Im persönlichen Gespräch mit Kultursenator Joe Chialo

Fotos: Pavol Putnoki

Rund 200 Tage Amtszeit liegen hinter Joe Chialo. Seit dem 27. April 2023 ist er Berliner Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir sprachen mit ihm über den Dreiklang aus Kultur, Kreativwirtschaft und Zusammenhalt und darüber, dass kreative Zukunftsvisionen Räume brauchen – eine beispiellose Herausforderung in Berlin.

mein/4: Was hat Sie daran gereizt, Kultursenator zu werden?

Joe Chialo: Für mich liegt der Reiz darin, Gestaltungsmöglichkeiten für das Kulturleben hier in Berlin zu haben, in einer der spannendsten Metropolen weltweit. Eine Stadt, die nach 28 Jahren Teilung wieder zusammengewachsen ist, hat ein unglaubliches Potenzial an Institutionen, aber auch an Kreativen, die aus aller Welt herkommen, um sich in der Freiheit, die Berlin bietet, auszuleben, und die Szene innerhalb der Rahmenbedingungen, die wir setzen, mitzugestalten. Das macht viel Freude, ist aber auch eine große Herausforderung, gerade in diesen Zeiten.

mein/4: Wo liegt Ihr eigener Schwerpunkt in der Kultur?

Joe Chialo: Mein Schwerpunkt folgt einem Dreiklang. Für mich war immer wichtig, dass wir die Exzellenz dieser Stadt auch anerkennen und einfordern bei den Kulturschaffenden. Es ist wichtig, dass man das Erbe derjenigen, die bisher Berlin gestaltet und den Ruf begründet haben, aufgreift und in dem Bewusstsein die Kultur weiterentwickelt. Wir müssen uns bewusst machen, dass Resilienz für die kommenden Jahre, in denen die wirtschaftliche Situation dieser Stadt eine große Herausforderung darstellen wird, etwas ist, was wir in unsere Strukturen übernehmen müssen. Und dass wir auch das zukünftige Handeln dahingehend anpassen müssen, uns strukturell und in der kreativen Umsetzung neuen Wegen zu öffnen, damit die Kultur langfristig in der Größenordnung eine Chance hat.

mein/4: Können Sie Beispiele dafür nennen, wo man es anders umsetzen kann? Oder Bereiche, die mit weniger Geld auskommen müssen?

Joe Chialo: Das wird alle Bereiche treffen. Wir haben jetzt einen Rekordhaushalt eingereicht in unserer Senatsvorlage am 11. Juli. Dafür haben wir alle Rücklagen aufgelöst. Das haben wir auch deswegen getan, weil es wichtig war, eben diese Resilienz zu stärken. Das betrifft die großen Häuser gleichermaßen wie die freie Szene, die möglicherweise sogar noch anfälliger ist, weil die Strukturen oftmals nicht ganz so gefestigt sind. Aber das trifft natürlich auch die Clubs genauso wie die bildenden Künste. Das heißt, es ist eine Verantwortung für alle Kulturbereiche in Berlin, denn die gestiegenen Energiepreise, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurden, treffen alle. Weniger Geld zur Verfügung haben, trifft letzten Endes auch alle.

Joe_Chialo Portrait

Wir haben durch die Tariferhöhungen Anpassungen vorgenommen, die die Häuser selbst nicht tragen müssen. Für uns war es in den Verhandlungen zentral, Honoraruntergrenzen festzusetzen, um die Arbeit entsprechend zu würdigen, auch langfristig. Aber eines ist auch ganz klar: Es wird eine große Herausforderung sein, das in den nächsten Jahren durchzuhalten.

mein/4: Für mich ist die Kultur auch einer der Wirtschaftsfaktoren in Berlin, gerade im Bereich Tourismus. Eine Milliarde ist drei Prozent vom Haushalt. Fühlen Sie sich da richtig vertreten?

