Kultur im Kiez entdecken

Text & Fotos: Marc Lippuner

Auf einer Landzunge zwischen der Spree und der Rummelsburger Bucht liegt Stralau. Nach Jahrhunderten als Fischerdorf entwickelte sich der kleine Ort im 19. Jahrhundert zu einem prosperierenden Industriestandort, der seit der Jahrtausendwende zur Wasserstadt mit großzügigen Wohnanlagen umgebaut wird. Auf einem knapp zweistündigen Spaziergang lässt sich die Halbinsel gemütlich erkunden.

Beginnt man die Tour entlang des nördlichen Uferwegs wird man erst einmal mit allerlei in den letzten drei Jahrzehnten entstandenen Wohnquartieren konfrontiert, die gebaut wurden, nachdem Berlin den Zuschlag zur Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2000 nicht erhalten hat. Stralau war als Olympisches Dorf projektiert, eine Vielzahl der Bauvorhaben wurde trotz der gescheiterten Bewerbung realisiert, weitere, vorrangig hochwertige Wohnbauten kamen in den letzten Jahren hinzu. Nicht selten wurden hierbei verbliebene Industriebauten in die Gestaltung mit einbezogen. Nach dem Mauerfall und der politischen Wende sind zahlreiche Betriebe, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts den vorderen Teil der Halbinsel prägten, geschlossen worden, so auch der zwischen 1883 und 1885 errichtete 50 Meter lange Palmkernölspeicher, der im 20. Jahrhundert vor allem als Mühle, Getreidelager und Tierfutterproduktionsstätte genutzt wurde. Nach zwei Jahrzehnten des Leerstands entstanden in dem im Stil der Neorenaissance errichteten Backsteinbau exklusive Loftwohnungen. Blickt man vom hauseigenen Schiffsanlegeplatz Richtung Stralauer Spitze, sieht man, dass Hausboote, kleinere Schiffe und Kähne dicht gedrängt das befestigte Ufer säumen. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die grüne Landzunge als Naherholungsgebiet entdeckt, zugleich erwies Stralau sich als idealer Standort für Segelsport, weil bis nach Köpenick keine einzige Brücke die Fahrt behinderte. 1835 wurde hier in einer kleinen Taverne die erste Segelvereinigung Deutschlands gegründet. Auch die Anfänge des Berliner Rudersports lagen in Stralau, 1878 fand das erste Wettrudern auf der Rummelsburger Bucht statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Industrie das Gesicht des idyllischen Fischerdorfs bereits stark verändert.

Palmölspeicher Stralau
Palmölspeicher
Kirchhof Stralau
Kirchhof

Die Halbinsel gehört, das belegen archäologische Funde aus der Steinzeit, zu den ältesten Siedlungsgebieten innerhalb der heutigen Berliner Stadtgrenzen. Erstmals urkundlich erwähnt wurde Stralow im 13. Jahrhundert, bevor es 1358 in den Besitz der Doppelstadt Berlin-Cölln gelangte. Die folgenden 500 Jahre blieb es ein kleines Fischerdorf, das den Beginn der Fischereisaison am 24. August, dem Bartholomäustag, an dem die Schon- und Laichzeit der Fische endete, mit einem Fest verband, das als Stralauer Fischzug im Laufe der Zeit immer mehr Berlinerinnen und Berliner anzog, die die feierliche Prozedur jedoch zu einem Fress- und Saufgelage verkommen ließen, sodass der Stralauer Amtsvorsteher sich 1873 gezwungen sah, die Feier zu untersagen. Um den Ursprung des Fischzugs bilden sich Legenden: Vielfach wird das 1574 erlassene Edikt des brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg, das den Fischfang zwischen Gründonnerstag und dem Bartholomäustag verbot, „damit die Fischerei nicht zu Schaden komme, weil der Laich und die jungen Fische zu Unzeiten gebraucht werden“, als Auslöser der Stralauer Tradition genannt, jedoch war die Verordnung lediglich eine Ausweitung des ursprünglich einmonatigen Nachhaltigkeitsgebots für Fischbestände, das ebenfalls zu Bartholomäi endete.

