Franziska Giffey möchte den Blick für die Realität behalten und anpacken, was in Berlin wirklich gebraucht wird. Wir sprachen mit der Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe und Bürgermeisterin von Berlin über relevante Themen und Tatendrang.

Fotos: Pavol Putnoki

mein/4: Da ist jemand, der die Chance hat, Regierende Bürgermeisterin von Berlin zu bleiben, und entscheidet sich ganz bewusst dagegen. Worauf fußt diese Entscheidung?

Franziska Giffey: Das Amt der Regierenden Bürgermeisterin war mein absoluter Traumjob. Ich habe mich angekommen und an der richtigen Stelle gefühlt. Wir hatten die Wahl 2021 gewonnen und uns an die Arbeit für eine volle fünfjährige Legislaturperiode bis 2026 gemacht. Dass dann nach eineinhalb Jahren eine Wahlwiederholung für eine Wahl kommt, für die ich selbst in der Organisation keine Verantwortung getragen habe, das war natürlich bitter. Das Jahr 2022 war ein von Krisen geschütteltes Jahr, das Wort Stapelkrisen traf es ganz gut. Wir hatten in Berlin noch mit den Auswirkungen der Coronapandemie zu kämpfen, wir hatten die massiven Auswirkungen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine und die Versorgung von bis zu 10 000 Geflüchteten am Tag. Dazu kamen die Energiekrise und eine hohe Inflation, die Deutschland so seit 1974 nicht mehr erlebt hatte. Die Bewältigung dieser Krisen allein hätte locker für fünf Jahre gereicht. Es war ein Regieren im Ausnahmezustand. Wenn du dich dann nach nur einem Jahr im Winter erneut einer Wahl stellen musst, auch noch nach den Ereignissen von Silvester, dann ist das sehr, sehr schwierig. Natürlich kann man nicht alles fertig vorweisen, was man sich für fünf Jahre vorgenommen hat.

mein/4: Wie haben Sie die Wiederholungswahl bewältigt?

Franziska Giffey: Im Ergebnis lag die CDU zehn Prozentpunkte vorn. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder wir machen so weiter wie bisher mit der rot-grün-roten Koalition oder wir gehen den Weg mit der CDU. Es war klar: Die Wählerinnen und Wähler haben einen deutlichen Veränderungswillen geäußert und das musste man ernst nehmen. Vier große Themen waren für die Wahlentscheidung bestimmend: die innere Sicherheit, der Wohnungsbau, der Verkehr, und die funktionierende Stadt. Das war zentral für die Entscheidung, mit wem wir in ein Regierungsbündnis gehen können. Ob die alte oder eine neue Konstellation, es musste eine verlässliche Aussicht darauf geben, dass diese Themen angepackt werden und sich für die Menschen spürbar etwas verändert. In den Sondierungen wurde sehr deutlich, dass es insbesondere seitens der Grünen wenig Beweglichkeit gab, um dem Wählerwillen stärker gerecht zu werden. Die CDU sondierte sowohl mit uns als auch mit den Grünen, und es zeichnete sich ab, dass es auch Schwarz-Grün geben kann. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich fand und finde es wichtig, dass die Sozialdemokratie weiter in der Verantwortung ist, um ihre Inhalte in der Regierungsarbeit umzusetzen und für eine soziale Stadt zu sorgen. Schwarz-Grün von der Seitenlinie beim Regieren zuzuschauen, das war die schlechteste aller Alternativen. Es war klar, wir müssen einiges verändern, um dem Wählerwillen zu entsprechen und Vertrauen wiederzugewinnen. Nach den Sondierungen war das mit der CDU möglich, und so haben wir eben diesen Weg beschritten. Für mich persönlich war das kein leichter Schritt, er bedeutete den Verzicht auf das Amt als Regierende Bürgermeisterin. Es war aber die richtige Entscheidung. Wir haben ein starkes Regierungsbündnis für Berlin. Wir haben einen Koalitionsvertrag, der eindeutig eine sozialdemokratische Handschrift trägt und viele der Themen enthält, die uns wichtig sind, und diese setzen wir jetzt für die Menschen in Berlin konsequent um.

mein/4: Ich habe selten gesehen, dass jemand in der Politik eine Niederlage eingesteht und auf den Wählerwillen schaut. Hat die Politik ein Kommunikationsproblem, um die Gedankengänge zu erklären, die dahinterstehen?

