
Kultur im Kiez entdecken
Text & Fotos: Marc Lippuner
In einer alten Fabrikhalle in Oberschöneweide entsteht zurzeit ein lebendiger Kulturort, in dem Geschichte spürbar ist, Kunst geboren und Gemeinschaft gelebt wird. Der Filmemacher und Künstler Ralf Schmerberg, der das Langzeitprojekt MaHalla ins Leben gerufen hat, beschreibt den Ort als „kreativen Uterus“ und „Kirche ohne Religion“. Ein Raum für Träume, Experimente und Begegnungen.
Die MaHalla blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. „Sie ist das Herzgebäude der Wilhelminenhofstraße“, erklärt Ralf Schmerberg. Die AEG hatte sie, als sie Ende des 19. Jahrhunderts begann, Oberschöneweide zu einem der bedeutendsten Standorte für Elektroindustrie auszubauen, als Ausstellungshalle errichtet, um ihre Dampfturbinen vorzuführen. Die repräsentative Architektur des Gebäudes spiegelt diesen Anspruch mit ihren „Verzierungen und Extrafeinheiten und Liebeleien“ wider. Die 3600 Quadratmeter große Halle ist lichtdurchflutet, dank zahlreicher Fenster, die das zwölf Meter hohe Dach wie Bänder durchziehen. Gusseiserne Pfeiler strukturieren den Raum, ohne ihm etwas von seiner Größe zu nehmen.

Nach dem Krieg wurden die Backsteingebäude entlang des Spreeufers zu volkseigenen Betrieben, nach der Wende standen sie viele Jahre leer. Bis erste Künstlerinnen und Künstler kamen, denen der Raum in der Stadt zu eng und zu teuer wurde. „Du spürst so ein frühes Brooklyn, so wie ich es aus Manhattan kenne“, sagt Schmerberg, „Es ist auch logisch: Die Stadt ist durchsaniert und durchstrukturiert und durchfinanziert, da gehen die Projekte, wie wir Berliner sie lieben und hatten, nicht mehr, und so gehen wir alle in die Peripherie.“ Auch Ralf Schmerberg, der vor fünf Jahren hier im Industrieareal eigentlich ein kleines Atelier anmieten wollte und nur zufällig die Halle betrat. „Es war wie eine filmische Nach-der-Apokalypse-Stimmung – Vögel in der Halle, Staub ohne Ende, keine Menschen, Maschinen, die nicht mehr gingen.“ Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick und statt sich künstlerisch zurückzuziehen, beschloss der Mittfünfziger, noch einmal über sich hinauszuwachsen: „Die Halle hat mich verzaubert. Sie hat diese einnehmende Schönheit, bei der der Mensch aufatmet.“ Denn trotz ihrer Größe verströmt die Halle eine einladende Wärme. „Das Gebäude hat etwas sehr Weibliches“, meint der Künstler mit Blick in den ausladend gebauten Raum und formuliert seine Vision: ein Geburtsort für kreative Geschichten, „ein kreativer Uterus“ solle sie sein. Und so wurde aus der Halle die MaHalla: „Ma steht für Mutter, Halla für Halle – die Mutterhalle.“
Es ist wahnsinnig schwer, frei zu denken, frei zu reden und frei zu handeln, wenn du in Abhängigkeiten bist.

