Gesellschaft

Diese Demokratie muss verteidigt werden

Düzen Tekkal Titelstory

Im Gespräch mit der Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal

Düzen Tekkal ist Gründerin der Bildungsorganisation GermanDream, die sich für demokratische Werte und gegenseitiges Verständnis einsetzt, sowie Vorsitzende und Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help e.V. Die Journalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin und Menschenrechtsaktivistin setzt sich vehement für die Menschenrechte ein. HÁWAR.help hat sich vor allem Bildungs- und Aufklärungsprogramme in Irak, Afghanistan und Deutschland auf die Fahnen geschrieben. Die Organisation bringt mit verschiedenen Bildungsprojekten Menschen miteinander ins Gespräch und eröffnet Räume für einen Austausch auf Augenhöhe. Wertebotschafterinnen und -botschafter von GermanDream sind bundesweit an Schulen unterwegs, um gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern Wertedialoge zu führen mit dem Ziel, das Demokratieverständnis junger Menschen zu fördern und sie nachhaltig zu empowern.

mein/4: Warum wurden Sie zur Aktivistin?

Düzen Tekkal: Im August 2014 verübte der sogenannte Islamische Staat einen Völkermord in Irak an meiner Religionsgemeinschaft, den Jesiden. Ich reiste dorthin, um zu berichten und zu dokumentieren. Aber es reichte mir nicht mehr, nur Journalistin zu sein. Ich wollte Gerechtigkeit und Sichtbarkeit. Denn für den Völkermord an uns interessierte sich die Welt nicht. Ich bin angetrieben von Wut und gleichzeitig von Liebe. Und ich glaube, wir leben in Zeiten, wo es um alles geht. Diese Whatever-it-takes-Mentalität sind wir in Europa und Deutschland noch nicht gewohnt. Was meine kurdisch-jesidische Identität angeht, war für mich immer sehr klar, wer ich bin, wo ich hinwill, aber auch, wie ich nicht leben will. Das war nie nur individuell gemeint, sondern es war auch immer ein Wir. Letztlich war das ein innerer Ruf nach einer Gesellschaft, die für so viele Menschen wie möglich zuträglich und lebbar ist.

mein/4: Bei dem Ton, der einem zurzeit entgegenschlägt, bei den ganzen Beleidigungen braucht es umso mehr Mut, sich hinzustellen und zu sagen: Dafür stehe ich, das kritisiere ich. Was macht das mit Ihnen?

Düzen Tekkal: Es ist nicht einfach und man steht oft allein da. Aber tatsächlich ist es wichtig zu wissen, dass meine Schwestern, meine Eltern, ich, aber auch unsere Vorfahren ein Trainingslager von Leben und Tod durchlaufen haben. Auch wenn das jetzt martialisch klingt. Die Verfolgung meiner Religionsgruppe hat ja schon vor meiner Geburt begonnen. Frieden und Sicherheit gab es nie. Diese Instabilität, die viele überfordert, auf dieser Asche haben wir Leben gebaut. Da geht es gar nicht um mich persönlich, weil ich bin in Frieden geboren in Hannover-Linden, idyllischer kann‘s nicht sein. Aber zu glauben, dass unsere heile Welt dort nicht bedroht worden wäre, war im Grunde genommen der Irrtum auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Das, was ich immer sichtbar und hörbar machen wollte, war: Wir mussten aus unseren Herkunftsregionen fliehen, weil wir dort Unterdrückung erfahren haben. Wir sind vor unseren Tätern geflohen. Und wir sind auch hier von allen Seiten bedroht. Es war nicht nur die Tatsache, dass ich eine Frau mit sichtbarer Migrationsgeschichte bin und damit auch von Rassismus betroffen bin, wie jeder, der sichtbare Migrationsgeschichte hat. Die größten Kämpfe musste ich gegen Menschen mit Migrationshintergrund kämpfen. Dass es Rassismus und Feindschaft auch innerhalb migrantischer Communities gibt, das war absolut tabuisiert.

Das, was ich immer sichtbar und hörbar machen wollte, war:
Wir mussten aus unseren Herkunftsregionen fliehen,
weil wir dort Unterdrückung erfahren haben.

