Im Gespräch mit Klaus Lederer
Rund sechs Jahre lang war er Bürgermeister von Berlin sowie Senator für Kultur und Europa. Heute ist er Mitglied der Fraktion DIE LINKE im Abgeordnetenhaus von Berlin und Sprecher für Queerpolitik. Kürzlich erschien sein Buch Mit Links die Welt retten. Das Gespräch drehte sich um die große Frage: Ist unsere Gesellschaft eigentlich noch zu retten?
mein/4: Sechseinhalb Jahre waren Sie Kultursenator. Und nun dieses Buch. Warum jetzt?
Klaus Lederer: Mich treibt massiv um, was gerade mit unserer Welt passiert. Seit Monaten werden global die höchsten Temperaturen seit Beginn der Aufzeichnungen gemessen. Wir spüren, dass die Klimaverhältnisse immer unkontrollierbarer werden. Trotzdem machen wir so weiter, als sei nichts. Wir erleben einen Aufstieg reaktionärer, nationalistischer, sich von der Welt abschotten wollender Politikkonzepte, die der Tenor verbindet: Wir gucken nicht nach links, wir gucken nicht nach rechts, sondern machen einfach unser nationales Ding. Gleichzeitig zerlegt sich die Linke, die ohnehin nur noch durch drei Direktmandate in den Bundestag gekommen war. Dabei finde ich, dass linkes Denken nicht nur an sich hochmodern ist, sondern auch helfen kann, unsere Welt besser zu verstehen und ein paar drängende Probleme von heute zu lösen.
mein/4: Das Buch trägt den doppelsinnigen Titel „Mit Links die Welt retten“. Welche Möglichkeiten gibt es, mit links die Welt zu retten?
Klaus Lederer: Zunächst müssen wir uns bewusst machen, wie groß der Handlungsdruck ist: Wir wissen beispielsweise, dass wir im nächsten Jahrzehnt unseren Ressourcenverbrauch pro Person auf ein Viertel, von 30 Tonnen jährlich auf acht Tonnen, reduzieren müssen. Bei uns im Land hat gerade mal ein Prozent aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger einen CO2-Fußabdruck, der mit den Pariser Klimazielen kompatibel ist. Und wir haben genau genommen bis Ende dieses Jahrzehnts Zeit, um dieses Problem zu lösen. Doch wir reden gerade über ganz andere Dinge, klimaschützende Maßnahmen werden eher wieder zurückgefahren. Wir stecken in einer völlig paradoxen Situation: Einerseits haben wir diesen Handlungsdruck und andererseits kaum eine Diskussion um ernst zu nehmende Alternativen.
Die entscheidende Trennlinie zwischen linker Politik und rechter Politik ist tatsächlich die Frage der Gleichheit – und zwar nicht nur bezogen auf unser Land. Denn wir sind in Deutschland nicht in dieser Situation, weil wir alle so fleißig gearbeitet haben, sondern vor allem wegen der globalen wirtschaftlichen Verflechtungen. Es hängt mit der Ausbeutung anderer Länder zusammen, mit Ressourcenausplünderung und Machtverhältnissen. Es muss umgesteuert werden. Eine Linke muss sich da wieder auf ihren Wesenskern besinnen und als nennenswerter Akteur in die gesellschaftlichen Debatten zurück. Insofern ist mein Buch mit dem Untertitel „Für einen radikalen Humanismus“ ein Anstoß zu einer dringend nötigen Debatte und für mich auch der Versuch einer Selbstverständigung: Was wären aus meiner Sicht linke und was wären nicht linke Positionen?
mein/4: Sie haben sich fast fünf Monate zurückgezogen, um sich auf das Buch zu konzentrieren. Sind Ihnen beim Nachdenken über dieses Buch gewisse Zusammenhänge klarer geworden?