über die große Halle
Siebzig Räume hat Schmerberg in dem Gebäude gezählt, neben der riesigen Halle gibt es eine etwas kleinere, die anderen 68 Räume verteilen sich drum herum: „Wir sind komplett unterkellert, es gibt eine Unterwelt zur Oberwelt, wie ein Labyrinth. Wir haben einen Seitenflügel, ein Gebäude im Gebäude.“ Genug Platz für junge Künstlerinnen und Künstler, die sich finden und entwickeln wollen. Was gut zum Mutterbild passt: ein geschützter Raum, in dem man anfängt, probiert, lernt, groß wird. „Sie ist ein Ort für Träumer, Suchende und Visionäre“, erklärt Schmerberg.
Wir wollen so viele kleine Träume verwirklichen und wir haben so viel Platz.
Der Beginn des Projekts fiel in eine schwierige Zeit: „Wir haben während Corona losgelegt und hatten auf öffentliche Förderung keinen Anspruch“. So gründete der Künstler eine GmbH & Co. KG und finanzierte die ersten Schritte, um das Gebäude betriebs- und genehmigungsfähig zu bekommen, mit einem Netzwerk aus guten Bekannten, Partnern und Investoren. Eigentlich wollte er es viel langsamer angehen lassen, musste jedoch, um eine Insolvenz abzuwenden, schnell betriebswirtschaftlich denken, die Räume beispielsweise für Dreharbeiten und Fotoshootings vermieten, um laufende Kosten und die Miete bezahlen zu können.

Die MaHalla ist eine künstlerische Arbeit.
Ralf Schmerberg versteht sich als Gesamtkünstler, der es liebt, interdisziplinär zu arbeiten, und so soll auch in der MaHalla alles möglich sein. „Sie kann für so Vieles stehen: Oper, Theater, Fussball. Das Schöne an der MaHalla ist, dass wir nicht festgelegt sind und uns nicht festlegen wollen, wir können alles machen im Moment, nichts ist peinlich für uns. Wir haben hier Abiball und Hochkunst, solche Brüche … und wir lieben diese Brüche“, sagt er. Er gibt Nischenprojekten, die im Berliner Kulturbetrieb sonst keinen Platz haben, eine Chance und kreiert selbst eine Handvoll Veranstaltungen, wie die monatliche Musikreihe Sanctum of Sound, die auch 2025 fortgesetzt wird: „Ein Bild von der MaHalla, was ich immer gesehen habe: Die Räume haben was Kirchliches, was Spirituelles, durch das Große, Alles-in-sich-Aufnehmende. MaHalla ist Kirche ohne Religion“, meint Schmerberg. Sanctum of Sound sei als Reaktion auf den Ort entstanden. Zwölf Stunden am Stück lassen sich Musikerinnen und Musiker auf die Räumlichkeiten ein, spielen mit dem Gebäude, das ganz eigene akustische Gesetze hat. Das Publikum kommt, geht, nimmt sich zurück, hört zu, schläft: „Die Musiker sind keine Musiker, das Publikum ist kein Publikum, alles ist eins“, sagt Ralf Schmerberg. „Es ist friedlich. Ich bin immer zwölf Stunden da, es wirkt unheimlich nach. Es ist wie Spa, ich bin erholt danach, beruhigt durch die Frequenz des Sounds.“ Die Tore sind während der Veranstaltung offen. Und auch sonst. Die Menschen aus der Umgebung können hier reinlaufen, Führungen machen und tun das auch, bringen ihre Kinder, ihre Omas mit.


Sicher gibt es auch einige, die nicht wissen, was sie von uns halten sollen.
Ralf Schmerberg betont, wie wichtig es ihm ist, die MaHalla in der Nachbarschaft zu verankern: „Es ist natürlich schön, internationales und cooles Programm zu machen. Aber wir schauen auch direkt auf die Umgebung.“ So wird es in der MaHalla wieder einen Weihnachtsmarkt geben. Tagsüber ein Wochenmarkt, abends die irrste Performance, das muss doch möglich sein. „Wir kommen von außen, aber wachsen hier rein und wollen auch menschlich hier reinwachsen.“ Womit Schmerberg ganz nah an der arabischen Bedeutung des Wortes Mahalla ist, wo es Stadtquartier oder Nachbarschaft bedeutet.
Diese Gemeinschaftlichkeit spiegelt sich in der gesamten Philosophie der MaHalla wider: Sie ist ein Ort, der verbindet – Vergangenheit und Zukunft, Kunst und Alltag, Kreative und die Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft.
MaHalla
Wilhelminenhofstr. 76/77
12459 Berlin
Sanctum of Sound
Eine zwölfstündige spirituelle Musik-Performance
Infobox
Marc Lippuner
leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.
Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

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