Joe Chialo: Wir haben immer dieses Zusammenspiel aus Kultur und Kreativwirtschaft. Ich sehe das nicht allein, sondern ich glaube schon, dass man, und da haben Sie vollkommen recht, die wirtschaftliche Relevanz der Kultur und Kreativwirtschaft in Berlin nicht hoch genug messen kann. Denn sie sorgt dafür, dass nachgeordnete Wirtschaftsbereiche wie zum Beispiel Hotellerie, Gastronomie und das ganze Transportwesen inklusive der Taxifahrer, die hier in der Stadt sind, ebenfalls davon profitieren. Ich glaube, dass diese Form der Industrie nicht gegensätzlich betrachtet wird, also Hochkultur versus Kreativwirtschaft, sondern dass wir sie zusammendenken. Und das tun wir auch, indem die Senatsverwaltung von Franziska Giffey und mein Haus gemeinsam an Projekten arbeiten. Wir haben festgestellt, dass es sinnvoll ist, wenn wir in der Verwaltung eng zusammenarbeiten, so, dass jemand, der einen Antrag stellt, nicht mit hochgezogenen Schultern zu mir oder zu Franziska Giffey kommt und Angst hat, den ein oder anderen dabei zu übergehen, sondern dass sie immer wissen, egal wo sie aufschlagen: Wir arbeiten eng zusammen und wir wollen beide die Kultur und Kreativwirtschaft hier in Berlin stärken.

Kultursenator Chialo Interview

mein/4: Wir leben in sehr anspruchsvollen Zeiten, auch in Zeiten der sozialen Spaltung. Kultur hat neben dem darstellenden immer auch einen verbindenden Auftrag. Gibt es Projekte, die darauf einzahlen, gerade in diesen Situationen, wo es so viele Demonstrationen und feindliche Signale gibt? Wollen Sie Projekte in die Kulturförderung aufnehmen, die das gezielt versuchen auszugleichen?

Joe Chialo: Ich habe schon gesagt, dass es für mich wichtig ist, die Exzellenz zu unterstützen, und die Resilienz der Berliner Kulturszene zu stärken. Und es geht mir um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist der dritte Punkt, der diesen Dreiklang unserer Arbeit und meiner persönlichen Ziele für die nächsten Jahre definiert. Bei dem Thema Zusammenhalt ist es wichtig, dass wir als Kulturverwaltung die Rahmenbedingungen setzen. Wir verantworten ja nicht nur die Clubs und die Hochkultur, die Museen und die Theaterlandschaften usw., sondern wir sind auch verantwortlich für die Religionsgemeinschaften, für die Weltanschauungsgemeinschaften. Das bedeutet, gerade in Zeiten wie diesen liegt es auch an uns, die Bedingungen für eine gelingende Kommunikation zu schaffen durch Gesprächsformate, durch Begegnungen, durch Demokratietage beispielsweise. Und das alles in Zeiten, in denen eine Kommunikation (zwischen verschiedenen Lagern zunehmend) unmöglich scheint. Wir wollen das Ehrenamt, das Engagement des Bürgers, nicht nur ehren, wie zum Beispiel kürzlich mit dem Nachbarschaftspreis, den wir hier verliehen haben. Sondern wir wollen darüber hinaus schauen, dass wir mit bestimmten Formaten auf durch Krisen ausgelöste Großwetterlagen in der Stadt eingehen. Konkret bedeutet das: Wir haben am 7. Oktober diesen furchtbaren Terrorangriff auf Israel erlebt, bei dem sehr viele Menschen brutal ermordet, verletzt und entführt worden sind. Seit dem Tag herrscht Krieg im Nahen Osten. In Gaza leiden und sterben Palästinenserinnen und Palästinenser. Das hat was mit unserer Stadt gemacht. In Berlin lebt die größte palästinensische Community. Wenn in Gaza etwas passiert, sind Minuten später hier in Berlin schon Reaktionen zu sehen. Es ist unsere Verantwortung, als Senatsverwaltung auch dort einzugreifen und mit Gesprächsformaten dafür zu sorgen, dass die Kluft nicht noch größer wird.

Jüdische Einrichtungen, beispielsweise die Synagogen und Bildungseinrichtungen, müssen besser geschützt werden– es darf nicht sein, dass in Berlin lebende Jüdinnen und Juden Angst haben. Indem wir uns aktiv an ihre Seite stellen und dafür kämpfen, dass das, was in diesem Land vor 80 Jahren passiert ist, nie wieder passiert. Aber nicht als Floskel, sondern als eine Handlungsaufforderung. Da sehen wir uns ganz stark in der Pflicht und in der Verantwortung.

mein/4: Haben Sie eine Zukunftsvision? Wo möchten Sie als Kultursenator in der nächsten Legislatur und vielleicht in der nächsten GroKo hin? Welche Visionen haben Sie für die Kultur in Berlin?

