Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Ein Kiez, von dem noch niemand etwas gehört hat, in dem aber überregionale Kunst regelmäßig zu Besuch ist. Doch auch abseits bemerkenswerter Gastspiele lässt sich hier viel Interessantes entdecken..

60 Jahre Berliner Theatertreffen – seit 1964 werden jährlich zehn herausragende Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum nach Berlin eingeladen, 2024 findet das Festival vom 2. bis 19. Mai statt. Eine gute Gelegenheit, einmal die Gegend rund um das Haus der Berliner Festspiele, dem Hauptveranstaltungsort des Theatertreffens, zu erkunden, dachte ich und warf einen Blick auf den Kiezplan der Edition Gauglitz, um zu schauen, wie man das Viertel bezeichnet, in dem sich der von Fritz Bornemann entworfene Bau befindet. Ludwigkirchkiez steht dort – und ich stand grübelnd vor meinem Stadtplan, weil ich davon noch nie gehört hatte. Es beruhigte mich ein bisschen, dass auch dem Internet dieser Name nicht geläufig war. Hingefahren bin ich trotzdem und beim Flanieren auf den Bürgersteigen des unvertraut klingenden Wilmersdorfer Kiezes, der durch die Lietzenburger Straße, die Bundesallee, den Hohenzollerndamm und die Württembergische Straße begrenzt ist, habe ich so viel Interessantes entdeckt, dass ich ihm, ob es ihn unter diesem Namen nun gibt oder nicht, gern diese Folge widmen möchte. Ich hätte sie auch einfach „Rund um die St.-Ludwig-Kirche“ nennen können, denn im Zentrum des Viertels steht das im Stil der norddeutschen Backsteingotik errichtete, namensgebende Gotteshaus, das zwischen 1895 und 1897 im Zentrum des Hopfenbruchs, einem entwässerten Sumpfgebiet zwischen Wilmersdorf und Charlottenburg, nach Entwürfen des auf Sakralbauten spezialisierten Architekten August Menken entstand. Weil er einen Turm über der Vierung (wo Hauptschiff und Querschiff zusammentreffen) vorsah und den Chor kleeblattförmig anlegte, wurden seine Entwürfe für das kompakt wirkende Gotteshaus vorab auf der ersten Großen Berliner Kunstausstellung 1893 öffentlich ausgestellt.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich die Gemeinde Wilmersdorf zur selbstständigen, gutbürgerlichen Großstadt, so dass die dem heiligen König Ludwig IX. von Frankreich gewidmete Kirche, die als erster katholischer Monumentalbau im Südwestens Berlins gilt, bald von vornehmen vier- bis fünfgeschossigen Mietshäusern umrahmt wurde. In diese zogen vielleicht die Beamten der Königlich Preußischen Artillerieprüfungskommission, deren Dienstgebäude nur wenige Gehminuten entfernt an der damaligen Kaiserallee (heute Bundesallee) in dem Jahr eingeweiht wurde, in dem der Grundstein für die Kirche gelegt wurde. Im geteilten Berlin war das von Friedrich Bernhardt entworfene markante, rote Backsteingebäude Dienststelle der Bevollmächtigten der Bundesregierung. Heute vereinigt das sogenannte Bundeshaus verschiedene Einrichtungen des Bundes, darunter Außenstellen der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung und des Bundesinnenministeriums. Gegenüber, auf der anderen Seite der Bundesallee, steht bereits seit 1880 ein gelb verklinkerter, 150 Meter langer Prachtbau mit vorgelagertem Arkadengang im Stil der italienischen Renaissance.

Das Joachimsthalsche Gymnasium, eine bereits 1607 gegründete Fürstenschule für begabte Knaben, bezog den von Johann Heinrich Strack und Ludwig Giersberg realisierten Neubau in der seinerzeit idyllischen Vorstadt und nahm das Gelände bis zum Fasanenplatz mit Unterkünften für Lehrer und Schüler, einer Sporthalle und Wirtschaftsgebäuden in Beschlag. Seit mehr als zwei Jahrzehnten residiert hier nun schon der Fachbereich Musik der Universität der Künste. Im Joseph-Joachim-Konzertsaal, benannt nach dem Begründer der Berliner Musikhochschule, finden regelmäßig Kammerkonzerte, Vortragsabende, Meisterkurse oder Symposien statt.

