Fragen an Luisa Neubauer von „Fridays For Future“ (FFF)

Noch vor wenigen Monaten dominierte der Klimawandel unsere Schlagzeilen. Die Aktivisten von Fridays for Future brachten bis zu 270.000 Menschen alleine in Berlin ans Brandenburger Tor. Die Corona-Krise macht Demonstrieren unmöglich. Doch wie sieht die Zukunft aus?

 

Mein/4: Hat der Corona-Virus Fridays for Future „überflüssig“ gemacht? Der Himmel über China ist wieder klar, die Straßen sind leer, Flugzeuge fliegen nicht mehr …
Luisa Neubauer: Nein, ein sehr kluger Mensch hat mal zu mir gesagt: „Es gibt wohl kaum eine Bewegung, die so erfolgreich und gleichzeitig so unerfolgreich ist, wie FFF.“ Ich glaube, da ist etwas dran. Diese Klima-Corona-Effekte ausgeschlossen, weil es natürlich nicht das ist, was wir wollen.

Wir haben de facto wahnsinnig viel erreicht, diskursiv gesprochen. Wir haben politisches Agenda Setting betrieben, relativ erfolgreich. Und wir haben sensibilisiert für die Klimakrise, die jahrzehntelang weitestgehend ignoriert wurde. Das ist die eine Seite.

Gleichzeitig gibt es keinen Grund anzunehmen, dass wir das Pariser Abkommen erreichen werden. Wir steuern nach wie vor auf drei bis vier Grad Erwärmung zu. Dass es zufälligerweise und völlig unfreiwillig durch Corona momentan Nebeneffekte in Natur und Umwelt gibt, hat nichts mit dem zu tun, was wir wollen.

Mein/4: Den Effekt, wenn die Wirtschaft fast komplett runterfährt, kann man jetzt beobachten.
Luisa Neubauer: Genau, aber dass Emissionen sinken, wenn Wirtschaften kollabieren, ist ökonomisches Allgemeinwissen. Das hat man 1990 gemerkt, das hat man 2008 gemerkt. Man prognostiziert gerade jetzt, dass auf den langfristigem Emissionsgraphen dieser Knick nicht einmal mehr zu sehen sein wird. Weil er so marginal ist im Verhältnis zu dem, was wir eigentlich brauchen. Aber es ist natürlich interessant zu sehen, was gesellschaftspolitischer Wille alles bewegen kann.

Mein/4: Befürchtest du, dass das Thema Klimawandel in Vergessenheit gerät? Vielleicht durch wirtschaftliche Existenzängste der Menschen?
Luisa Neubauer: Aufmerksamkeitsökonomisch argumentiert erleben wir natürlich, dass sich jede Ungerechtigkeit gegenüber anderen Ungerechtigkeiten behaupten muss. Die Corona-Krise und die Klimakrise sind unterschiedliche Krisen; einige Parallelen lassen sich zwar ziehen, aber vom Charakter her sind sie kaum zu vergleichen. Deshalb finde ich es auch nicht hilfreich, Krisenhierarchien aufzumachen.

Wir müssen Corona begreifen als eine Menschheitsaufgabe, die jetzt gerade unsere volle Aufmerksamkeit braucht. Aber nicht bedingungslos. Und eine Bedingung muss sein, ökologisch gerechte und nachhaltige Corona-Bewältigung zu betreiben. So schnell wie es geht, damit wir nicht in der Corona-Krise die Klimakrise weiter beschleunigen. Und dann, sobald wir wieder mehr Kraft, mehr Zeit und mehr Energie haben, mit dem Klimaschutz weitermachen zu können.

Mein/4: Wenn die Corona-Krise überwunden ist, wird es vielen Menschen zumindest wirtschaftlich schlechter gehen als vor Corona. Wie kann man das verbinden, mit Anstrengungen der Bewegung zur Vermeidung des Klimawandels?
Luisa Neubauer: Die Corona-Krise hat einen sehr entblößenden Charakter. Es entblößt ganz viel von den Fragilitäten, von denen wir wussten, dass sie da sind, die wir aber ignoriert haben: Bildungsungerechtigkeiten, Gesundheitssystem, Pflegenotstand usw. Und ein weiterer Aspekt, der bisher noch ignoriert wird, ist, dass es sich beim Klimaschutz nicht um ein Elitenthema handelt.