Klaus Lederer: Auf jeden Fall habe ich manches für mich noch klarer herausgearbeitet. Ich habe mich die letzten 30 Jahre damit auseinandergesetzt, was sozialistische Politik ist. In der Zeit habe ich natürlich auch meine Perspektiven verändert. Bei der Arbeit am Buch ist mir besonders deutlich geworden, wie weit die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen schon vorangeschritten ist und wie real wenig Zeit uns noch bleibt, um dieses Problem zu lösen. Dazu kamen die Erfahrungen aus den ganzen Krisen der vergangenen Jahre: Die große Weltwirtschaftskrise ab 2007, die Eurokrise, die gestiegenen Geflüchtetenzahlen aus Ländern des globalen Südens nach Europa, die Coronapandemie, Putins Angriff auf die Ukraine – das alles hat auch etwas mit der Mitte der Gesellschaft gemacht. Umgekehrt hat uns das gezeigt, wie wenig stabil und wie krisenanfällig die Art und Weise ist, wie wir unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben eingerichtet haben. Meine Grundannahme ist, dass unser Zusammenleben menschengemacht ist, wir Menschen es also auch ändern können, wenn wir es denn wollen.
mein/4: Diese Krisen, von denen Sie gerade sprachen, spielen momentan eher den Rechten als den Linken in die Hände, ist mein Eindruck. Die Linken haben offenbar keine Möglichkeit vorzudringen. Woran liegt das?
Klaus Lederer: Ich glaube, dass die Diskussion, wie man zu einer anderen Wirtschaftsweise kommt, die eher den Menschen dient als dem permanenten Wachstum, innerhalb der Linken lange Zeit viel zu wenig geführt wurde. Manche Fragen wurden auch nicht gestellt, vielleicht aus Sorge vor den Antworten. Man hat sich eingerichtet in seinen traditionalistischen Sichten darauf, was links zu sein hat und was nicht links ist. Das rächt sich jetzt.
Die Sozialdemokratie hat tatsächlich breite Teile der handarbeitenden Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten verloren, weil sie sich auf die eher aufstiegsorientierten gesellschaftlichen Mittelschichten kapriziert hat. In der Zwischenzeit hat sich diese Welt grundlegend geändert, und niemand hat das so richtig verarbeitet. Es ist auch viel schwieriger, das angemessen zu verarbeiten, als einfach zu sagen, wir lassen alles beim Alten, und Probleme regeln wir durch Abschottung, Ausgrenzung und Mauern um uns herum. Wir haben nur einen Planeten. Das wird nicht funktionieren. Eine solche Entwicklung würde ganz automatisch ins Antidemokratische, ins Antifreiheitliche, ins Antihumanitäre umkippen, weil es auf dieser schiefen Ebene kein Halten mehr gibt. Die Probleme auf anderen Teilen unseres Planeten verschärfen sich, die Krise wird nur größer. Außerdem hieße das, dass wir uns als europäische Gesellschaft oder als reiche Nationen des Globus an den Früchten dieses Planeten weiterhin überdimensional bedienen, auf Kosten anderer Teile und Menschen der Welt. Es bräuchte dringend einen Druck von links, um wenigstens das Koordinatensystem ein Stück nach links zu verschieben. Es geht um die Frage eines guten Lebens für alle Menschen im Einklang mit den planetaren Grenzen.
mein/4: Was passiert mit unserer Demokratie?
Klaus Lederer: Selbst die Grünen machen jetzt in der Ampel die Abschottung Europas in schärfster Weise mit. Es gibt Abkommen mit Autokraten, Reisen mit Italiens faschistischer Ministerpräsidentin Meloni nach Marokko und im Ergebnis Abschiebepartnerschaften. Das ist natürlich nicht identisch mit „Remigrations-“ oder Deportationsplänen, die organisierte Faschisten gerade verhandelt haben. Es ist eine Denke, die darauf basiert, dass wir uns in Deutschland und Europa eine Insel des Wohlstands gönnen, so lange das noch funktioniert, ohne mit den Folgen unserer Lebensweise behelligt zu werden. Hinzu kommt: Die Vermögensverhältnisse und die ökonomischen Verhältnisse hierzulande sollen möglichst unangetastet bleiben. Wenn dann die Rechte kommt und die Verheißung des identitär-völkischen Kollektivs beschwört, das mit niemandem teilen muss, legitimiert das eine Politik der Niedertracht und Ausgrenzung. Aber es kann nicht die Alternative sein, an die Zivilgesellschaft zu appellieren und zur Sicherung der Demokratie aufzurufen, aber letztlich eine Politik der kleineren Niedertracht zu betreiben. Uns wird permanent erklärt, das sei alternativlos, aber das ist Quatsch. Wir haben doch während der Pandemie gesehen, was plötzlich alles ging. Die Sozialdemokratie und die Linke haben leider die Chance nicht genutzt, daraus eine mobilisierende Vorstellung zu entwickeln, was ein starker, handlungsfähiger, intervenierender Staat, der demokratisch kontrolliert ist, heute leisten könnte, um Ungleichheiten zu verringern, die Leute mehr an diesen Umbauprozessen zu beteiligen und ihnen eine andere Form von Selbstermächtigung zu ermöglichen.
