Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Die östliche Spandauer Vorstadt zwischen Rosenthaler Platz und Prenzlauer Tor, Alexanderplatz und Hackescher Markt heißt Scheunenviertel, auch wenn die letzten Heuschober schon vor mehr als 100 Jahren verschwunden sind. Dieser halbe Quadratkilometer wurde als Berlins letzte Altstadt nach der Wiedervereinigung zum größten Flächendenkmal Berlins. Ein Spaziergang durch das Viertel ist die Einladung zu einer Zeitreise durch mehr als 300 Jahre Architekturgeschichte.

Nachdem der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm im Jahr 1670 das Lagern größerer Mengen feuergefährlicher Materialien wie Heu und Stroh innerhalb des Stadtgebiets verboten hatte, entstanden nördlich der mittelalterlichen Festungsmauer 27 Scheunen, um die Tiere auf dem nahegelegenen Viehmarkt (dem heutigen Alexanderplatz) versorgen zu können. Nach Errichtung der Zoll- und Akzisemauer in den 1730er-Jahren lag das Scheunenviertel innerhalb der Stadtgrenzen, Juden war der Zugang zur Stadt fortan nur durch die beiden nördlichen Stadttore, das Rosenthaler Tor und das Prenzlauer Tor, gestattet. Ein Gesetz zwang sie, so sie kein Wohneigentum hatten, ins Scheunenviertel zu ziehen, das bis dahin vor allem von Landarbeitern bewohnt wurde.

Im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte der zusätzlich benötigte Wohnraumbedarf der zuziehenden Arbeiter, die vor allem am Stadtrand, so auch in den niedriggeschossigen Häusern des Scheunenviertels bezahlbares Quartier suchten, nur unzureichend gedeckt werden: Zwar entstanden zwischen Rosenthaler Platz, Hackeschem Markt und Alexanderplatz zahlreiche Wohn- und Geschäftshäuser für die bürgerliche Mittelschicht, darunter sehr repräsentative wie das 1893 im Stil der Neorenaissance errichtete Gebäude in der Münzstraße 21–23, oder schon 1865 das von Adolf Gerstenberg entworfene Direktoratsgebäude des nicht mehr erhaltenen Sophien-Gymnasiums in der Weinmeisterstraße 15, das den Einfluss von Karl Friedrich Schinkels Bauakademie nur schwer leugnen kann, das Gebiet rund um die alten Scheunengassen wurde jedoch schnell zum sozialen Brennpunkt: In den kleinteiligen, baufällig gewordenen Häusern teilten sich die Mieter ihre Wohnungen nicht selten mit Schlafgängern, die die Betten stundenweise mieteten.

Anfang des 20. Jahrhunderts beschloss der Magistrat der Situation ein Ende zu setzen und das Viertel komplett umzugestalten. Wo einst die Scheunen standen, steht nun die Volksbühne. Am 30. Dezember 1914 wurde das nach Plänen von Oskar Kaufmann errichtete Gebäude feierlich eingeweiht. Möglich wurde der Bau durch sogenannte „Arbeitergroschen“, Spenden der Mitglieder des Vereins Freie Volksbühne, der nun ein eigenes Theater hatte, das 2000 Personen Platz bot und sich als erstes Schauspielhaus Berlins im Stil der Moderne präsentierte. In den 1920er-Jahren sorgte der Theaterreformer Erwin Piscator hier für Furore. Im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, wurde das Haus Anfang der 1950er-Jahre vereinfacht und auf 800 Plätze reduziert, aber mit sozialistischem Schick wieder aufgebaut. Der Schweizer Schauspieler und Regisseur Benno Besson prägte das Bild der Volksbühne von 1974 bis 1977 nachhaltig, nach dem Mauerfall leitete der Regisseur Frank Castorf die Geschicke des Hauses ein Vierteljahrhundert und sicherte ihm immer wieder internationale Aufmerksamkeit. 2021 übernahm René Pollesch, der in Castorfs Ära für einige Jahre die Nebenspielstätte Prater in Prenzlauer Berg bespielte, bis zu seinem frühen Tod im Februar dieses Jahres die Intendanz des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz, das den Standort wieder stolz als Namenszusatz trägt.

Die Geschichte des Platzes, der mit dem Abriss der alten Scheunen auch im Zuge des Baus der U-Bahn-Linie entstand, ist ebenso wechselhaft wie die des Theaters. 1907 als Babelsberger Platz angelegt, erhielt er drei Jahre später den Namen des kurz zuvor verabschiedeten Reichskanzlers Bernhard von Bülow. Aufgrund des Ersten Weltkriegs und während der Inflationszeit kamen die Pläne für den Umbau des Scheunenviertels immer wieder ins Stocken, erst Ende der 1920er-Jahre wurden am südlichen Ende des triangelförmigen Platzes acht Baublöcke mit 170 Wohnungen und 80 Ladengeschäften nach Plänen des Architekten Hans Poelzig im Stil der Neuen Sachlichkeit realisiert. Das bedeutendste dieser gelb verputzten Gebäude mit den abgerundeten Ecken und dem breiten Dachüberstand beheimatet seit 1929 das Kino Babylon, das noch in der Zeit des Stummfilms eröffnet wurde und sich dieser Tradition bis heute verpflichtet sieht. Hier steht die einzige am originalen Standort erhaltene Kinoorgel des Landes, die nahezu vor jedem Hauptfilm und während der samstäglichen Reihe Stummfilm um Mitternacht von Deutschlands einziger festangestellter Hausorganistin gespielt wird. Poelzigs Baupläne wurden bis Mitte der 1930er-Jahre weiter ausgeführt, parallel entstanden hinter der Volksbühne drei von pavillonartigen Torhäusern eingefasste vorstädtisch wirkende Wohnblöcke nach einem Entwurf des kommunalen Baubeamten Richard Ermisch, der die historische Bebauung mit den schmalen Hinterhöfen ersetzte.

