dich mal mehr an. Argh! Das zieht die Laune so richtig runter.
Also, wenn mich die Kacke am Schuh schon genervt hat, der Pickel am Galaabend betrübt, die Absage einer schönen Rolle deprimiert, dann zerschmettert mich die Behauptung komplett, das habe ich mir unbewusst selber KREIERT durch meine Glaubenssätze. Versagerin auf der ganzen Linie, nicht mal Denken kann ich richtig!
Versteh mich nicht falsch – oder mach, ist deine Sache – ich finde es richtig und wichtig, sich seine Prägungen, Glaubenssätze und Verhaltensmuster anzuschauen, sie zu hinterfragen und zu bearbeiten. Und gleichzeitig passieren blöde, traurige und nervige Dinge. Und manchmal bist du eben trübsinnig und nix klappt. Natürlich ist es toll, positiv zu denken. Aber das Leben bleibt nicht stehen, wenn wir mal schlecht drauf sind. Keine noch so Bärbels ungebetener Ratschlag Über das Tal der Tränen hüpfen Freunde, das Jahr neigt sich dem Ende entgegen, und jetzt reißt euch mal alle zusammen! Kolumne von Bärbel Stolz sonnige Einstellung verwandelt die Realität in ein Netflix-Happy-End. Und dann geht es darum, sich den Problemen wirklich zu stellen, anstatt nur zu hoffen, dass sie verschwinden, wenn wir lange genug lächeln. Denn grundsätzlich geht es schon immer weiter, davon bin ich überzeugt. Wie beim Trampolinspringen: Du fliegst hoch, schwebst kurz – und dann geht es wieder nach unten. Doch das Absinken gehört dazu, nur so holst du Schwung für den nächsten Sprung. Und je mehr du daran arbeitest, desto weniger bleibst du auf der Stelle. Das nächste Trampolin steht vielleicht ein kleines Stückchen höher, jedes Mal, wenn es dich runterbeutelt – und jeder dieser Minischritte bringt dich weiter. Ein paar Zentimeter, ein kleiner Sprung nach vorn, und beim nächsten Mal erreichst du wieder ein Stück mehr. Jeder kleine Schwung bringt uns näher zum Ziel – auch wenn der Weg in echt eher ein Flickenteppich aus Minitrampolinen ist als ein glatter Trampolinpfad.
Gerade sind wir in vielerlei Hinsicht unten. Ich muss euch das alles nicht aufzählen, wisst ihr eh selber. Und dann hat jeder noch ganz eigene, individuelle Tiefs und Holperer. Jepp. Und da möchte man dann schon mal alles hinschmeißen und sagen: Ach, leck mich doch am A***! Dann buche ich jetzt eine Flugreise, esse noch viele von diesen Fischen und Schildkröten, ehe es sie nicht mehr gibt, kaufe mir endlich ein Auto und fahre damit viel zu schnell durch Spielstraßen und hupe Menschen an, die sich hoffentlich feste erschrecken. Oder zumindest rolle ich mich auf dem Sofa ein, esse Schokolade und glotze eine Serie nach der anderen, bis ich so stinke, dass die Nachbarn die Tür aufbrechen lassen – wenn es ihnen nicht zu egal ist. Die Menschheit ist langsam, und die Lernkurve verläuft irgendwie komplett nicht linear.
Tatsächlich – wenn du „Lernkurve“ googelst, kommen viele Grafiken, die wellenförmig sind oder mindestens einen Einschnitt haben, das dann als „Tal der Tränen“ bezeichnet wird. Danach geht es wieder bergauf – sagt die Lernkurvenerfahrung. Bis es halt wieder absackt. Irgendwie braucht es das Tal aber, es ist ein Stadium, das bei jeder Art von Entwicklung oder Lernprozess auftritt. Bei den Lernkurven gibt es oft „Plateaus“ und „Abwärtsspiralen“, bevor man wieder Fortschritte macht. Das Tal der Tränen ist das, wo wir lernen, was nicht funktioniert. Wer da hocken bleibt, bleibt in der Spirale, wer weitermacht, bewegt sich langfristig vorwärts. Da sitzen wir jetzt im Tal der Tränen. Obwohl ich positiv über die Wahl in den USA gedacht habe, es hat nix genützt. Wie hoffnungsfroh ich jede wissenschaftliche Errungenschaft zur Rettung des Planeten auch feiere, es kommt irgendein Kakofant und setzt eine noch größere Umweltsauerei auf die Tagesordnung.
Aber EGAL ist das trotzdem nicht. Ich möchte weiter positiv denken und daran glauben, dass das einen Unterschied macht. Jeden Tag die Welt um mich herum ein bisschen schöner, netter, lebenswerter machen. Außer an den Tagen, an denen ich auf dem Sofa stinken muss, weil ich im Tal der Tränen bin. Und wenn wir jetzt alle zusammen wie ein dicker fetter Stein auf das Trampolin plumpsen und uns dabei aneinander festhalten, dann gewinnen wir ordentlich Schwung. Und schießen alle gemeinsam wieder hoch, schneller, als du „Katastrophe“ sagen kannst – mit genug Energie, um einander über das Tal der Tränen zu helfen. Also: Heulen, Nase putzen, jemanden umarmen – und d a n n w e i t e r hüpfen. ■
Infobox
Bärbel Stolz
… ist Schauspielerin und Autorin. Mit ihrer Figur die Prenzlschwäbin hat sie schwäbische, deutsche und großstädtische Eigenheiten aufs Korn genommen und mit ihren YouTubeVideos und Liveauftritten Menschen im ganzen Land begeistert.
Deine Meinung ?