Ich glaube, die Gesellschaft ist nach diversen Krisenjahren, inzwischen fast Krisenjahrzehnten, erschöpft und auch veränderungsmüde. Obwohl vielen die Probleme diffus bewusst sind, gibt es keine überzeugende Vorstellung davon, wie man aus diesem Dilemma rauskommt, keine Position, zu der die Menschen sagen: Das überzeugt mich, für diese Entwicklung bin ich bereit, mich auf den Weg zu machen.
mein/4: Nun ist es ja so, dass wir ein Dreierbündnis haben und ein kleiner liberaler Partner drin ist. Meine Sorge ist, dass wir in naher Zukunft eine Konstellation, vielleicht sogar eine Viererkonstellation auf Landesebene erleben könnten, mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Das wird dann immer weichgespülter. Sie kennen das: Sie konnten auch nicht alles durchsetzen in Berlin, weil Sie Rücksicht nehmen mussten.
Klaus Lederer: Eine Linke, die versuchen will, Einfluss auf diese Verhältnisse zu nehmen, die muss natürlich auch bereit sein, es sich nicht nur auf der Oppositionsbank bequem zu machen und mit markigen Sprüchen die aktuell Regierenden zu kritisieren. Eine Linke müsste sich mit einem eigenen inhaltlichen Konzept entlang der in meinem Buch beschriebenen Konflikte in die Debatte einmischen.
Mir ist klar: Auch wenn das zukünftig alles funktionieren würde und eine Linke sich tatsächlich wieder auf ihren Wesenskern besinnt, dann wird sie trotzdem nicht so bald die absolute Mehrheit haben. Sie wird auf Partner wie die Sozialdemokratie und die Grünen angewiesen sein. Ich sähe sogar, wenn es sie noch gäbe, eine sozialliberale FDP tendenziell dazu in der Lage.
In der ganzen Ampel ist derzeit nicht wirklich erkennbar, wo Grüne und SPD Dinge anders machen würden, wäre die FDP nicht an Bord. Es wäre etwa eine Diskussion über die Frage nötig: Wie können Einwanderung, Flucht und Asyl auf eine menschenwürdige Art und Weise organisiert werden? Und wie werden Menschen, die in dieses Land kommen, nicht von vornherein stigmatisiert oder als Problem – und zwar: ausschließlich als Problem – definiert? Bei Ampel und Union gelten diese Menschen als Problem, bei den Rechten sind sie dann das Feindbild. Aber die eigentlichen Probleme sind hierzulande doch die wachsende Ungleichheit, der blockierte nachhaltige Umbau der Wirtschaft und die öffentliche Armut, das Zerbröckeln der Infrastruktur. Darüber müssen wir reden. Wenn wir zukünftig Probleme dieser Art lösen wollen, dann muss sich die Gesellschaft in der Krise zusammenraufen.
mein/4: Die Aussage, dass die Wirtschaft stagniert und mein eigener Wohlstand gefährdet ist, schürt natürlich Ängste. Sie schreiben in Ihrem Buch auch über eine nötige (Neu-)Definition von Wohlstand und wie wichtig es sei, alle Leute mitzunehmen, sodass es keine sozialen Verlierer in diesem Land gibt. Welche Stellschrauben gibt es dafür?