Franziska Giffey im Interview

Franziska Giffey: Mein Eindruck ist, dass das an der Stelle schon viele verstanden haben und auch richtig fanden. Das entspricht nämlich der Grundregel Nummer eins in der Demokratie: Respektiere den Wählerwillen. Wenn wir was anders gemacht hätten und den Wahlsieger, der zehn Prozentpunkte vor uns liegt, negiert hätten, dann hätte das zu Unverständnis und auch Demokratieverdrossenheit geführt. Ich habe viel positive Rückmeldung dafür bekommen, weil ich es auch immer begründet habe mit dem Respekt vor dem Wahlergebnis, aber auch als Antwort auf die Frage: Was ist jetzt das Beste für die Stadt? Wie können wir Dinge voranbringen, die den Wählerinnen und Wählern wirklich wichtig sind? Das war meine Richtschnur, als wir die Wahl 2021 gewonnen hatten, und das war sie auch nach der Wahlwiederholung, die wir nicht gewinnen konnten. Das Ziel damals wie jetzt war und bleibt, Gutes für die Stadt zu bewegen.

Der Schutzschirm aus Liquiditätshilfen, Energiehärtefallhilfen und Heizkostenhilfen hat gewirkt, die Berliner Wirtschaft hielt stand.

mein/4: Wie haben Sie die Krisenzeiten in Berlin erlebt?

Franziska Giffey: Ich kenne aus meiner täglichen Arbeit und auch im privaten Umfeld viele Menschen und Unternehmen, für die die verschiedenen aufeinanderfolgenden Krisen eine schwere, teils existenzbedrohende Zeit waren. Auch wenn sich die jeweiligen Krisen unterscheiden, so war vor allem wichtig, auf die Bedarfe schnell zu reagieren und Maßnahmen aufzusetzen, die gezielt helfen. Das geht am effektivsten, wenn man das gemeinsam mit den betroffenen Branchen entwickelt, und genau das haben wir gemacht. Das Neustartprogramm für Wirtschaft und Kultur im Umfang von 330 Millionen Euro umfasste mehr als 30 Einzelmaßnahmen, die insbesondere dem Handel, dem Tourismus, der Kongress- und Veranstaltungsbranche und der Gastronomie helfen konnten, nach den Pandemieeinschränkungen einen guten Neustart hinzubekommen. In der Energiekrise haben wir einen Schutzschirm für unsere Unternehmen und die Berlinerinnen und Berliner im Umfang von fast einer halben Milliarde Euro aufgespannt, der die Bundesmaßnahmen sinnvoll ergänzte. Unser Ziel war, dass Unternehmen wegen akut gestiegener Energiekosten nicht unverschuldet in die Knie gezwungen werden und die Beschäftigten im schlimmsten Fall ihren Arbeitsplatz verlieren. Der Schutzschirm aus Liquiditätshilfen, Energiehärtefallhilfen und Heizkostenhilfen hat gewirkt, die Berliner Wirtschaft hielt stand. Auch die befürchtete Energiemangellage ist nicht eingetreten, einerseits weil wir beim Energiesparen alle an einem Strang gezogen haben – die Haushalte, die Unternehmen und die öffentliche Hand –, andererseits weil für die Versorgung mit Gas und Öl schnell und verlässlich alternative Versorgungswege gesichert wurden. Wir haben auch Vorkehrungen für unser Stromnetz getroffen und bauen es weiter konsequent aus, um gut gewappnet zu sein für die Zukunft.

Die Lage ist angespannt,
aber Berlin steht besser da als viele
andere Bundesländer.

mein/4: Mein Eindruck ist, dass es jetzt anfängt, auf die Wirtschaft durchzuschlagen. Die Soforthilfen haben in Berlin damals unheimlich geholfen und ein beruhigendes Signal gesendet. Wie geht es nun weiter mit der Unterstützung?

Franziska Giffey: Die Berliner Wirtschaft konnte in den vergangenen zwei Jahren sogar weiterhin über Bundesdurchschnitt wachsen und über 85 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Aber natürlich stehen auch die Unternehmen in Berlin unter Druck, wir können uns vom Bundestrend nicht ganz entkoppeln. Die Coronahilfen, das Neustartprogramm und der Energie-Schutzschirm haben zur richtigen Zeit geholfen. Jetzt geht es noch mehr darum, die Resilienz unserer Unternehmen zu stärken. Deshalb entwickeln wir das Neustartprogramm für die Wirtschaft weiter, um die Unternehmen stabil und fit für die Zukunft zu machen. Viele von ihnen gerade im Tourismus und im Gastgewerbe, in der Hotellerie, Kultur und in der Veranstaltungsbranche konnten in den Krisenzeiten keine Investitionen in ihre Entwicklung tätigen. Diese Zukunftsfähigkeit werden wir jetzt gezielt unterstützen. Oft geht es dabei um das Thema Fachkräfte und wie man diese für die verschiedenen Branchen gewinnen kann. Das sind Investitionen, die letztlich der gesamten Stadt zugutekommen. Wenn unser Tourismus und unsere Veranstaltungs- und Messebranche auf Hochtouren laufen, bringt das Menschen in die Stadt, die hier übernachten, essen, shoppen, ausgehen und unsere Kultureinrichtungen besuchen. Das sichert Arbeitsplätze, erhöht die Steuereinnahmen und ist gut für ganz Berlin.

mein/4: Wo stehen wir in diesem Jahr wirtschaftlich?

Franziska Giffey: Die Lage ist angespannt, aber Berlin steht besser da als viele andere Bundesländer. Unsere Volkswirte gehen aktuell von einem Wachstum von ein bis eineinhalb Prozent für Berlin aus, während die Prognose für den Bund für das Jahr 2024 wieder nach unten, auf 0,2 Prozent, korrigiert werden musste. Unser Vorteil ist genau das, was Berlin lange Zeit als Nachteil ausgelegt wurde: Wir haben nicht die eine große dominierende Branche, wir sind vielfältiger. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass unsere verschiedenen Branchen selten von einer Krise gleichermaßen stark betroffen sind. Berlin ist die Gründungsmetropole schlechthin mit mehr als 5000 Startups, ihren 100 000 Beschäftigten in der Stadt und Milliardeninvestitionen, die hier aus dem Ausland fließen. Das ist inzwischen ein veritabler digitaler Mittelstand. Wir haben aber auch eine moderne und wachsende Industrie. Wir sehen, dass es beim Tourismus wieder deutlich aufwärts geht. Gerade erst wurde Berlin zusammen mit New York und Kapstadt zu den beliebtesten Reisezielen der Welt gewählt. Unsere Hotels verzeichnen mit ihren über 140 000 Betten sehr hohe Auslastungszahlen, und auch der Messeveranstaltungskalender ist für dieses Jahr wieder vollgefüllt. Der Dienstleistungssektor und die Digitalunternehmen wachsen weiter. Das sind alles erfreuliche Nachrichten, aber wir haben auch Sorgenkinder. Die Baubranche zum Beispiel kämpft mit hohen Kosten, und auch der Handel befindet sich im Umbruch, das belastet viele Geschäfte.

mein/4: Wir sind als Magazin den Kiezen sehr verbunden. Ich stelle fest, dass diese kleinen inhabergeführten Geschäfte gerade wahnsinnige Probleme haben und nach und nach verschwinden. Ich finde das ganz furchtbar, weil die kleinen Läden und die Gastronomie, wo die Leute gemütlich beisammensitzen, die Kieze so lebenswert machen.

Franziska Giffey: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Die kleinen Läden, die ihre Kundschaft individuell betreuen, sind wichtig. Sie sind ein Zeichen der Vielfalt unserer Stadt, sie machen den Einzelhandel lebendig und gehören im Kiez einfach dazu. Wir sehen ihre Nöte. Das hängt mit verschiedenen Dingen zusammen. Teilweise sind es noch die Coronanachfolgen. Es liegt aber auch am veränderten Kaufverhalten der Kundschaft. Einerseits waren die Menschen durch die hohe Inflation zurückhaltender mit Ausgaben, und natürlich ist der zunehmende Onlinehandel eine harte Konkurrenz. Man muss aber sagen, dass der Handel insgesamt vor Herausforderungen steht, vom kleinen Späti um die Ecke bis zum großen Einkaufszentrum. Wir müssen also eine ganzheitliche Betrachtung haben, es wird nicht helfen, nur hier und da an einer Schraube zu drehen.

Senatorin Franziska Giffey Berlin

Wir müssen diese Orte attraktiv gestalten und das Einkaufen
jenseits des Internets aufwerten.

mein/4: Das Internetshopping sehe ich auch als ein Problem. Wobei die, zu denen wir Kontakt haben, das Problem weniger haben, weil sie meistens etwas so Besonderes machen, dass man direkt hingeht. Wie sieht die Einzelhandelsstrategie aus?

Franziska Giffey: Berlin besteht aus zahlreichen Kiezen und vielen Zentren, das macht unsere Stadt einzigartig. Wir müssen diese Orte attraktiv gestalten und das Einkaufen jenseits des Internets aufwerten. Da geht es einerseits um das Einkaufserlebnis, die persönliche Begegnung und um die Aufwertung der Aufenthaltsqualität drumherum. Andererseits spielt für viele Läden ganz praktisch auch die Frage eine Rolle, wie Erreichbarkeit und Zugänglichkeit für den Lieferverkehr gewährleistet sind. Auch das kleinteiligere Standortmarketing muss besser werden, davon profitieren die Läden. Wir planen gerade einen Zentrengipfel, wo wir mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus den Geschäftsstraßen, den Bezirken, dem Einzelhandelsverband und den Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung, für Verkehr und Umwelt und natürlich für Wirtschaft zusammenkommen und gemeinsam entwickeln, welche Maßnahmen hier konkret helfen können. Eine Einzelhandelsstrategie muss auf Input verschiedener Seiten basieren, wenn wir Erfolg haben wollen. Entscheidend ist, dass wir das nicht am grünen Tisch einer Verwaltung planen, sondern zusammen mit dem Einzelhandel. Wir fangen auch nicht bei null an, sondern haben schon einige Aktivitäten angeschoben. Die Novellierung des Gesetzes für die Unterstützung der Standortgemeinschaften ist auf dem Weg. Es gibt einen ganz akuten und großen Punkt, der uns sehr beschäftigt: Das ist die Zukunft des KaDeWe und unserer Galeria-Karstadt-Kaufhof-Häuser. Der Zusammenbruch des SIGNA-Konzerns hat auch die Warenhäuser in Berlin in eine Insolvenz getrieben. Wir bekennen uns klar zu den Warenhausstandorten, weil sie wichtige Ankermieter in den Geschäftsstraßen sind. Davon profitieren auch sehr viele kleine Läden. Wir haben in der Wirtschaftsverwaltung eine Taskforce für die Warenhäuser eingerichtet und sind mit den Betriebsräten und Gewerkschaften im Gespräch, genauso wie mit den Geschäftsführungen, Insolvenzverwaltern und dem Handelsverband. Wir stimmen uns auch mit anderen Städten ab, ganz besonders mit Frankfurt am Main, Hamburg und München. Unser Ziel ist ganz klar: Wir wollen die Standorte nicht nur erhalten, sondern sie auch weiterentwickeln und die Arbeitsplätze sichern.

