Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Zwischen Spreeufer und Rotem Rathaus, dem Mühlendamm und dem Park rund um das Marx-Engels-Forum befindet sich auf einer Fläche von fünf Hektar das älteste Siedlungsgebiet der Stadt.

Anfang des 13. Jahrhunderts wurde an einer flachen und besonders schmalen Stelle der Spree, wo die im Spreetal angelegten Fernhandelsstraßen zusammenliefen, eine befestigte Überquerung errichtet, die schnell den Namen Mühlendamm (Molendam) erhielt, weil sie mindestens sechs ab dem Jahr 1220 betriebenen Wassermühlen als Staudamm diente. Zu dieser Zeit entstand am östlichen Ufer, im Zentrum der Siedlung Berlin, als zentrales Bauwerk eine Feldsteinbasilika: die Nikolaikirche. Über die Jahrhunderte mehrfach umgebaut und erweitert, zuletzt in den 1870er-Jahren durch einen neogotischen Doppelturm ergänzt, wurde sie 1938 profaniert, die Nationalsozialisten wollten sie – regotisiert – in der künftigen Welthauptstadt Germania als Musikdom nutzen. 1944 bei alliierten Luftangriffen stark beschädigt, verfiel das der Witterung ausgesetzte Bauwerk in den folgenden Jahrzehnten. Es überrascht, dass das Areal um die Nikolaikirche in der Ostberliner Stadtplanung – trotz der Nähe zum Palast der Republik, dem Rathaus und dem Fernsehturm – über viele Jahre keine Rolle spielte.

Das änderte sich Ende der 1970er-Jahre im Hinblick auf das 1987 anstehende 750-jährige Stadtjubiläum. 1237 wurde die auf der westlichen Spreeseite parallel zu Berlin heranwachsende Handelsstadt Cölln erstmals urkundlich erwähnt – Berlin erst sieben Jahre später – da beide Städte jedoch schnell zusammenwuchsen und bereits 1307 zur Doppelstadt vereinigt wurden, gilt das frühere Datum als Geburtsjahr Berlins. Zur 750-Jahr-Feier plante die Stadtverwaltung also mit dem Nikolaiviertel ein seiner historischen Bedeutung gemäßes attraktives und touristisch anziehendes Quartier zu entwickeln und fertigzustellen: Die Nikolaikirche wurde als ältestes Bauwerk der Stadt weitestgehend originalgetreu in ihrem Vorkriegszustand rekonstruiert, wie auch die wenigen erhaltenen Gebäude, darunter das Mitte des 18. Jahrhunderts errichtete Wohnhaus der Kaufmannsfamilie Knoblauch oder das 1897 im deutschen Renaissancestil errichtete Kurfürstenhaus, das seinen Namen eigentlich nicht verdient, weil Kurfürst Johann Sigismund sich 1619 in das seinem Kammerdiener gehörende Haus nebenan zum Sterben zurückgezogen hatte. Das 1936 bei der Erweiterung des Mühlendamms abgetragene Ephraim-Palais, das seinerzeit als „schönste Ecke Berlins“ galt, wurde unter Verwendung von Originalteilen der schmuckvollen abgerundeten Rokoko-Fassade, die im Rahmen eines Kulturgüteraustausches aus einem Lager in Westberlin ausgelöst wurden, zwölf Meter nördlich seines ursprünglichen Standorts wieder aufgebaut.

August Kiß’ neobarocke, als Meisterwerk der Berliner Bildhauerschule geltende, fünfeinhalb Meter hohe Bronzeskulptur des mit einem Drachen kämpfenden Heiligen Georgs, die bis zum Abriss des Berliner Schlosses im Eosanderhof stand und anschließend am Großen Teich des Volksparks Friedrichshain zu sehen war, wurde am Spreeufer platziert.

Historische Gebäude wie die Gerichtslaube des Alten Rathauses oder das Gasthaus zum Nussbaum, das einst auf der Fischerinsel zu finden war, entstanden als Kopie; eine Reihe kleiner Bürgerhäuser wurde mit historisierenden Fassaden neu errichtet, ebenso wie zahlreiche „Ortbetonbauten mit Vorhangfassaden“: Plattenbauelemente mit Giebeln, schmiedeeisernen, französischen Balkonen und anderen verspielten Ornamenten, deren 80er-Jahre-Charme damals wie heute ästhetische Debatten auslöst. Nichtsdestotrotz – oder gerade deshalb – wurde das Nikolaiviertel, das in 800 Wohnungen etwa 2000 Menschen ein Zuhause bietet, als das „prominenteste Beispiel einer veränderten Baupolitik der DDR in den 1980er-Jahren“ im Jahr 2018 in die Berliner Denkmalliste aufgenommen.

Flaniert man heute durch die Gassen des Viertels, gibt es viel zu entdecken, was bereits zum Wiederaufbau gefordert wurde: den lebendigen Bezug zum Ursprünglichen erlebbar zu machen. Mit der Nikolaikirche, dem Knoblauchhaus und dem Ephraim-Palais befinden sich hier drei Standorte der Stiftung Stadtmuseum Berlin: Die Kirche widmet sich der Stadtentwicklung im Mittelalter. Die Dauerausstellung zur Architektur-, Kirchen- und Musikgeschichte des Bauwerks wird regelmäßig durch künstlerische Interventionen aufgelockert. So hat der amerikanische Künstler Mark Dion hunderte von Exponaten aus der Spielzeugsammlung des Stadtmuseums im Kirchenraum in Installationen arrangiert, die einen liebevollen, aber zugleich auch kritischen Blick auf das Kinderspielzeug an sich werfen (Delirious Toys, bis 11. Februar 2024). Im Knoblauchhaus kann man die Wohnkultur und das Lebensgefühl des Biedermeier kennenlernen und erfährt im Ausstellungsbereich Berliner Salon viel über das Netzwerk der Knoblauchs, die mit Persönlichkeiten wie dem Baumeister Karl Friedrich Schinkel oder den Gebrüdern Humboldt befreundet waren. Das Ephraim-Palais, in dem auf drei Etagen bislang Sonderausstellungen zu sehen waren, überbrückt die Sanierungszeit im Märkischen Museum seit 1. Dezember 2023 mit der Dauerausstellung BerlinZEIT – Die Stadt macht Geschichte!

Über Berliner Geschichte erfährt man auch viel, wenn man durch die schmalen Gassen flaniert: In einem der nach historischen Plänen rekonstruierten Bürgerhäuser hinter der Nikolaikirche soll Gotthold Ephraim Lessing sein Lustspiel Minna von Barnhelm beendet haben, heute veranstaltet der Anthea Verlag hier in losen Abständen Lesungen und einen literarischen Salon. Im Nachbarhaus ist es dagegen ruhig geworden: 2004 eröffnete hier ein kleines Theater, das in musikalisch-szenischen Abenden die Berliner Schnauze kultivierte, Zille sein Milljöh war über viele Jahre der Dauerbrenner, nun muss man Heinrich Zille woanders suchen … wird aber schnell fündig. Schon mehr als 20 Jahre hält das Zille-Museum mit mehr als 150 Exponaten die Erinnerung an das Leben und Wirken des vielleicht bekanntesten Berliner Künstlers lebendig und zeigt nicht nur seine Milieuzeichnungen, sondern auch die zu Unrecht weitaus weniger bekannten Fotografien des sozialkritischen Künstlers.

Zille-Skulptur von Thomas Stegmann

Wer hören will, was „er selbst“ zu erzählen hat, muss die Zille-Skulptur aus Kalkstein suchen, die Thomas Stegmann 2008 anlässlich Zilles 150. Geburtstags schuf. Sie ist eine der Talking Statues, von denen es sechs in Berlin gibt.

Scannt man den QR-Code auf der Hinweistafel, wird man von Zille angerufen. Es spricht der Schauspieler Walter Plathe, der als Pinselheinrich bereits auf der Bühne große Erfolge feierte.

Erfolgreich behauptet sich auch das einzige Hanfmuseum Deutschlands im Nikolaiviertel: 2024 kann es seinen 30. Geburtstag feiern. Seit Mitte der 1990er-Jahre bietet es auf 250 Quadratmetern ein umfassendes Bild über die „verrufene“ Kulturpflanze, deren Nutzungsmöglichkeiten weit über das Kiffen und Kekse aufpeppen hinausgehen. Und wo wir schon beim Thema Genuss sind: Mehr als 20 Restaurants, Kneipen und Cafés sind im Nikolaiviertel zu finden. Die meisten bieten – zu erstaunlich moderaten Preisen – Alt-Berliner Küche an, was sicherlich nicht nur Touristen zu schätzen wissen.

Zu guter Letzt eine Geschichte aus dem Nikolaiviertel, an die nur noch zwei Stolpersteine erinnern: 1843 eröffnete Nathan Israel an der nördlichen Ecke des Quartiers das älteste Kaufhaus Berlins. Bis in die 1920er-Jahre hinein wurde es sukzessive erweitert, indem die Gebäude der Nachbargrundstücke erworben und integriert wurden, zum Teil, ohne sie architektonisch anzugleichen. 1928 beschäftigte das „Harrods von Berlin“, das neben Kleidung und Konfektionswaren auch Haushaltsgeräte, Spielwaren, Parfüm, Uhren und Möbel verkaufte, knapp 2000 Angestellte, für die die Firma auch soziale Verantwortung übernahm, indem sie Weiterbildungen ermöglichte und Pensionsregelungen schuf. Der letzte Inhaber des Kaufhauses, Nathan Israels Urenkel Wilfrid, musste sich 1939 dem politischen Druck der Nationalsozialisten beugen und den Familienbetrieb verkaufen. Zu dieser Zeit und auch nach seiner Emigration in seine Geburtsstadt London beteiligte Wilfrid Israel sich aktiv an der Rettung von Juden aus Deutschland. So spielte er eine wichtige Rolle bei der Organisation der Kindertransporte nach den Novemberpogromen 1938. Am 1. Juni 1943 kam Israel bei einem Flugzeugabsturz infolge eines Geschosstreffers der deutschen Wehrmacht ums Leben. Im selben Jahr fiel der Kaufhauskomplex, der sich über ein Viertel der Grundfläche des Nikolaiviertels erstreckte, im Bombenhagel in Schutt und Asche.

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

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