So wird die Weihe der neuerrichteten Kirche jenes Dorfes, dessen Gemeinde sich aus elf Fischerfamilien zusammensetzte, im Jahr 1464 nicht zufällig auf eben jenen 24. August gefallen sein, war Bartholomäus doch seit jeher Patron der Fischer. Von der ursprünglichen Gestalt der aus Feld- und Ziegelsteinen errichteten, spätgotischen Kirche zeugt nur noch das einschiffige Langhaus mit dem fünfeckigen Chor. 1823/24 entstand der markante neugotische Glockenturm nach Plänen des Architekten Friedrich Wilhelm Langerhans, der kurz zuvor – vis-à-vis am anderen Ufer der Spree – das Magistrats-Kaffeehaus (später Zenner’s Restaurant) errichtet hatte. Seit wann sein Turm mit einem Neigungswinkel von fünf Grad schiefer als der von Pisa ist, ließ sich nicht genau herausfinden. Auf der Tafel des historischen Lehrpfades um die Halbinsel Stralau steht, dass die unsachgemäße Verfüllung eines Bombenkraters nach 1949 dafür sorgte, dass der Boden nachgab und der Turm sich neigte, andere Quellen sagen, dass der Schiefstand bereits durch den Bombentreffer selbst, der das Kreuzgewölbe zum Einsturz brachte, verursacht wurde, wiederum andere verweisen darauf, dass die Neigung bereits Anfang der 1930er-Jahre festgestellt worden sei, nachdem die Kirche wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste. Geschlossen ist sie auch heute nahezu immer. Besichtigungen können jedoch in der Evangelischen Kirchengemeinde Boxhagen-Stralau angefragt werden, zu entdecken gibt es neben spätgotischer Fenstermalerei, die in Berlin sonst nirgendwo erhalten ist, einem Schnitzaltar aus dem frühen 16. Jahrhundert und einer achteckigen Kalksteintaufe auch Kunstwerke von Waldemar Grzimek und Hedwig Bollhagen, die im Zuge der Restaurierung nach dem Zweiten Weltkrieg eingefügt wurden. Trotz der zahlreichen An- und Umbauten gilt die Stralauer Dorfkirche als das älteste erhaltene Bauwerk Friedrichshains, noch älter ist jedoch der sie umgebende Gottesacker.

Mauergedenkstätte Bernauer Straße

Die erste sichere Erwähnung des Dorfkirchhofs reicht in das Jahr 1412 zurück, das älteste zugängliche Grabmal ist ein Epitaph von 1795 an der Nordwand der Kirche. Bis heute werden hier Beisetzungen vorgenommen, zur Durchführung von Trauerfeiern dient die 1912 im neugotischen Stil erbaute Friedhofskapelle. Der Kinderbuchautor Fred Rodrian (1926–1985), der Karikaturist Manfred Bofinger (1941–2006) und der DJ Daso (1981–2018) fanden neben weiteren bekannten Persönlichkeiten ihre letzte Ruhe auf diesem idyllisch gelegenen Friedhof unmittelbar am Ufer der Spree. Von den 132 im Ersten Weltkrieg gefallenen Stralauer Soldaten werden die wenigsten hierher überführt worden sein. An sie erinnert ein im expressionistischen Stil errichtetes Backsteindenkmal aus den 1920er-Jahren, das mit seinen vier Ecktürmchen die Formgebung des Langerhansschen Kirchturms aufnimmt. Seit einigen Jahren ergänzt eine Tafel, die der Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Bombenangriffs vom 26. Februar 1945 auf Stralau und die Kirche gedenkt, das Mahnmal. 1995 wurde das an der Tunnelstraße gelegene Ensemble aus Kirchhof, Kapelle und Kriegerdenkmal unter Denkmalschutz gestellt. Der Tunnel, auf den die Straße verweist, hätte diesen Status sicherlich auch verdient, war er doch der erste Unterwassertunnel Deutschlands. Im Herbst 1899 fuhr die erste Straßenbahn durch den 454 Meter langen, eingleisigen Stollen, der Stralau unter der Spree entlang mit Treptow verband. Um Zusammenstöße zu vermeiden, wurden Wachen an den Tunnelenden postiert, die dem einfahrenden Fahrer einen Signalstab übergaben, den dieser bei seiner Ausfahrt wieder abgegeben musste. Ohne diesen Stab, welcher der Bahn bald den Namen „Knüppelbahn“ eintrug, durfte der Tunnel nicht passiert werden. 1932 musste der Betrieb wegen Baufälligkeit des Stollens eingestellt werden, der Abschnitt auf der Stralauer Seite diente während des Zweiten Weltkriegs noch als provisorischer Luftschutzraum, 1948 erfolgte die Flutung des Tunnels, um einen Einsturz zu verhindern, zwanzig Jahre später wurde die Zufahrt auf der Stralauer Seite zugeschüttet – ein unauffälliger, rasenbewachsener Mittelstreifen auf der Tunnelstraße zeichnet heute die Umrisse der einstigen Rampe nach.

Alter Spreetunnel
Zugeschüttete Rampe des Spreetunnels
Thalia Schule
Thalia-Schule

Folgt man der Tunnelstraße in nördlicher Richtung heißt sie nach einer Linkskurve Alt-Stralau. Hier entdeckt man rechterhand ein Schulgebäude, dessen Errichtung Ende des 19. Jahrhunderts notwendig geworden war, weil im Zuge der Industrialisierung Stralaus mit der Zahl der Anwohner auch die der Kinder gestiegen war. 1928 erhielt die Schule einen Turnhallenanbau, der aufgrund seiner markanten Dreiecksformen, mit denen insbesondere die Brüstung der für Freiluftgymnastik vorgesehenen Dachterrasse betont wird, als anspruchsvolles Zeugnis expressionistischer Architektur in Berlin gilt. Etwa 300 Meter weiter gibt ein kleiner Platz auf der linken Seite den Blick zur Spree frei. Hier wurden 1964 zwei von Hans Kies geschaffene Reliefstelen aus rotem Sandstein aufgestellt. Die eine zeigt den Kapitalismuskritiker Karl Marx sowohl im Seitenprofil als auch in einer Gartenszene, in der er Lokalbesuchern den Kommunismus erklärt. Marx wohnte 1837 in Alt-Stralau, nur wenige Meter vom Ort der Erinnerungsstätte entfernt. Hier, vor den Toren der Stadt, soll der gesundheitlich angeschlagene Student die Erholung gefunden haben, die er zur Fortführung seiner Arbeit benötigte. Im zweiten Relief ist die 11. Feuerbach-These von Marx eingemeißelt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Die Rückseite zeigt Glasarbeiter, die aktive Vertreter der Lehren von Marx und Engels gewesen sind, und von hier aus 1901 den deutschlandweiten Generalstreik der Buddelmaker initiiert haben.

Stralauer Glashütte
Altes Werkstattgebäude der Stralauer Glashütte
Flaschenturm Stralau
Flaschenturm der Engelhardt-Brauerei

Um die Jahrhundertwende war die Stralauer Glashütte der größte Industriebetrieb der Halbinsel. Erhalten ist das alte Werkstattgebäude in der Glasbläserallee. Der 100 Jahre alte zweigeschossige Eisenfachwerkbau aus roten Ziegeln erhielt im Zuge der Umgestaltung zu einem Wohnhaus eine zusätzliche Etage, deren moderner, zurückgenommener Stil die historische Bausubstanz angemessen würdigt. Noch behutsamer wurde der 1930 nach Entwürfen von Bruno Buch errichtete Flaschenturm der Engelhardt-Brauerei modernisiert. Einst wurden hier 300.000 Bierflaschen täglich abgefüllt, später diente der Klinkerbau als Brennerei für Spirituosen, als Produktionsstandort von Kaffee-Edellikör und als Ausbildungsbrauerei in Ostberlin. Hier wurde 1972 das Autofahrerbier (AUBI) erfunden, das einzige in der DDR gebraute alkoholfreie Bier.

Heute beherbergt das Gebäude 99 Wohneinheiten. Luxuriöses Wohneigentum entsteht derzeit auch in den Überresten der ältesten Industrieanlage der Halbinsel: 1865, wenige Jahre bevor die Ringbahn gebaut wurde, gründete Michael Protzen am südwestlichen Anfang der Landzunge die nach ihm benannte Teppichfabrik, womit er den Strukturwandel vom Fischerdorf und Ausflugsziel zum Industriestandort einläutete. Neben einer Druckerei und Weberei besaß die Fabrik eine Färberei für Garne und eine mechanische Werkstatt mit Schlosserei zum eigenständigen Bau von Maschinen. Von der ehemals viel größeren Anlage haben sich ein fünfstöckiger Fabrikbau sowie die Fabrikantenvilla mit der zugehörigen Remise erhalten. Wenn hier in ein bis zwei Jahren die neuen Besitzer einziehen, wird der Bauboom in Stralau noch lange kein Ende gefunden haben. Gerade auf den ehemaligen von der Industrie genutzten Flächen unweit der Ringbahn entdeckt man noch attraktive Brachen, die sicher längst als Baugrund ausgewiesen sind.

Schade ist, dass eine gastronomische Infrastruktur fehlt. Gab es vor 150 Jahren noch mehr als 20 Ausflugsgaststätten in Stralau, existiert heute keine einzige. So empfiehlt es sich, alles für ein kleines Picknick mitzunehmen. Im besten Fall flaniert man, vom Bahnhof Ostkreuz kommend, am Nordufer der Halbinsel entlang und macht es sich auf der Wiese an der Stralauer Spitze gemütlich. Nach einer Stärkung mit Blick auf die Spree oder die Rummelsburger Bucht mit der Liebesinsel und dem Kratzbruch, verweilt man ein bisschen auf dem Dorfkirchhof, spaziert anschließend Alt-Stralau entlang, verliert sich ein bisschen in den dichter bebauten Querstraßen, bevor man an der einstigen Teppichfabrik vorbei über die Parkwegbrücke zum Bahnhof Treptower Park gelangt, um von dort wieder „in die Stadt“ zu fahren.

Spreeblick
Blick von der Stralauer Spitze über die Spree

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Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

Die Kulturfritzen