… die Überzeugung, dass wir für Freiheit,
Vielfalt und Demokratie einstehen.

mein/4: Wenn wir bei Krisen sind: Wir erleben eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Berlin ist die Stadt der Demonstrationen. Wie kann man die Leute wieder ins demokratische Spektrum zurückholen?

Franziska Giffey: Wenn Hundertausende Menschen wochenlang auf die Straßen und Plätze unserer Städte und Gemeinden gehen, ist das ein deutliches Zeichen dafür, was uns eint: die Überzeugung, dass wir für Freiheit, Vielfalt und Demokratie einstehen. Die klare Haltung, die diese Menschen gegen rechte Hetze und Hass zeigen, macht Mut und Hoffnung. Als Gemeinschaft aufzustehen und sich auch im Alltag für unsere freie, vielfältige Gesellschaft einzusetzen, finde ich sehr, sehr wichtig. Natürlich ist hier die Politik gefragt, aber auch jeder und jede Einzelne von uns. Die Demokratie, die freie Gesellschaft, die freiheitliche demokratische Grundordnung, das alles ist nicht selbstverständlich. Mut macht mir auch, dass sich immer mehr Menschen politisch engagieren. Wir erleben seit einigen Wochen Rekordeintrittszahlen bei der SPD. Weil Leute sagen, die Sozialdemokratie holt uns ab in unserem Wunsch, für eine Gesellschaft des sozialen Zusammenhalts einzutreten. Viele sagen auch: Ich habe mir das jetzt lange mit angesehen, ich kann hier nicht tatenlos rumsitzen, ich will meinen Beitrag leisten.

Dieser braune Geist ist pures Gift
für unsere Gesellschaft und auch
für unsere Wirtschaft.

Zugleich ist wichtig, dass man bei dem, was an Protest und Unzufriedenheit da ist, unterscheidet: Wo haben die Leute einen Punkt, und wo driften Sorge und Kritik in Hass und Hetze ab? Es gibt begründete Fragen, mit denen sich die Politik befassen muss. Und da finde ich es wichtig, dass wir uns damit ehrlich auseinandersetzen. Politik machen bedeutet für mich seit jeher: Probleme klar benennen und sie anpacken. Wir brauchen auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD. Ich glaube, die beste Medizin gegen ein Abdriften aus Unzufriedenheit ist, den Leuten klarzumachen, dass wir unseren Job anständig machen und uns verlässlich um die Basics kümmern. 2021 bin ich mit den fünf B‘s für Berlin angetreten: Bauen, Bildung, Beste Wirtschaft, Bürgernahe Verwaltung, Berlin in Sicherheit. Diese fünf Punkte sind immer noch unser Arbeitsauftrag. Zugleich muss es natürlich eine deutliche Abgrenzung gegen Hass und ihre Hetze geben. Wer die Menschen in unserem Land nach echten und unechten Deutschen sortieren will und von Deportationen fantasiert, kommt ganz klar aus der dunkelsten Ecke unserer Geschichte und will unser Land genau dorthin wieder zurückführen. Dieser braune Geist ist pures Gift für unsere Gesellschaft und auch für unsere Wirtschaft. Berlin ist und bleibt eine weltoffene und tolerante Stadt. Ein Drittel aller Erwerbstätigen in Berlin haben einen Migrationshintergrund. Das sind 656 000 Menschen, die in unseren Läden, Hotels, Gaststätten, Arztpraxen, Kitas, Startups, Industrieunternehmen und Verwaltungen arbeiten. Das sind Berlinerinnen und Berliner. Punkt.