Joe Chialo: Dazu fällt mir gerade der legendäre Spruch von Helmut Schmidt ein: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Wissen Sie, wir haben in dieser Stadt unglaublich große Ressourcen an Kreativität. Zum einen geht es darum, sie durch bestimmte Formate sichtbar zu machen, Formate, die ich schon vorgefunden habe und die wir weiterentwickeln wie den Kultursommer. Sodass die Menschen auch in den Sommermonaten, wo hier wenig los ist, Zugang zur Kultur haben. Wir haben nächstes Jahr die UEFA, wo wir auch viele spannende neue Themen präsentieren werden. Da freue ich mich persönlich schon sehr drauf. Aber wir haben natürlich auch große technologische Herausforderungen, etwas, was bisher noch gar nicht im politischen Raum behandelt worden ist: die künstliche Intelligenz, die unser Leben auf den Kopf stellen wird, und der Umgang damit. Juristisch, ethisch, aber auch wirtschaftlich ist das etwas, was von unheimlich großer Relevanz sein wird in den kommenden Jahren. Da werden wir uns entsprechend verhalten, indem wir mit Blick auf die Kulturschaffenden und auf die Kulturinstitutionen in Berlin Formate vorbereiten.

mein/4: Kunst braucht auch immer viel Raum. Raum, wo man sich persönlich kennt. Das ist in einer Stadt mit stark steigenden Mieten extrem herausfordernd?

Joe Chialo: Wir haben natürlich Herausforderungen. Wir haben einmal das Thema KI. Das andere Thema sind Räume. Die Kultur in so einer Stadt wie Berlin konkurriert natürlich mit Wohnungen, mit der Wirtschaft, mit Gewerberäumen. Das ist keine einfache Situation für die Kulturschaffenden. Und die Preise steigen, die Verdrängung läuft. Dem entgegenzuwirken, ist eine unserer zentralen Aufgaben. Wir haben hier mit der Kulturraum GmbH ein Instrument in der Hand, das wir weiterentwickeln müssen, um mit den großen Herausforderungen in Berlin umgehen zu können. Wenn wir schon über Räume sprechen: Es gibt ein wichtiges Thema, das seit über 100 Jahren nicht gelöst wurde und das derzeit eine Jahrhundertchance erlebt: die ZLB, die Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Es ist eine echte Chance für diese Stadt, den Menschen dieser Stadt in einem abgesteckten Zeitraum eine unglaubliche Freude machen zu können. Dass sie nämlich das, was den Rohstoff in Deutschland ausmacht, die Bildung, an einem sehr gut erreichbaren, zentralen und modernen Lernort in Anspruch nehmen können, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen.

Ich habe zuvor KI, also die künstliche Intelligenz, erwähnt. Wenn man sich jetzt mal vorstellt, dass man irgendwo in Randbezirken wohnt oder mit dem Thema nicht so viel zu tun hat, vielleicht in Rente ist: Wen fragt man eigentlich dazu? Wo kann man was lernen? Oder wer könnte mir beibringen, wie ich mit Tiktok umgehe? All diese neuen Medien würden dort an diesem Ort den Menschen nahegebracht werden. Es gäbe dort auch Musikstudios. Man kann sich ein Buch ausleihen, man kann aber auch einfach nur sein. Das ist wirklich eine Jahrhundertchance.

mein/4: Über welchen Standort sprechen wir?

Joe Chialo: Wir reden über den Standort Q207 in Friedrichstraße, der aktuell langsam, aber sicher verödet. Mit diesem Projekt könnten wir den Ort, das ganze Quartier, wieder beleben. Und ich glaube, dass keine Stadt zu wenig Geld haben kann, um so eine Zukunftsvision umzusetzen. Für die Menschen dieser Stadt, für die jungen Menschen dieser Stadt, die ein Hoffnungszeichen brauchen.

mein/4: Sie haben doch eine Vision, also müssen wir beide zum Arzt.

Joe Chialo: Nein, im Ernst, das ist eines meiner Herzensprojekte, und ich habe mich mit diesem Projekt persönlich verbunden. Es geht aber darum, für die Menschen in dieser Stadt, die uns gewählt und in die Verantwortung gesetzt haben, das Beste zu machen. Und das wäre ein ganz starkes Zeichen für die Stadtgesellschaft.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.

Infobox

Joe Chialo

wurde 1970 in Bonn geboren. Nach dem Abitur zog es ihn als Sänger in die Musik-
branche, später gründete er sein eigenes Plattenlabel.

Über Umwege führte
sein Weg 2016 in die CDU, seit dem 27. April 2023 ist er Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Joe Chialo