Die bisherige Annahme war die: Um das Klima kümmerst du dich, wenn du eigentlich von allem anderen genug hast. Das ist eine große Fehlinterpretation der Lage. Denn ein gesundes Klima und ein gesunder Planet sind die Grundlage dafür, dass darauf wirtschaftliches, soziales und gesellschaftliches Wohlergehen wachsen kann. Dass wir das verstanden haben, werden wir beweisen müssen. Das bedeutet natürlich, und das ist ein entscheidender Aspekt dabei, dass wir auf staatliche Verantwortung pochen müssen.

Viele der Menschen, die in der Vergangenheit gesagt haben „ich gehe jetzt fürs Klima streiken“, haben in der Zukunft möglicherweise ganz andere Sorgen. Wir müssen also an dieser Stelle an die Akteure appellieren, an diejenigen, die es verstanden haben, dass sie das jetzt mit dem Klima weiterdenken müssen. Dass sie jetzt im vollen Bewusstsein ihrer politischen Verantwortung handeln, ohne dass die bewegte Gesellschaft in ihrer großen Einheit, in ihrem großen Konsens für das Klima auf der Straße steht und sagt: „Bitte gebt uns mehr Klimaschutz.“

Mein/4: Kann man Klimaschutz mit sozialer Gerechtigkeit verbinden?
Luisa Neubauer: Klimaschutz geht nur mit sozialer Gerechtigkeit, er hat zu Recht arge Legitimationsprobleme, wenn er nicht gerecht ist. Und das wird sich auch jetzt noch einmal verschärfen, wenn es uns insgesamt finanziell gesprochen eher schlechter geht.

Mein/4: Massenkundgebungen werden noch längere Zeit unmöglich sein, ihr habt eure Aktivitäten ins Netz verlagert. Gerade habt ihr 10.000 Plakate vor dem Kanzleramt abgelegt. Womit rechnet ihr in Zukunft? Wie soll es bei euch weitergehen?
Luisa Neubauer: Die Frage ist ja: Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn ein ganz wichtiges Werkzeug des Diskurses, aber auch des Widerstandes, nämlich der Protest, wegfällt? Das ist kein Problem, was nur FFF hat, das ist ein demokratisches Problem. Und auch ein corona-politisches. Eben weil der Protest ein ganz essenzieller Teil einer lebendigen Demokratie ist.

Was jetzt passiert ist, dass ganz viele ihre Aktionen ins Netz verlagern. Das machen wir ja auch, unter „Netzstreik fürs Klima“, in dem Versuch trotzdem auf bestehende Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen und zu zeigen: Da sind wir, und wir fordern etwas von euch. Zumindest teilweise kann das gut klappen. Letzten Freitag zum Beispiel haben sich über 200.000 Menschen online an unserem Protest vor dem Kanzleramt beteiligt.

Das reicht aber nicht, und ich denke, dass für alle Akteure eine protestkulturelle Kreativität gefragt ist. Hörbar machen, sich sichtbar machen, laut sein – trotz der widrigen Umstände und im Bewusstsein über die Ansteckungsgefahr. Das ist entscheidend, weil Ungerechtigkeiten, wie die Situation in Griechenland mit den Geflüchteten, aber eben auch die Klimakrise, nach wie vor so eine existenzielle Bedrohung sind. Die entwickeln sich weiter. Wir werden weiter neue Protestformen entwickeln müssen.