Die Nationalsozialisten benannten den Bülowplatz, die Volksbühne, den U-Bahnhof, die Weydingerstraße sowie das Karl-Liebknecht-Haus, seit 1926 die Zentrale der 1933 verbotenen Kommunistischen Partei, nach Horst Wessel, einen von KPD-Mitgliedern getöteten SA-Sturmführer, der zu einem „Märtyrer der NS-Bewegung“ stilisiert wurde. (So wurde der Bezirk Friedrichshain zu Horst-Wessel-Stadt, auch das Krankenhaus Am Friedrichshain, in dem er 1930 gestorben war, trug zwischen 1933 und 1945 seinen Namen.) Mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der Platz nach Karl Liebknecht, dem ermordeten Führer des Spartakusbundes, benannt, seit 1947 trägt er den Namen Rosa Luxemburgs, Liebknechts politischer Kampfgenossin, die 1919 ebenfalls erschossen wurde. 2006 wurden zur mahnenden Erinnerung an die kommunistische Politikerin 60 dunkle, mit Zitaten aus Luxemburgs Schriften versehene Betonbalken des Konzeptkünstlers Hans Haacke verstreut in die Gehwege und Straßen des Platzes eingelassen. Der nördlichste zeigt auf das jüngste Gebäude des Scheunenviertels: den neuen Sitz des Suhrkamp-Verlags, der 2019 bezogen wurde. Der verantwortliche Architekt Roger Bundschuh hat wenige Jahre zuvor auch das Haus „L40“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite entworfen, eine anthrazitfarbene architektonische Skulptur, die er selbst als Haus „ohne Rückseiten“ versteht.

Doch was passierte im westlichen Teil des Scheunenviertels? Nachdem die Umbaupläne des frühen 20. Jahrhunderts nicht weiter verfolgt wurden und die Bomben des Zweiten Weltkriegs hier nur wenig Schaden anrichteten, beschloss die DDR-Regierung Anfang der 1960er-Jahre den Abriss der historischen Innenstadt, 1964 verschwand an der Mulackstraße 15 eines der berühmtesten Häuser des Viertels: In Sodtkes Restaurant, das „Mulackritze“ genannt wurde, verkehrten in den 20er-Jahren Kulturgrößen wie Bertolt Brecht und Marlene Dietrich, auch die Unterwelt war hier zu Hause. Das Interieur der letzten Zille-Kneipe rettete Charlotte von Mahlsdorf kurz vor dem Abriss des Hauses und baute es ins Souterrain ihres Gründerzeitmuseums in Mahlsdorf ein. 1970 entstand an der Prenzlauer Allee das 18-geschossige Hochhaus des Berliner Verlags. Sechs- und siebenstöckige Plattenbauten ersetzten Altbauten u. a. in der Alten und Neuen Schönhauser Straße, der Münzstraße und der Linienstraße.

Die politische Wende 1989 verhinderte eine flächendeckende Neubebauung. Und so ist es wiederholt politischen Umständen zu verdanken, dass man heute beim Flanieren durchs Scheunenviertel nahezu von Haustür zu Haustür durch mehrere Jahrhunderte Berliner Architekturgeschichte geschleudert wird: Wendeltreppen aus der Rokokozeit (Rosenthaler Str. 36), Eisengusskunst auf dem Alten Garnisonsfriedhof, das älteste noch erhaltene Bauwerk des bedeutenden Architekten Alfred Messel (das Volkskaffeehaus in der Neuen Schönhauser Straße 13) sowie dessen einzige erhaltene Kaufhausfassade (Sophienstraße, Ecke Rosenthaler Straße), Jugendstilstuckatur (Almstadtstraße 11) und teutonische Fassaden (Rosa-Luxemburg-Straße 14), die Eleganz der neuen Sachlichkeit (z. B. das Grenanderhaus an der Dircksenstraße), neoklassizistische Eingänge der Nachkriegszeit (Franz-Mett-Oberschule, Gormannstraße 6), Plattenbauvariationen oder innovative Passivhäuser (Linienstraße 23).

Galerie:

Buchtipp:

Scheunenviertel Buch Rainer Haubrich

Wer sich ausführlicher über das informieren möchte, was hier nur kurz angerissen werden kann, sollte sich Rainer Haubrichs reichbebildertes Buch Das Scheunenviertel. Kleine Architekturgeschichte der letzten Altstadt von Berlin (Insel Verlag 2019) anschauen. Am besten liest es sich auf dem idyllischen, zum Park umgewidmeten Alten Garnisonsfriedhof.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen