Im Sommer möchte ich nicht in Berlin bleiben, ich gehe auf Reisen, am liebsten deutschlandweit. Deutschland ist ein Land, das man ein Leben lang bereisen und immer neue, wunderschöne Ecken entdecken kann, wahre Perlen der Natur, versteckt zwischen den Bergen, hinterm Wald oder am Ufer großer Flüsse.

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

„Tolle Aussicht, nettes Personal“, schrieb ich in das Gästebuch des Hotels Zum Neuen Schwan in Walluf-Niederwalluf im Rheingau-Taunus-Kreis. „Sehen Sie, Sie sind nicht der erste prominente Gast in unserem Haus“, die nette Dame vom Empfang, die meine Bücher kannte, blätterte das Gästebuch zurück. In der Tat, wir waren zu zweit. „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“, schrieb ein höflicher Mann, bestimmt ein Österreicher, dachte ich. Das Foto sagte mir nichts. „Wer ist denn das?“, fragte ich die Dame. „Mann!“, sie schaute mich verwundet an, „Martin Mann!“. Betretendes Schweigen breitete sich im Raum aus. 
Niemand aus meinem Filmteam schien Martin Mann zu kennen. „Meilenweit muss ich gehen!“, rief uns die Empfangsdame zu. Wir atmeten erleichtert aus und nickten. Na klar, meilenweit muss ich gehen, die Zeile kam allen irgendwie bekannt vor. Die Vorstellung allerdings, dass der    Schlagersänger Martin Mann meilenweit gehen musste, um in Walluf-Niederwalluf anzukommen und sich im Gästebuch des Neuen Schwans zu verewigen, amüsierte mich. Anders als Mann, der sich nur im Gästebuch einschreiben wollte, war ich im wichtigen ZDF-Auftrag hierhergekommen, um den Film Wie schmeckt Deutschland mit einem Weißweinbeitrag zu vervollständigen. Gleich um die Ecke befanden sich hier die Weinberge des größten deutschen Weißweinproduzenten. Bereits vor 800 Jahren haben die französischen Mönche diese Hügel für Weinanbau ausgewählt und als Erstes mit einer dicken Steinmauer gegen Diebe umzingelt. Die Diebe waren damals das größte Problem der Weinbauer. Heute sind es die EU-Verordnungen, die den Einsatz von Pestiziden verbieten.

„Dabei haben wir die Weinreben nie gespritzt,“ erzählte mir der Chef, „nur das Unkraut dazwischen.“ Aufgrund der EU-Verordnungen mussten nun die Pestizide durch rumänische und moldawische Jungs mit Motorsensen ersetzt werden. Doch egal wie sehr sich die Jungs bemühten, sie verletzten mit ihren Sensen die Reben. „Wie haben es die Mönche damals vor 800 Jahren gemacht, als die Pestizide noch nicht erfunden wurden?“, fragte ich, „man könnte zum Beispiel die Pestizide durch Laufenten und Gänse ersetzen, die fressen Ihnen alle Schnecken und Insekten weg.“ Der Weinberg-Meister zeigte keine Begeisterung für meine Idee. Nach der Riesling-Verkostung fuhren wir zurück zum Neuen Schwan, Rheingau und Getränke versetzten uns in eine Schlagerstimmung, meine Kollegen sangen mir während der Fahrt die ganze ZDF-Hitparade von 1991 ins Ohr: Vicky Leandros, Roland Kaiser, Martin Mann, der sicher kein leichtes Leben hatte – Meilenweit musste er gehen.

Wladimir Kaminer

Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller, ist er hoffentlich bald wieder die meiste Zeit unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.

Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.