Von den einstigen Nebengebäuden des Joachimsthalschen Gymnasiums, das das Gelände 1912 aufgab, ist einzig das Lehrerhaus erhalten, welches mittlerweile einen Kindergarten beherbergt. Ein Teil des ehemaligen Schulgeländes wurde zu einer öffentlichen Grünfläche umgestaltet – der Gerhart-Hauptmann-Anlage. Eine von Fritz Klimsch geschaffene Bronzebüste wurde anlässlich des 20. Todestages des Namensgebers, am 6. Juni 1966, hier enthüllt. Drei Jahre zuvor war hinter dem historischen Schulgebäude ein Theaterneubau für die Freie Volksbühne unter der Leitung von Erwin Piscator feierlich eröffnet worden. In dem nachkriegsmodernen Haus inszenierten über drei Jahrzehnte mit Peter Zadek, Kurt Hübner, Klaus Michael Grüber oder Hans Neuenfels einige der einflussreichsten Theaterregisseure der Bundesrepublik.
1992 entzog der Berliner Senat der Freien Volksbühne die Förderung, 1999 wurde das Gebäude verkauft und zwei Jahre später als Haus der Berliner Festspiele wiedereröffnet. Die GmbH organisiert und realisiert das ganze Jahr über Festivals und Ausstellungen, die nicht selten international, interdisziplinär und interkulturell ausgerichtet sind. Neben dem eingangs erwähnten Theatertreffen gehören MaerzMusik, ein Festival für klangbezogene Kunstformen, das Musikfest Berlin oder das Jazzfest Berlin zu jährlich wiederkehrenden Formaten der Berliner Festspiele, deren Veranstaltungen hauptsächlich in dem Bornemann-Bau an der Schaperstraße stattfinden. Auf dessen Parkdeck steht seit nunmehr 32 Jahren ein historisches, im Jugendstil gehaltenes Spiegelzeit aus dem Jahr 1912.

Hier ist die Bar jeder Vernunft zu Hause, deren Erfolgsgeschichte 1994 mit der Neuinszenierung des Singspiels Im weißen Rößl begann. Beteiligt waren unter anderem die Geschwister Pfister, Max Raabe und Meret Becker, die mit dem Rößl den Grundstein ihrer erfolgreichen Karrieren legten.

Die Bar jeder Vernunft ist eine der bedeutendsten Kleinkunstorte der Stadt, zeigt Chansonabende, Kabarett und Musicalproduktionen und bietet Künstlerinnen und Künstlern wie Tim Fischer, Georgette Dee, Katharine Mehrling, Irmgard Knef, Sven Ratzke, Lisa Bassenge, Atrin Madani und vielen anderen immer wieder die Möglichkeit, neue Programme zu präsentieren. Mitunter erklingen hier auch Lieder von Friedrich Hollaender, dem 2012 nicht weit entfernt an der Bundesallee, Ecke Lietzenburger Straße „ein urbaner Stadtplatz mit einem völlig neuen Maß an Aufenthaltsqualität“ gewidmet wurde.
Zwölf Jahre später lädt der Platz mit seinen scheinbar zufällig angelegten Wegen, Grünflächen und Wasserfontänen nicht wirklich zum Verweilen ein, eine Infostele informiert jedoch über den 1976 verstorbenen Komponisten. Auch in der nahe gelegenen Kleinen Philharmonie kann man gelegentlich dessen Lieder hören. 1959 eröffnet, entwickelte sich die Kneipe schnell zu einem Szenetreffpunkt für Homosexuelle, was sich bis heute nicht geändert hat. Hier kommt man aber auch her, um nach dem Besuch in der Bar jeder Vernunft einen Absacker zu nehmen oder um kleine Konzerte oder Kabarettabende in Wohnzimmeratmosphäre zu erleben. Unwesentlich größer ist das Theater unterm Turm am anderen Ende des Kiezes.