Die eine Woche steht ihr klatschend auf dem Balkon und sagt, super, dass ihr das macht, und drei Wochen später sind mit einmal alle Freiheiten weg, weil ihr nicht ins Fußballstadion dürft…

Mein/4: Es wird im Moment viel diskutiert über Einschränkung der Freiheiten des einzelnen. Wie ist es bei dir, fühlst du dich eingeschränkt?
Luisa Neubauer: Ich kann mit diesen Rufen nach „Gib mir meine Freiheit um jeden Preis wieder und deswegen brauchen wir Lockerung“ nicht so richtig viel anfangen. Noch vor wenigen Wochen haben wir geschwärmt, dass wir eine Krise haben, bei der endlich auf die Expertinnen und Experten gehört wird. Unsere Demokratie und unsere Freiheiten werden ja nicht in die Tonne getreten und aus dem Fenster geworfen, weil wir uns noch zwei oder drei oder mehr Wochen länger an die Restriktionen halten. Es ist mühsam und undankbar, so spürbar Rechte und Freiheiten abzuwiegen. Aber unvermeidlich. Denn meine Freiheit, in großen Gruppen unterwegs sein zu können, konkurriert mit der Freiheit von chronisch Kranken und Risikogruppen, sich bestmöglich geschützt zu wissen. In meinen Augen führen wir eine ganz schön beschleunigte Lockerungsdebatte, die losgelöst scheint von der entschleunigten Wirklichkeit.

Dabei ist unsere Bilanz eigentlich gut, im Vergleich zu anderen Ländern; wir haben wohl einiges gut gemacht. Und es wird sich um Menschen zumindest im großen Maße gekümmert, die gerade aus verschiedenen Gründen leiden. Ich frage mich auch, wann unser Solidaritätsverständnis vom Weg abgekommen ist. Wir bleiben ja nicht nur für die alten Menschen zu Hause, sondern auch für die Menschen, die „systemrelevant“ sind, die uns ein Stück weit gerettet haben in den letzten Wochen. Sie sind die ersten, die ihre Wochenenden gestrichen bekommen und Überstunden machen müssen, wenn wir uns nicht an die Regeln halten. Da denke ich dann teilweise auch „die eine Woche steht ihr klatschend auf dem Balkon und sagt, super, dass ihr das macht, und drei Wochen später sind mit einmal alle Freiheiten weg, weil ihr nicht ins Fußballstadion dürft.“

Mein/4: Gibt es irgendetwas, was du durch die Corona-Zeit gelernt hast und beibehalten möchtest?
Luisa Neubauer: Vorweg gesagt: Das ist eine globale, katastrophale Pandemie, niemand hätte sich so etwas ausgesucht. Und man hätte es unbedingt vermeiden sollen. Jetzt aber glaube ich, wäre es fahrlässig, würde man nicht innehalten und reflektieren, was wir mit diesem neuen Modus machen. Zum Beispiel hat Berlin innerhalb von drei Tagen neue Radwege eingerichtet, das ist ein Unterfangen, was ansonsten auch gerne mal ein paar Jahre gedauert hat. Das ging auf einmal. Das muss nicht als Chance oder als großartige Entwicklung gelabelt sein, aber vielleicht als Aha-Moment, der uns sensibilisieren sollte für Fragen wie: Wie ist es sonst um unseren politischen Willen bestellt? Wie steht es sonst um diese scheinbaren Unmöglichkeiten, die doch möglich gemacht werden können? Und was von diesem Corona-Modus wollen wir möglicherweise beibehalten?

Ich denke da zum Beispiel an Brüssel: Dort hat man Vorfahrt für Fahrräder in der Innenstadt eingeführt. Die haben gesagt: „Wenn wir jetzt ohnehin unseren Verkehr neu kalibrieren, dann können wir die Transformation, von der wir ohnehin wussten, dass sie besser für die Menschen ist, jetzt mitdenken.“ Zieht Berlin mit?

Mein/4: Stichwort Digitalisierung: Wir erleben im Moment Millionen von Menschen, die im Homeoffice arbeiten müssen, Unterricht findet online statt. Was können wir mitnehmen für die Zukunft?
Luisa Neubauer: Man spricht im Moment davon, dass wir einen dreijährigen Digitalisierungssprung machen. Wir erleben eine digitale Beschleunigung. Teilweise wird daraus sicher etwas mitgenommen, in eine Post-Corona-Welt. Und dass Krisen das Beste und das Schlechteste in Menschen hervorholen können, sehen wir auch.

