…für das Leben einstehen

Über die Profischwimmerin Elena Semechin

Elena Semechin gilt als Ausnahmesportlerin und ist der lebende Beweis dafür, dass man aus Schicksalsschlägen gestärkt hervorgehen kann. Die zweifache Paralympics-Goldmedaillengewinnerin und Weltmeisterin ist eine Kämpfernatur, sie ist offen und lebensfreudig. Ihre Geschichte ist eine Inspiration für alle, die mit Rückschlägen zu kämpfen haben. Sie gibt Mut durchzuhalten, an sich zu glauben und sich immer wieder aufzurichten.

Text: Silke Schuster

Geboren 1993 in Kasachstan, wurde bei der siebenjährigen Elena Morbus Stargardt diagnostiziert, eine genetisch bedingte Makuladegeneration, für die es noch keine Therapie gibt. Inzwischen lebt sie mit einer Sehfähigkeit von zwei Prozent. Je höher die Kontraste und je deutlicher die Farben sind, desto besser kann sie sich orientieren. Andere Menschen nimmt sie über deren Stimmen und Gerüche wahr.

2004 kam Elena Semechin mit ihrer Familie über Russland nach Deutschland. Mit 13 Jahren begann sie zu schwimmen. Seit 2015 trainiert die gelernte Physiotherapeutin in Berlin und schwimmt einen Sieg nach dem anderen ein.

Charakterstarke Kämpfernatur

Elena Semechin sagt von sich selbst, schon als Kind sehr charakterstark und stur gewesen zu sein. „Ich hatte meinen Willen und ein starkes Durchsetzungsvermögen. Aber das konnte ich gar nicht so richtig ausleben, weil, wenn man als Kind mit einer Behinderung in der Sowjetunion aufwächst, wird man ausgegrenzt. Es wird einem vermittelt, dass man nicht in die Gesellschaft gehört. Als Kind und jugendliche Heranwachsende wurde ich immer unterschätzt.“ Diese Erfahrung hat ihren Kampfgeist beflügelt.

Im Schwimmsport entdeckte Elena Semechin mit 13 Jahren die Chance, ihr Leben aktiv zu gestalten, sich selbst zu verwirklichen und die Welt zu entdecken. „Damit konnte ich zeigen, dass ich eben doch in die Gesellschaft reinpasse und vielleicht sogar ein Vorbild für andere Menschen sein kann, trotz meiner Behinderung.“ Mit eiserner Disziplin schwamm sie sich in die Riege der Weltrangbesten. Doch trotz ihrer Schwimmerfolge ist sie nicht gern im Wasser. „Ich freue mich mehr über die Trainingserfolge und über die Herausforderung im Wasser“, sagt sie. „Aber nicht unbedingt, weil ich ins Wasser springen muss. Hätte ich die Herausforderung irgendwo an Land, wäre es für mich genauso gut.“

Niederlage und Schicksal – Umgang mit den schweren Zeiten des Lebens

2016 trat Elena Semechin bei den Paralympischen Spielen in Rio als Favoritin an und wurde Fünfplatzierte. „Das war eine große Niederlage für mich“, gibt die Sportlerin zu, „ich hatte den Weltrekord, es war klar, dass ich gewinnen würde – und dann bin ich gescheitert.“ Sie war zwar topfit, aber mental nicht bereit für diesen Wettkampf.

Semechin Goldmedaille

Doch anstatt sich runterziehen zu lassen, ist sie daran gewachsen und heute sogar froh über diese Erfahrung: „Im Nachhinein bin ich sehr dankbar, dass ich an diesem Tag auf der größten sportlichen Bühne so versagt habe, weil ich unfassbar viel dazugelernt habe.“ Kontinuierliches Training ist das eine, die mentale Vorbereitung auf den Moment, Leistung abzurufen, ist das andere. Ihr Trainer war immer ihr erster Ansprechpartner, mit einer Sportpsychologin erarbeitet sie zusätzlich Strategien für mentale Stärke. In dieser Arbeit kommen Schwachpunkte ehrlich zur Sprache. „Es erfordert Mut, diese erste Hürde zu überspringen und über ein Problem zu sprechen. Das war auch bei meiner Sehbehinderung der Fall. Ich wollte das lange nicht akzeptieren für mich. Das ging erst mit Anfang, Mitte 20. So lange habe ich versucht, das zu verstecken oder zu verdrängen.“

Kurz nach ihrem Paralympiasieg in Tokio 2020 bekam Elena Semechin die Diagnose Hirntumor. Dieser lag nah am Sprach- und Motivationszentrum. Der Schock war groß, die Angst vor einer Persönlichkeitsveränderung noch größer, aber der Lebenswille war unaufhaltsam: „Ich wollte mein Leben genauso weiterleben wie vor dem Krebs. Für mich war von Anfang an klar: Ich werde dagegen ankämpfen.“

Direkt nach ihrer Gehirn-OP setzte sich die Profisportlerin ein nach außen unrealistisch anmutendes Ziel: Sie wollte nach der Rekonvaleszenz schneller schwimmen als jemals zuvor. „Und das zu einem Zeitpunkt, wo noch keiner wusste, ob ich überhaupt wieder würde schwimmen können. Für mich war ganz klar, wenn ich mir dieses Ziel setze, dann wird mich das antreiben. Ich finde, wir dürfen größer denken.“ So hielt sie während der
Chemotherapie an ihrem Training fest, um zu ihrer gewohnten Routine zurückzukehren. Zwar trainierte sie mit verminderter Intensität, doch allein die Bewegung und die Routine gaben ihr Kraft und Zuversicht, die ganze Therapie durchzustehen. Sie wollte nicht zu Hause liegen und sich die schlimmsten Szenarien vorstellen. „Irgendwann malt man sonst den Teufel an die Wand.“ Manchmal dehnte sie sich nur am Beckenrand. Auch wenn das Training nicht ihrem ursprünglichen Pensum entsprach, war es für ihre Psyche enorm wichtig. „Komplett mit dem Training aufzuhören, hätte mich mental gebrochen. Das sage ich auch bei meinen Vorträgen: Es ist sehr, sehr wichtig, wenn man einen Schicksalsschlag oder eine Erkrankung hatte, dass man so schnell wie möglich zu seiner gewohnten Routine zurückfindet.“ Ihr eiserner Wille zahlte sich aus: Sie schaffte es, nach ihrer Krebsbehandlung nicht nur zurückzukommen, sondern sogar schneller zu schwimmen als jemals zuvor.

Trauerphasen gehören bei Schicksalsschlägen dazu. Und doch liegt es in unserer eigenen Hand, wie wir damit umgehen. Der Schwimmerin geht es um Dankbarkeit und die positiven Gedanken, die man sich selbst mit kleinsten Dingen im Alltag verschaffen kann – auch wenn es manchmal wirklich schwer ist. Wenn am Tag nach der tiefsten Dunkelheit ein Funken Hoffnung aufglimmt, sollte man ihn sich zunutze machen, um sich Stück für Stück aus der schweren Phase rauszuziehen.

Ihre Erkrankung und die damit verbundenen Erlebnisse haben sie geprägt, der Sport gibt ihr grundsätzlich Kraft: „Man lernt einfach extrem viel über sich selbst, und das prägt natürlich den Charakter. Dieses Durchhaltevermögen, das man auch bei so einer langen Nachbehandlung braucht, habe ich vor allem aus dem Sport. Nicht aufzugeben, sich zu quälen, harte Zeiten durchzustehen, das kennt man als Profisportler. Davon habe ich sehr gezehrt. Meine größte Stütze waren natürlich mein Mann und meine Familie, die für mich da waren.“ All das habe ihr geholfen, so gut mit dem Krebs klarzukommen. Doch so einfach, wie es klingen mag, war es auch für sie nicht. „Ich habe wirklich Angst gehabt“, schaut sie zurück auf die Zeit der Diagnose und Chemotherapie, „und habe gelitten. Aber ich hatte diese Dankbarkeit für mein Leben, dass ich es so führen konnte, wie ich es bis dahin getan hatte. Und das wollte ich nicht aufgeben. Diese Dankbarkeit hat mich am Leben gehalten.“

Motivation und Ziele

Ihre sportlichen Ziele hat die Schwimmerin bereits alle erreicht. Sie gewann unter anderem zwölf Goldmedaillen, darunter zweimal paralympisches Gold. Vielleicht tritt sie bei LA 2028 an. „Warum nicht? Mir macht es schon noch Spaß, als Sportlerin aktiv zu sein. Und ich mag diesen Lebensstil. Aber ich möchte mich jetzt auch ein bisschen mehr auf mein Privatleben konzentrieren. Eine eigene Familie wäre schön.“

Profischwimmerin Semechin

Elena Semechin ist nicht nur erfolgreiche Leistungssportlerin, sondern auch gefragte Motivationsrednerin mit eigener Sport- und Marketingagentur. Für Menschen, die schwere Krankheitsphasen durchmachen, hat sie eine besondere Vision: Sie möchte gemeinsam mit Ärzten und Trainern eine Art „Comeback-Projekt“ ins Leben rufen, das Betroffenen nach einer Chemotherapie hilft, schnell wieder in den Alltag zurückzufinden. „Ich habe selbst erlebt, wie positiv sich Sport und Bewegung auf den Körper auswirken. Ich möchte anderen helfen, genauso stark zurückzukommen.“ Dieses Projekt stellt sie sich als Höhentrainingslager vor, in dem sie selbst sich schnell regenerieren konnte. „Ich habe die Erfahrung gemacht, wie wahnsinnig schnell sich dort meine Blutwerte reguliert haben und sich mein ganzes System erholt hat.“

In der Zukunft möchte sie ihre Vortragsarbeit für Unternehmen weiter ausbauen und noch mehr Menschen dazu motivieren und inspirieren, an ihrer mentalen Stärke zu arbeiten. „Es ist mir wichtig, den Menschen zu sagen: Man ist immer selbst der Herrscher über seine Gedanken. Umso schneller du anfängst, wieder positive Gedanken in dir zu wecken, umso schneller kommst du aus einer schwierigen Situation heraus.“ Das bedeutet keineswegs, dass es einem nicht mal schlecht gehen darf. Sie selbst ist nach ihrer Diagnose und während der Behandlung durch tiefe Täler gegangen. Und doch hat sie sich immer wieder aufgerappelt und ist lösungsorientiert geblieben. „Manchmal muss man sich zu seinem Glück zwingen“, ist sie überzeugt.

Disziplin, Ehrgeiz und ein bisschen „Größenwahnsinn“

Zehn Jahre lang trainierte Elena Semechin hart auf ihr Ziel hin. Innerhalb ihrer Familie ist sie das „harte Eisen“ und die sportlichste Person. „Ich falle schon auf mit meinem Charakter“, schmunzelt sie. Ihre drei Geschwister seien alle deutlich ruhiger als sie selbst. „In meiner Familie macht sonst niemand Sport oder bewegt sich in der Öffentlichkeit.“ Sie versucht, mit ihrer Lösungsorientiertheit und Zuversicht auch positiv auf ihre Familie und ihre Freunde einzuwirken.

Die Sportlerin reist gern und findet im Urlaub Ausgleich – aber auch unterwegs darf eine Portion Aktivität für sie nie fehlen. „Ich liebe Hörbücher und kann dann auch mal nichts machen. Aber schnell kommt der Gedanke, ich könnte jetzt mal ein paar Liegestütze machen, um fit zu bleiben. Ich werde dann einfach unruhig und muss mich bewegen, um diese Energie loszuwerden.“

Elena Semechin liebt es, groß zu träumen. Sie selbst nennt es „Größenwahnsinn“: „Ich bin totaler Fan davon, sich aktiv in diese Fantasien zu begeben und davon zu träumen, ganz nach oben zu kommen und dieses Gefühl zu spüren: Wie ist es, wenn ich diese Challenge wirklich schaffe und gewinne? Weil genau das treibt dich doch an! Und genau das ist der Größenwahnsinn, den ich meine.“

Infobox

Elena Semechin

www.semechin.com

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