Interview Giffey 2024

Das ist der Berliner Spirit, und
das können wir doch öfter auch
nach außen tragen.

mein/4: Ich habe das Gefühl, dass Leute gar nicht mehr mitkriegen, wenn was positiv läuft und umgesetzt wird.

Franziska Giffey: Die Geduld ist geringer geworden. Wir erleben zunehmend diese Amazon-Mentalität: heute bestellt, morgen geliefert. So funktioniert Demokratie aber nicht. Manches braucht Zeit. Und es ist ja vieles erreicht worden. Wir sind durch die multiplen Krisen insgesamt gut durchgekommen. Bei uns sind die Unternehmen nicht reihenweise pleite gegangen. Wir haben Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen können. Es muss mehr darüber gesprochen werden, was wir in dieser Stadt gemeinsam erreichen und worauf wir gemeinsam auch stolz sein können. Das ist vor allem eine Wertschätzung für die Menschen, die es mit ihrer Arbeit Tag für Tag möglich machen, dass sich Berlin gut weiterentwickelt. Natürlich ist die Frage berechtigt, warum manches nicht schneller geht. Aber wir Berliner haben da schon einen besonderen Hang dazu, uns selbst schlechtzureden. Dieses zu spät, zu wenig und nicht für immer. Berlin ist eine großartige Stadt. Wir haben einen öffentlichen Nahverkehr, der exzellent ist und um den uns viele Großstädte beneiden. Unsere Kinder fahren alle kostenlos. Und sie dürfen bis zum 18. Lebensjahr kostenlos in jedes staatliche Museum gehen. In Berlin muss sich niemand fragen, ob er sich die Kita oder den Hort leisten kann. Das ist bei uns gebührenfrei. Wir haben ein großartiges Kultur- und Freizeitangebot. Wir haben eine unglaublich engagierte Stadtgesellschaft. Die Hälfte der Berlinerinnen und Berliner engagiert sich ehrenamtlich! Das ist der Berliner Spirit, und das können wir doch öfter auch nach außen tragen.

mein/4: Lassen Sie uns in eine positive Zukunft schauen: Was haben wir geschafft? Wo steht Berlin?

Franziska Giffey: Ich bin davon überzeugt, dass Berlin sich sehr gut entwickeln kann und wird. Wir haben das Zeug, zum Innovationsstandort Nummer eins in Europa aufzusteigen und arbeiten daran. Wir ziehen jedes Jahr neue Unternehmensansiedlungen aus dem In- und Ausland in die Stadt, die hier neue Arbeitsplätze schaffen. Dafür werden wir aber auch die große Nachfrage nach Fachkräften lösen müssen. Die Bedarfe wachsen in allen Branchen. Unsere Stadt gilt als weltoffen, international und innovativ. Das ist unsere Chance im Wettbewerb um die besten Hände und Köpfe. Denn das ist ganz klar: Der Wohlstand der Stadt wird nur kommen, wenn die Wirtschaft wächst. Das ist auch mein großes Ziel. Ich möchte, dass wir auf Wirtschaftswachstum setzen, auf Ansiedlungserfolge, auf Unternehmen, auf Fachkräfte, die wir auch aus dem Ausland gewinnen, damit unsere Stadt sich positiv entwickeln kann.

Das ist eine unserer größten Zukunftsaufgaben, genauso wie unser Ziel, noch vor dem Jahr 2045 zu einer klimaneutralen Metropole zu werden. Hier sind wir schon sehr gut unterwegs: Der Solarausbau schreitet immer schneller voran, das vergangene Jahr war in dieser Hinsicht ein absolutes Rekordjahr mit über 10 000 neuen Solaranlagen. Dabei unterstützen wir die Menschen und die Unternehmen ganz gezielt. Unser 500-Euro-Zuschuss für Balkonsolaranlagen zum Beispiel läuft wie geschnitten Brot, weil die Leute merken: Ich kann damit Energiekosten sparen und werde dabei vom Staat gefördert. Wir führen jetzt auch die Wärmeversorgung von Vattenfall zurück in Landeshand, das ist eine der wichtigsten energiepolitischen Weichenstellungen dieses Jahrzehnts. Wir werden die Fernwärme sukzessive fossilfrei machen und zugleich für Preisstabilität sorgen. Das ist gut für die Menschen in Berlin und für unsere Kinder und Enkel, denen wir eine lebenswerte Stadt hinterlassen wollen – mit klimaneutraler Energieversorgungssicherheit.

