Folge 12:

Das Gleimviertel

Text & Fotos: Marc Lippuner

Johann Wilhelm Ludwig Gleim, ein heute kaum noch bekannter Dichter des 18. Jahrhunderts, ist Namensgeber des im Nordwesten des Prenzlauer Bergs gelegenen Gleimviertels. Doch ist der künstlerische Namenspatron auch Garant für kulturelle Entdeckungen in dem als Wohnquartier deklarierten Kiez, dessen überregional bekannte Sportstätten und Grünanlagen mehr als die Hälfte der gesamten Fläche einnehmen?

Man mag es kaum glauben, aber die grün lackierte Hochbahntrasse, die das Bild der nördlichen Schönhauser Allee so stark prägt, hätte es eigentlich nicht geben sollen. Explodierende Baukosten und Abwasserkanäle, die sich nicht verlegen ließen, machten 1910 die geplante Weiterführung des Tunnels unmöglich, sodass die letzten beiden Stationen des Ausbaus der nördlichen Verbindung zwischen dem Alexanderplatz und der Ringbahn als Hochbahn angelegt werden mussten. Wie bei nahezu allen U-Bahnhöfen, die zwischen 1902 und 1931 entstanden, übernahm der schwedische Architekt Alfred Grenander die Gestaltung: Er entwarf zwei nahezu identische, verhältnismäßig schmucklose Bahnhöfe mit Mittelbahnsteig und Oberlichtern, die im Juli 1913 ihrer Bestimmung übergeben wurden. Die beiden Bahnhöfe bilden die nord- und südöstlichen Eckpunkte des Gleimviertels, das im Norden durch die Ringbahn, im Süden durch die Eberswalder Straße und im Westen durch den kürzlich sanierten und erweiterten Mauerpark begrenzt wird.

Seinen Namen verdankt die 14 Hektar große Parkanlage der 1961 errichteten Berliner Mauer, die hier 28 Jahre lang die Grenze zwischen den Ortsteilen Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen unpassierbar machte. Anfang der 1990er-Jahre entstand eine vom Landschaftsarchitekten Gustav Lange gestaltete Grünfläche, die sich schnell zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelte. Seit 2004 belebt ein sonntäglicher Flohmarkt das Gelände, darüber hinaus unterhalten zahlreiche Straßenmusiker und -musikerinnen entlang der Schwedter Straße die Flanierenden. Um sich häufende Beschwerden wegen Ruhestörung zu minimieren, wird seit Anfang September mit einer mobilen Lärmschutzschale experimentiert, die Schallwellen kanalisieren soll. Ob diese auch beim Mauerparkkaraoke zum Einsatz kommen wird, ist ungewiss: Seit der Pandemie ist die Kultveranstaltung, die mehr als zehn Jahre lang nahezu jeden Sonntag um die tausend Menschen ins Amphitheater lockte, ausgesetzt und eine Wiederaufnahme noch nicht angekündigt.

Hinter dem treppenförmigen Halbrund sieht man Reste der Hinterlandmauer, die den Grenzstreifen zur DDR hin abschloss. Dahinter befindet sich ein 1913 auf einem ehemaligen Exerzierplatz der preußischen Armee angelegter Sportpark, der anlässlich der Weltjugendfestspiele 1951 ein 24.000 Personen fassendes Fußball- und Leichtathletikstadion bekam. 1952, im 100. Todesjahr des Turnvaters Jahn, erhielt die Anlage den Namen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Direkt nebenan ehrt seit 1996 die Max-Schmeling-Halle den deutschen Boxweltmeister. Sie entstand ursprünglich im Rahmen der Bewerbung Berlins für die Olympischen Sommerspiele im Jahr 2000 als Boxhalle und wurde später zu einer Multifunktionshalle mit bis zu 11.900 Plätzen umgebaut, in der vor allem Sportveranstaltungen und Konzerte internationaler Stars wie Madonna, Robbie Williams, Deep Purple oder James Blunt stattfinden. Dass ein Großteil des Mauerparks einmal Bahnhofsgelände war, erkennt man nur noch am einige Schritte weiter nördlich gelegenen Gleimtunnel, einer 130 Meter langen Unterführung, die das Brunnenviertel mit dem Gleimviertel verbindet. Die stählernen Gleisüberbauten, die von 78 gusseisernen Hartungschen Säulen getragen werden, führten ab 1904 von der Berliner Nordbahn zu einem bereits 1877 eröffneten Kopf- und Güterbahnhof, der erst 1985 endgültig stillgelegt wurde. Die Unterführung war notwendig geworden, um die Querung der Gleisanlagen den in Prenzlauer Berg lebenden Arbeitern zu den Fabriken in Wedding zu erleichtern. Während der deutschen Teilung war der Tunnel zugemauert, mittlerweile stellt er wieder eine wichtige Verkehrsachse zwischen Ost- und Westberlin dar. Sein Gleisbett ist begrünt und man gelangt hierüber – oder indem man die Gleimstraße überquert – auf die Nordseite des Mauerparks, wo die Jugendfarm Moritzhof steht. Der Kinderbauernhof wurde 1999 eröffnet. Neben der Arbeit mit den Tieren können Kinder und Jugendliche hier landwirtschaftliche und gärtnerische Fähigkeiten erwerben sowie alte Gewerke wie Filzen oder Korbmachen erlernen.

Nur 300 Meter entfernt, in der Kopenhagener Straße / Ecke Sonnenburger Straße, steht das ehemalige Umspannwerk Humboldt, ein 1925 bis 1927 errichteter, klinkerverblendeter Stahlskelettbau des Industriearchitekten Hans Heinrich Müller. Bis 1993 wandelte man in dem markanten Bau hochspannige Energie in niederspannigen Strom um. Anfang des neuen Jahrtausends nutzte das Vitra Design Museum die eindrucksvolle Phasenschieberhalle als Dependance für Wechselausstellungen. Mittlerweile dienen die umgebauten Innenräume als Büro- und Veranstaltungsflächen.

Ein weiterer bemerkenswerter Baukomplex steht an der Milastraße, die mit nur 120 Metern wohl die kürzeste Straße des Gleimviertels ist. In die Cantianstraße hinein zieht sich ein eklektizistisches Gebäude, das mit seinen geschwungenen Giebeln und einem kupfergedeckten Turmhelm an englische und holländische Architektur erinnert. In der Villa Groterjan, die u.a. einen typischen Berliner Festsaal und eine Kegelbahn beherbergte, braute Christoph Groterjan um die Wende zum 20. Jahrhundert ein von ihm patentiertes Malzbier, das er in seinem 1.500 Plätze fassenden Biergarten auch selbst ausschenkte. Seit den 1920er-Jahren wurde das Brauereigelände verschiedensten Nutzungen überlassen, war zeitweilig Schokoladen- und Zuckerfabrik, Möbelhaus, Gaststätte, Probebühne der Volksbühne und mehr als dreißig Jahre lang – von 1927 bis 1963 – das Filmtheater „Mila-Lichtspiele“. Es war nicht das einzige Kino im Gleimviertel, mittlerweile ist das berühmte Colosseum an der Schönhauser Allee jedoch ebenfalls geschlossen. 1924 aus einer ehemaligen Wagenhalle der Straßenbahn zum Kino umgebaut, wurde es während des Zweiten Weltkriegs als Lazarett und nach Kriegsende als Spielstätte des Metropol-Theaters genutzt.

1957 fand die Wiedereröffnung als Lichtspielhaus statt, bis zur Errichtung des Kinos International im Jahr 1963 war es das Premierenkino der DDR. In den 1990er-Jahren erfolgte der Umbau zum Multiplexkino mit zehn Sälen, nun wurde im Zuge der Corona-Krise, nur wenige Jahre vor dem 100-jährigen Jubiläum, Insolvenz angemeldet. Mit Online-Petitionen und Demonstrationen wurde für den Erhalt des Kinos gekämpft, auch der Bezirk Pankow bekräftigte den Wunsch, das Gebäude mit der schwungvollen Leuchtschrift an der Fassade als Kulturstandort zu erhalten.