Klaus Lederer: Fakt ist, wenn wir binnen der nächsten paar Jahre unsere Lebensweise nicht grundsätzlich ändern, gerät dieser Planet in eine Situation, in der wir die Probleme nicht mehr auf eine humanistische Art und Weise regeln können. Das wird Barbarei. Bleibt angesichts dessen Kapitalvermehrung unser Maßstab von Wohlstand? Oder geht es nicht auch um Zeitwohlstand, um Formen des Zusammenlebens, die eine wertvolle Alternative zu unserer Leistungsgesellschaft darstellen? Wie Solidarität in einer Gemeinschaft funktioniert, sodass niemand zurückgelassen wird?
mein/4: Solche Gedanken kamen schon in den 70er- und 80er-Jahren auf: Was ist Wohlstand? Ist Wohlstand der dritte Fernseher oder Zeit mit der Familie?
Klaus Lederer: Viele kluge Gedanken in diese Richtung sind gar nicht so neu. Es fehlt derzeit an der politischen Kraft, die versucht, daraus konsistent eine Idee zu entwickeln, wo unser Land auch im europäischen Kontext im Jahr 2030, 2040 stehen soll. Dazu gehören u. a. Antworten auf die Fragen: An welchen Koordinaten richten wir unsere eigene Politik aus? Nach welchen Kriterien können Freiheit und Gleichheit heute als gesellschaftliche Ideale verwirklicht werden? Ist ein solch obszöner Reichtum, wie er sich in den modernen Gesellschaften angesammelt hat und wie er in den vergangenen Jahren noch mal massiv explodiert ist, überhaupt noch vertretbar vor dem Hintergrund eines Gleichheitsanspruchs in der modernen Gesellschaft aller Menschen und des Rechts auf Menschenwürde für jeden Menschen im globalen Maßstab – wenn man zugleich sieht, wie viel maßloser Hunger, wie viel Chancenlosigkeit, wie wenig Lebensperspektiven in anderen Teilen dieser Welt existieren? Wir werden uns diesen Lebensstil des Konsums, den wir in den vergangenen Jahren hatten und der in gewisser Weise auch lange Zeit die demokratisch-politischen Verhältnisse hierzulande legitimiert hat, nicht weiter leisten können. Es gibt natürlich keinen Schalter, den man einfach umlegen kann. Und niemand hat alle Antworten auf die Fragen. Dafür sind die Probleme viel zu groß, dazu ist die Welt viel zu komplex. Ich glaube aber, das ist halt meine Perspektive, dass nur linkes Denken helfen kann, diese Probleme richtig zu beschreiben und Auswege zu finden. Eine Linke kann das aber allein nie schaffen, deswegen muss sie eine auf die Zukunft gerichtete Politik betreiben, mit Ideen, mit Vorschlägen, die man in die gesellschaftliche Debatte einbringt. Dann wird man sehen, ob es funktioniert. Aber es braucht den Druck aus der Gesellschaft.
mein/4: Wer sollte das Buch lesen?
Klaus Lederer: Das Buch ist ein Diskussionsbeitrag. Ich hoffe, dass es jüngere Linke lesen, die neugierig sind und keine Erfahrungen aus meinen Zeiten haben. Menschen, die wissen möchten, ob man aus dem, was in der Vergangenheit passiert ist, das eine oder andere Kluge für die Gegenwart mitnehmen kann. Aber ich wünschte mir auch, dass es beispielsweise sozialliberale Menschen lesen, dass es Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lesen, auch grüne Menschen, die vielleicht ebenfalls ratlos sind und dieses gesellschaftliche Unbehagen spüren. Es gibt sogar Christdemokratinnen und -demokraten, die sich als sozial verantwortlich denkende Menschen verstehen und merken, dass in dieser Gesellschaft etwas schiefläuft. Die Probleme, die wir haben, sind keine Probleme, die nur Linke etwas angehen – sie gehen uns alle an.
Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.
Buchbox
Klaus Lederer
Mit Links die Welt retten
Kanon Verlag 2024, 224 Seiten
22,– €
ISBN 978-3-98568-110-5