mein/4: Wenn Sie das jetzt noch schaffen im Spagat mit Wohnraum …

Franziska Giffey: Unsere Stadt wächst – das ist grundsätzlich gut, weil wir sonst unseren Wohlstand gefährden. Damit wachsen aber auch die Bedarfe an Wohnraum und vielen anderen wichtigen Infrastrukturen. Das ist für den Senat ein zentrales Thema. Wir werden deutlich mehr Schulplätze haben, weil wir gerade zig Schulen renovieren und neu bauen, die in dieser Legislatur fertig werden. Das ist auch beim Wohnungsbau extrem wichtig. Wir haben einen Bedarf von ungefähr 20 000 Wohnungen im Jahr, die gebaut werden müssen. Für letztes Jahr haben wir noch nicht die endgültigen Zahlen, aber im Jahr 2022 sind 17 300 Wohnungen neu gebaut worden. Das war, wenn man das bundesweit vergleicht, in einem Krisenjahr im Verhältnis zur Bevölkerung der höchste Wert. Damit haben wir für mehr als 40 000 Menschen eine neuen Wohnraum geschaffen. Aber klar ist: Für eine Stadt, die wächst, muss auch das Wohnangebot stetig wachsen. Das ist wichtig, damit wir auch das andere Riesenthema besser in den Griff kriegen: die Bezahlbarkeit.

mein/4: Die Teilwiederholung der Bundestagswahl haben wir hinter uns. Die SPD hat fast acht Prozent verloren, ihre Direktmandate aber verteidigt. Wie ordnen Sie die Wahl ein?

Franziska Giffey: Die gute Nachricht für uns ist, dass die SPD-Bundestagsfraktion durch die Teil-Wiederholungswahl in Berlin insgesamt kein Mandat verloren hat. Trotzdem muss uns der Ausgang beunruhigen, auch wenn sich aus der teilweisen Wiederholungswahl keine weitgehenden Schlussfolgerungen ziehen lassen, denn dazu waren zu wenig Stimmbezirke betroffen. Das größte Problem ist aber die viel zu geringe Wahlbeteiligung. Wie so oft profitiert von dieser geringen Wahlbeteiligung vor allem die AfD. Ihr prozentualer Zugewinn ist ein Warnsignal für die demokratische Mitte unserer Gesellschaft: Es reicht nicht aus, gegen die menschenverachtende Politik der AfD zu demonstrieren. Wer die AfD ernsthaft schwächen will, muss die demokratischen Parteien stärken, und das heißt auch, wählen zu gehen.

Wir müssen uns aber auch an die eigene Nase fassen: Alle drei Ampelparteien haben insgesamt leichte Verluste hinnehmen müssen, was unter diesen Vorzeichen erwartbar war. Berlin konnte sich vom Bundestrend natürlich nicht abkoppeln. Es wird deutlich, dass die SPD in ihrer Moderatorenrolle im Bund dem Anspruch an eine Volkspartei nicht ausreichend gerecht werden kann und mehr ihre eigenen klaren sozialdemokratischen Positionen in den Vordergrund stellen muss, um wieder mehr Zustimmung zu gewinnen.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.

Infobox

Franziska Giffey

… ist Berlins Bürgermeisterin, Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie Landesvorsitzende der SPD Berlin und für den Wahlkreis Rudow in Neukölln Mitglied des Berliner Abgeordneten­hauses.

https://franziska-giffey.de