Bei uns geht es ans Eingemachte, bei uns geht es um alles. Daher kommt auch diese Wut, die ich meine, auch die der Abgrenzung und des Selbstbewusstseins. Aber auch, wenn man sieht, dass man nicht allein ist mit solchen Kämpfen. Dass es vielen Menschen so geht. Dann weiß man, man muss auf einer anderen Ebene ansetzen, um Veränderung herbeizuführen. Wir leben die Werte. Und an denen kann man sich natürlich auch reiben und stören. Ich liebe den guten Streit. Aber das, was wir gegenwärtig erleben, ist das Gegenteil. Alle tun so wahnsinnig politisch. Aber es ist aus meiner Sicht ein Entpolitisierungsprozess. Es ist ein Sektierertum, es ist eine Feindmarkierung, es ist eine Dehumanisierung, eine Zerstörenergie, die von Menschen kommt, die sich moralisch erhaben fühlen, weil sie sich auf der vermeintlich richtigen Seite wähnen, aber unmoralisch handeln.

mein/4: Und das gilt für beide Seiten?

Düzen Tekkal: Ganz genau. Dass wir mit Rechtsextremismus ein Problem haben, muss uns keiner sagen. Aber stellen wir uns mal selbstkritisch die Frage: Was haben wir denn dagegen getan? In den letzten Monaten habe ich da wenig gesehen. Den Leuten, die sich an kurdisch-jesidischen Frauen abkämpfen und uns so zur Zielscheibe von Islamisten machen, denen möchte ich zurufen: Was habt ihr eigentlich gegen Rechtsextremismus getan? Glaubt ihr wirklich, dass wir die richtige Zielscheibe waren, um sich an uns abzuarbeiten, weil wir in Nuancen anders denken als ihr? Ich denke, dass der 7. Oktober das massiv verschärft hat und manche es nicht wahrhaben wollen, dass man das palästinensische Leid und das israelische Leid parallel benennen kann oder sogar muss.

mein/4: Manchmal scheint 1945 so weit weg, und das, was gerade passiert, tut weh und lähmt zugleich. Welche Verantwortung tragen wir?

Düzen Tekkal: Ich kann Ihren Weltschmerz verstehen. Aber wir sind die Letzten, die sich den erlauben dürfen, weil wir im Gegensatz zur Situation unter einem Unrechtsregime noch die Möglichkeit haben, von unserer Sprache Gebrauch zu machen. Das schockiert mich immer wieder: diese Lähmung und diese Schweigespirale, die wir uns selbst auferlegt haben, weil wir überhaupt nicht mehr konfliktfähig und in der Lage sind, Widerstand auszuhalten. Und das ist das, was ich unter einer resilienten Gesellschaft verstehe.

Die Mentalität, den Kopf in den Sand zu stecken nach dem Motto
„Hauptsache, ich nicht“,
die wird den Menschen böse zu stehen kommen.

Ich bin entsetzt über Aussagen, die zum Teil auch von Menschen mit migrantischen Wurzeln kamen, die lauten: „Ich bin für die Shoah nicht verantwortlich, weil ich nicht schuld bin.“ Da haben wir dringend Geschichtsunterricht nötig! Und zwar einen, den wir internalisieren müssen. Ich bin der Meinung, dass die Shoah – dieses unsagbare Menschheitsverbrechen in unserer Geschichte – uns für das „Nie wieder!“ sensibilisieren soll. Selbstverständlich fühle auch ich mich als Kurdin und Jesidin, deren Großeltern nicht unmittelbar verantwortlich waren als Täter der Shoah, verantwortlich für das „Nie wieder!“. Ich würde mir wünschen, dass in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland, wo jeder Vierte eine Einwanderungsgeschichte hat, jeder diese Verantwortung annimmt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es da blinde Flecken gibt. Wir leben in Zeiten des Geschichtsrevisionismus, wo nivelliert wird, dass es passiert ist – und Ähnliches wieder passieren kann.

Wenn ich etwas zu sagen hätte in diesem Land, würde ich den Besuch der KZ-Gedenkstätten verpflichtend machen, um die Erinnerungs- und Gedächtniskultur zu bewahren, mit der wir noch groß werden durften! Dass jeder Zweite antisemitische Vorurteile hat, muss uns doch alarmieren! Der Antisemitismus ist nicht das Problem der Juden, es ist ein Problem der ganzen Gesellschaft. Ich glaube, dass Minderheiten – wie etwa Juden, Jesiden oder etwa die Bahá‘í in Iran – der Seismograf in Gesellschaften sind. Wenn wir angegriffen werden, ist das kein gutes Zeichen. Am Ende geht es um alle.

Diese Mentalität, den Kopf in den Sand zu stecken nach dem Motto „Hauptsache, ich nicht“, die wird den Menschen böse zu stehen kommen. Wir leben in einer Zeit, wo wir uns – und dann wird es dunkel – für die Solidarität, den Beistand und die Liebe zueinander rechtfertigen müssen. Das ist gefährlich. Der Internetterrorist – Singular – ist nicht das Problem, sondern wie viele Leute da mitlaufen. Also diese faschistoiden Tendenzen, dass man sich blind einer Autorität unterordnet, die einem verspricht, dass man am Ende zu den Gewinnern gehört, wenn man jetzt mitmacht. Wie alles begann, liegt klar auf der Hand. Dass wir trotzdem wieder so weit sind, zeigt, wie viel wir zu tun haben.

mein/4: Wie erreicht man die Menschen? Mein Eindruck ist, alle sind so müde, so satt und kraftlos.

Düzen Tekkal: Indem wir sie berühren. Ich bin davon überzeugt, dass wir selber berührt sein müssen, um zu berühren. Und indem wir auch dafür sensibilisieren, was auf dem Spiel steht. Denn es ist unterlassene Hilfeleistung, satt und müde zu sein. Diese Demokratie muss verteidigt werden. Die können wir doch nicht den Radikalinskis überlassen. Es muss wieder rausgehen aus diesen sozialen oder nicht sozialen Räumen in die reale Welt. Die positive Macht der Begegnung halte ich für imminent wichtig, und die ist uns ein bisschen abhandengekommen. Dieser Respekt entsteht, indem wir uns in die Augen gucken.

Wenn angefangen wird, Sympathiewerte für die AfD zu entwickeln,
weil die sich besser verkaufen als andere Parteien,
dann haben wir ein Problem.

mein/4: Was wünschen Sie sich von der Presse? Sie sprechen davon, Begegnungen zu schaffen: Wo und wie kann man solche Räume schaffen und damit gegen die Geschwindigkeit und die Macht der sozialen Medien ankommen?

Düzen Tekkal: Ich beobachte eine Sehnsucht nach Fakten und gutem Journalismus. Und ich glaube, dass die Arbeit von Medienvertretern wichtiger ist denn je. Jeder Journalist da draußen merkt ja gerade, was er dafür alles riskiert, weil diese Fakten in Zeiten von Fake News infrage gestellt werden. Wir haben es mit mächtigen Gegnern zu tun. Es ist schier unmöglich dagegenzuhalten, wenn beispielsweise Unrechtsregime wie Russland ein riesengroßes Interesse daran haben, uns aufzuwiegeln. Gerade vor dem Hintergrund des Trumpismus, der uns gerade erreicht, wird es höchste Zeit, dass Europa anfängt, seine Hausaufgaben zu machen. Dazu gehören eigene Infrastrukturen, Social-Media-Netzwerke, die verantwortungsvoller agieren. Wo sind denn die Innovationen und Investitionen? Die Menschen sind bereit, die haben keine Lust mehr, sich anschreien zu lassen. Es gibt viele Vernunftbegabte, die das Spiel durchschauen, aber die sind natürlich leiser. Und die, die laut geworden sind und davon profitieren, vermitteln das Gefühl, dass sie in der Mehrheit sind. Dabei sind sie eine schreiende Minderheit, die aber ganz schön viel durcheinanderbringt. Wir müssen uns Gedanken machen, gerade auch, was künftige Generationen angeht. Wenn angefangen wird, Sympathiewerte für die AfD zu entwickeln, weil die sich besser verkaufen als andere Parteien, dann haben wir ein Problem. Und dann können wir nicht immer nur der AfD die Schuld dafür geben. Was sind denn unsere Antworten? Wo wollen wir hin? Wo ist unser gemeinsames Narrativ?

Jeder, der es wagt, eine Möglichkeit zu bauen, wird daran gehindert. Und du brauchst wahnsinnig viel Widerstandskraft, um dagegenzuhalten. Was wir uns als zivilgesellschaftliche Akteure auch wünschen würden, ist Solidarität, dass man versteht: Hier geht es um uns alle. Wir sind eine wichtige Verteidigungslinie. Die Leute, die versuchen, uns zu Fall zu bringen, bringen aus meiner Sicht damit auch ein Stück Deutschland zu Fall.

mein/4: Warum sind so viele Rechte auf dem Vormarsch? Warum wurde Trump das zweite Mal gewählt? Was für eine Sehnsucht steckt dahinter?

Düzen Tekkal: Das sind diese Überforderungslähmungen. Das ist diese Welt in den Polykrisen. Aber es geht auch handfest um die Schaffung von Hierarchien und Machtgefällen: Du bist weniger wert als ich. In Krisen denkt jeder zuerst an sich selbst. Das kann man alles psychologisch erklären, aber wir müssen uns auch an die eigene Nase fassen. Der Linksextremismus führt auch zu Rechtsextremismus, als Gegenbewegung. Die Menschen wollen, dass ihre Probleme gelöst werden. Das klappt aber nicht, wenn wir uns mit gesellschaftlich-kulturellen Nebenschauplätzen auseinandersetzen. Es geht auch um Sicherheit und Führung. Und es geht darum, dass Menschen das Gefühl haben wollen, mitgemeint zu sein. Es geht um ganz konkrete Probleme von Wohnungsnot, Bildungsnot, Existenzangst, Kriegsangst. Dafür möchten sie Antworten haben. Wir leben aber in einer Welt, in der Identitätspolitik betrieben wird und damit auch Abgrenzungserfahrungen sichtbar und hörbar gemacht werden, die Menschen stark verunsichern. Ich glaube schon, dass es auch um Vollzugsdefizite geht. Wir müssen unsere Themen wieder zurückholen. Ich brauche keine AfD, die mich über Islamismus aufklärt. Wir wissen das alles selber. Wir wissen, was es bedeutet, Opfer von Islamismus zu sein. Und die Muslime, die vor den Islamisten fliehen, die denken dasselbe wie wir. Iraner etwa, die vor der Islamischen Republik fliehen. Wer immer noch denkt, dass das eine Frage von Herkunft und Religion ist, hat nicht verstanden, was da passiert und worum es geht. Da hat eine Appeasement-Politik stattgefunden in den letzten Jahrzehnten, die uns in den Rücken gefallen ist.

Düzen Tekkal Schmuck

Wie kann es sein, dass wir Internetislamisten gewähren lassen? Was glauben wir denn, wo das endet, wenn diese Islamisten-Rabbit-Hole bei TikTok parallel zur AfD ständig ausgespielt wird? Dreimal dürfen Sie raten, was mittlerweile der wichtigste Wert ist für die Schüler in unseren Wertedialogen? Religion. Das möchte ich gar nicht kaputtreden, im Gegenteil, als identitätsstiftender Faktor ist das okay. Aber wenn Religion zur Verhaltensbestimmung wird, dann kriegen wir ein Problem in diesem Rechtsstaat. Auch da fehlt es an Einordnung und Aufklärung. Wir überzeugen die Jugendlichen nicht mehr für diesen Rechtsstaat, für den Schatz der Demokratie. Und natürlich waren wir da zu tolerant. Was hat es bei der Blauen Moschee in Hamburg für Diskussionen gegeben, bis die geschlossen worden ist? Was dort passiert ist, hat ja nichts mit Glauben zu tun. Das war Politik. Dafür ist Glauben zu wichtig. Aschaffenburg wiederum wurde als rassistisches Narrativ missbraucht. Wir sehen, die Opfer sind marokkanischstämmig, kurdischstämmig. Das Mädchen, das verletzt wurde, ist die Tochter von Kurden aus Syrien. Aber darüber redet keiner.

Wer immer noch denkt,
dass das eine Frage von Herkunft und Religion ist,
hat nicht verstanden, was da passiert
und worum es geht.

Was bei mir in Aschaffenburg in Erinnerung geblieben ist, ist das 12-jährige afghanische Mädchen, das auf die Bühne geht und sagt: „Jetzt denken alle, dass wir böse sind, weil ich auch Afghanin bin.“ Da müssen wir zuhören. Wir machen es uns zu einfach. Keiner hat Bock auf Rechtsextremisten und Islamisten, die unser Leben und unseren Zusammenhalt hier bedrohen. Und mir ist es völlig egal, wo die herkommen. Schwerverbrecher sind Schwerverbrecher, und die müssen dafür mit aller Härte des Rechtsstaats, nicht eines Rachestaats, verurteilt werden. Das haben wir nicht zu Genüge gemacht.

Tekkal Portrait

Und übrigens: Wir müssen dafür auch die Beamten entsprechend ausstatten. Wir haben tagtäglich mit den Sicherheitsbehörden zu tun, auch mit dem LKA beispielsweise, mit der Generalbundesanwaltschaft. Was hier für ein Job geleistet wird! Wie viele Islamisten drangenommen werden. Dass es hierzulande zum weltweit allerersten Prozess im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesiden gekommen ist – und weitere gerade vorbereitet werden. Das ist der Wahnsinn, das ist beispiellos. Aber die Beamten stoßen personell an ihre Grenzen. Es muss klar werden, dass im Kampf gegen Terror und für Sicherheit auch etwas investiert werden muss. Uns interessiert, was auf der Umsetzungsebene getan werden kann.

mein/4: Mit Ihrer Organisation setzen Sie auf Bildung als Schlüssel. Welche Schritte müsste man jetzt als Erstes tun? Wofür müsste der Staat Geld investieren?

Düzen Tekkal: Es geht um alles. Es geht um Medienkompetenz. Es geht darum, wie Kriegsbilder, die in Echtzeit in den Kinderzimmern landen, eingeordnet werden. Es geht um eine Besprechung des Nahostkonflikts, wo wir noch in den Achtzigern hängengeblieben sind. Es muss auf Kultusministerebene angefangen werden, über die Lehrpläne nachzudenken. Sind die noch aktuell genug? Wir müssen den Schülern und Schülerinnen auf Augenhöhe begegnen. Sie brauchen Role Models, sie brauchen Safe Spaces. Es ist so wichtig, in diesen Austausch zu gehen, Sicherheit zu vermitteln, da zu sein, junge Menschen an die Hand zu nehmen. Wir müssen in Bildung investieren! Das ist das Kapital unserer Gesellschaft.

Und genau deshalb machen wir bundesweit die Wertedialoge, zwei bis drei pro Schultag. Wir reden nicht nur, sondern wir schaffen Fakten. Wir haben das ins Leben gerufen, was uns in diesem Land gefehlt hat. Wir sind fest davon überzeugt, dass dieses Land, trotz der Situation, in der wir gegenwärtig stecken, ein Land der Chancen ist, dass wir an diese Schönheit erinnern müssen und Vorbilder brauchen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte.

mein/4: Ich habe gelesen, dass die wenigsten Jugendlichen in der Lage sind, Fakten zu checken.

Düzen Tekkal: Das hat sich alles verändert. Es gibt übrigens auch eine große Ablehnung gegen Journalismus und Medienberichterstattung. Die News werden sich woanders geholt. Deswegen ist es ja so gefährlich, was da passiert, auch mit TikTok, weil dann folgt man eben entsprechenden Personen. Meistens auch Menschen, die sehr viele Fake News verbreiten. Wir müssen auch beibringen, Fakten zu checken. Das bindet Ressourcen ohne Ende. Da müssen wir füreinander da sein, miteinander zusammenarbeiten und Vertrauen schaffen. Wir stellen auch Informationen zur Verfügung. Das heißt nicht, dass wir keine Fehler machen. Aber auch dann gilt es, sauber damit umzugehen und transparent zu sein. Diese Flut an Informationen, die uns erreicht, ist auch überfordernd. Aber es muss in den Kontext gesetzt werden.

Dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, ist eine Erfahrung, die ich als Kriegsberichterstatterin on the ground gemacht habe. Dafür muss man eine Sensibilität herstellen. Wir haben teilweise mit Schülerinnen und Schülern zu tun, die sagen, sie gucken die Tagesschau nicht. Warum nicht? Propaganda! Was guckt ihr denn? Al Jazeera. Das ist die Lebenswirklichkeit, mit der wir gerade zu tun haben. Und damit müssen wir umgehen lernen. Das dürfen wir nicht verurteilen, sondern wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir es schaffen, die Themen als Medienmacher attraktiver und zugänglicher zu machen? Wir verlangen etwas, auch von Lehrern, was sie gar nicht alleine schaffen. Deswegen bin ich davon überzeugt, dass es bundesweit diese Wertedialoge braucht. Eigentlich müsste das eine Regierungsaufgabe sein. Das überhaupt umzusetzen in der gegenwärtigen Gesellschaft ist für uns fast unmöglich, weil wir es nur noch mit Zerstörern zu tun haben. Das Gelingen muss wieder möglich werden. Denn es zu lassen, ist das Gefährlichste für unsere Gesellschaft. Es geht nur durch Vorleben, Vormachen, laut sein.

Angst entsteht durch Lähmung.
Angst entsteht bei mir immer durch das,
was ich nicht tue, nicht durch das,
was ich tue.

mein/4: Wie gehen Sie mit Angst um?

Düzen Tekkal: Indem ich in Bewegung bleibe. Angst entsteht durch Lähmung. Angst entsteht bei mir immer durch das, was ich nicht tue, nicht durch das, was ich tue. Ich möchte am Ende meines Lebens konfrontiert werden mit dem, was ich getan habe, egal, ob es richtig oder falsch war. Ich möchte mir aber nicht vorwerfen lasse, dass ich aus Angst etwas gelassen habe. Das ist die Frage des Lebens oder des Gelebtwerdens. Das sind auch die Grundsatzfragen, die wir uns als Gesellschaft wieder stellen müssen. Und ich will auch keine Angst haben. Nicht in Deutschland. Ich war in Syrien, ich war im Irak. Ich bin Chronistin des Völkermords geworden. Da gibt es genug Gründe, Angst zu haben. Aber wenn mir hier in Deutschland jemand Angst einreden will, der soll Angst vor mir haben, denn ich habe ein Problem mit Angstmachern. Das sind diejenigen, die versuchen, unsere Räume enger zu machen. Da muss bei uns eigentlich eine Wut entstehen. Viele wollen ja im Moment mitmischen ohne Einsatz. Aber das ist der Einsatz, den man dann bringen muss, glaube ich.

Das ist auch ein ganz wichtiges Mantra unserer Menschenrechtsarbeit: die Menschen daran zu erinnern, wer sie sein können, wenn sie ihre Ängste überwinden. Dazu kann jeder etwas sagen. Das hat auch nichts mit Politik zu tun. Das ist etwas viel Tieferes. Da geht es um unseren inneren Lebenskern.

mein/4: Geben Sie uns einen Zukunftsausblick?

Düzen Tekkal: Ich hätte jetzt nicht gedacht, dass ich einen Kommunisten zitiere, aber das ist ehrlich gesagt das, was ich gerade fühle: „Unter dem Himmel herrscht großes Chaos. Die Situation ist exzellent.“ Das ist von Mao. Warum sage ich das? Wenn wir geschüttelt und gerüttelt werden, dann ist klar, jetzt wird reagiert. Bei uns war immer Ausnahmezustand, und da entwickelt sich Resilienz. Diesen Aufwachmoment gilt es jetzt zu nutzen. Wir müssen uns die Frage stellen, in was für einer Gesellschaft auch unsere Kinder künftig leben sollen und wollen. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder diesen Moment hat, wo er spürt: So geht es nicht mehr weiter. Und ich finde, das ist immer wieder ein sensationeller Moment, auch wenn er sehr schmerzhaft ist. Alles, was meine Schwestern und ich ins Leben gerufen haben, ist aus einem Mangel heraus entstanden, aus einer Wut, aus einem Frust. Diese Wut gilt es umzuwandeln in Kraft und Energie.

Wir müssen die Geschichte wieder ins Bewusstsein rücken. Ich denke an meine Freundin Margot Friedländer, die Holocaust-Überlebende. Diese Frau ist ein Geschenk für uns alle. Jede Begegnung mit ihr, jeder Satz, jedes Wort. Weil sie sich bis heute nicht hat vereinnahmen lassen. Das ist, als würde Gott zu einem sprechen.

Da kriege ich eine Gänsehaut, es geht ja darum, wer etwas sagt, mit welcher Geschichte. Wenn Margot auf der Asche dessen, was sie erlebt hat, sagt: „Seid Menschen!“ Wer sind wir denn zu hassen? Hassen ist so einfach. Das ist das einfachste Gefühl. Aber wollen wir uns damit zufriedengeben?

mein/4: Vielen Dank für das Gespräch

Infobox

Düzen Tekkal

GermanDream –
Wertedialoge auf Augenhöhe

www.germandream.de

Menschenrechtsorganisation
HÁWAR.help e. V.

www.hawar.help/de/

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