Zum einen wo so viel Solidarität entspringt, Nachbarschaftsverhältnisse, Spendenwände, ich gehe mit ganz neuer Begeisterung in die kleinen Läden bei mir in der Ecke. Und zum anderen, wie Menschen sich entfremden, sich hineinsteigern in Theorien, in Hass und Neid, auch das sehen wir.

Eine andere Sache ist bei der Frage des Zukunftsgestaltens nach Corona wichtig: Wir haben in den letzten Jahren angefangen eine Debatte darüber zu führen, in was für einer Welt wir leben wollen. Verschiedene Ideen sind daraus entstanden, zum Beispiel ein Green Deal für Europa, Zukunftsagenden 2050, es wurde ein bisschen mit dem Gedanken gespielt: Wie sieht denn so eine Zukunft aus? Gerechter, ökologischer, besser.

Der große Haken ist: Das haben wir aber nicht wirklich engagiert gemacht, weil wir sehr damit beschäftigt waren, den Menschen zu erzählen, dass gerade eine Apokalypse vor der Tür steht – die von allen Seiten fleißig ignoriert wurde. Kurz, wir haben das Utopiedenken vernachlässigt. Jetzt hat sich alles umgedreht, und mit einem Mal müssen wir ganz schnell Antworten finden auf wichtige Fragen finanzieller, aber vor allem zukunftspolitischer Natur. Antworten auf die Frage: Wir wird die Zukunft aussehen? Und vor allem: Wie kann sie aussehen, im besten Falle?

Es geht heute nicht „nur“ darum, die Krise zu bewältigen, sondern auch maximale imaginative Kräfte zu bündeln. Wo wollen wir denn hin? Und auch: In was für einer Stadt, in was für einem Berlin wollen wir leben? Dafür müssen wir jetzt die Weichen stellen.

Mein/4: Hast du das Gefühl, dass die Stimmung kippt?
Luisa Neubauer: „Die Stimmung kippt“ kann man nicht sagen und sich selbst dabei herausnehmen. Wir sind alle Teil dieser Stimmung. Appellartig möchte ich sagen: „Wer sagt, die Stimmung kippt, ist selbst Teil des Problems.“ Wir alle tragen selbst als Multiplikatoren, im Kleinen und im Großen, zur Stimmung bei.

Wenn wir auf die letzten Monate zurückblicken, stellen wir fest, wie weit wir über uns hinausgewachsen sind. Wir haben so viel Ungeplantes möglich gemacht, das war unvorstellbar. Wir haben das gemacht, weil die Situation es von uns verlangt hat. Wir dürfen uns nicht von der Vorstellung einlullen lassen, dass sich die Situation jetzt großartig verändert hat. Das hat sie nämlich nicht. Außer dass wir Erfahrungen gesammelt haben, wie wir mit Corona umgehen – die sollten uns stärken und inspirieren für den weiteren Verlauf der Krise.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch!

Info

Fridays For Future“ fordert die Einhaltung der Ziele des Pariser Abkommens und des 1,5°C-Ziels.

Explizit fordern Fridays For Future für Deutschland:

• Nettonull 2035 erreichen
• Kohleausstieg bis 2030
• 100% erneuerbare Energieversorgung bis 2035

Entscheidend für die Einhaltung des 1,5°C-Ziels ist es, die Treibhausgas-Emissionen so schnell wie möglich stark zu reduzieren. Deshalb fordert FFF ab sofort:

• das Ende der Subventionen für fossile Energieträger
• 1/4 der Kohlekraft abschalten
• Eine CO2-Steuer auf alle Treibhausgasemissionen. Der Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen muss schnell so hoch werden wie die Kosten, die dadurch uns und zukünftigen Generationen entstehen. Laut UBA sind das 180,– € pro Tonne CO2.

Fotos: © Pavol Putnoki

Interview veröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020