Zwei Jahre spielte das Salontheater montags im Saal unter dem markanten Turm der expressionistischen Hohenzollernkirche (die ich näher vorstelle, wenn der Güntzelkiez an der Reihe ist), seit 2012 ist es in einem kleinen Ladengeschäft auf der anderen Straßenseite, immerhin noch mit Blick auf die Kirche, zu Hause. Im knapp 40 Plätze fassenden Theaterraum erlebt man regelmäßig humorvolle Eigenproduktionen und zahlreiche Gastspiele. Mitunter finden dort auch Lesungen statt, bei denen die Literatur vermutlich weniger kritisch beäugt wird als im Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, das erst seit einem Dreivierteljahr nur zwei Querstraßen weiter Quartier genommen hat. Das geisteswissenschaftliche Institut hat sich der Erforschung von Literatur in interdisziplinären Zusammenhängen und unter kulturwissenschaftlichen Voraussetzungen verschrieben, fragt ganz konkret nach der Genese verschiedener Literaturkonzepte, ihren künftigen Möglichkeiten sowie nach dem Verhältnis von Literatur und anderen Künsten oder kulturellen Praktiken.

Apropos Bildung: Ich möchte noch auf zwei Schulbauten aufmerksam machen, die mir im Ludwigkirchkiez ihrer Architektur wegen ins Auge gesprungen sind. Zum einen die Robert-Jungk-Oberschule, ein L-förmiger Bau im schlichten, modernen Stil der Zwanzigerjahre, der überraschenderweise erst vor 22 Jahren errichtet wurde, zum anderen und im Kontrast die direkt daneben liegende Johann-Peter-Hebel-Grundschule, ein wuchtiger viergeschossiger Mauerwerksbau des Architekten Otto Herrnring. 1906 als humanistisches Gymnasium für Jungen errichtet, trug es zuerst den Namen des Philosophen Johann Gottlieb Fichte. Hier konnte der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 1938 noch sein Abitur ablegen, bevor er in der sogenannten Polenaktion zusammen mit etwa 17 000 anderen jüdischen Menschen nach Polen ausgewiesen wurde. Er wohnte im benachbarten Güntzelkiez, sodass sein Schulweg am U-Bahnhof Hohenzollernplatz vorbeigeführt haben muss.

Mit der Grundsteinlegung dieses von Wilhelm Leitgebel gestalteten Bahnhofs begann der Bau der Wilmersdorf-Dahlemer Untergrundbahn, die 1913 in Betrieb genommen wurde, um das umliegende Neubaugebiet besser anzubinden und aufzuwerten. Die aufwendige Gestaltung der ersten Bahnhöfe dieser Linie unterstrich zugleich das Selbstbewusstsein der stetig wachsenden Stadt Wilmersdorf.

Mit der Grundsteinlegung dieses von Wilhelm Leitgebel gestalteten Bahnhofs begann der Bau der Wilmersdorf-Dahlemer Untergrundbahn, die 1913 in Betrieb genommen wurde, um das umliegende Neubaugebiet besser anzubinden und aufzuwerten. Die aufwendige Gestaltung der ersten Bahnhöfe dieser Linie unterstrich zugleich das Selbstbewusstsein der stetig wachsenden Stadt Wilmersdorf.

Hier dominiert der Adler des Hauses Hohenzollern zusammen mit Eichen- und Lorbeerblättern sowie Waffen- und Rüstungsmotiven die architektonische Gestaltung, ergänzt durch 34 Aufnahmen des Berliner Fotografen Edgar E. Herbst vom Stammsitz der Hohenzollern am Rande der Schwäbischen Alb. Fährt man von hier eine Station Richtung Stadtzentrum, kommt man zum U-Bahnhof Spichernstraße, der architektonisch leider wenig Interessantes bietet.

Aber man ist dann wieder am Ausgangspunkt dieser Kiezbeschreibung, denn von hier sind es nur zwei Minuten zum Haus der Berliner Festspiele. Besser ist, man flaniert vom Hohenzollernplatz aus durch die Straßen des Ludwigkirchkiezes und entdeckt noch viel, was hier aus Platzgründen nur erwähnt werden kann: eine bronzene Fischreiterin, kleine, feine Galerien, die Leuchtschrift am Sächsischen Palais sowie etliche Gedenktafeln aus feinstem KPM-Porzellan.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen