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Quo vadis Europa?

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Ein Kommentar von Kerstin Müller

Die Europäer hatten ihren Wake-up-call-Moment am 28. Februar dieses Jahres. Nicht etwa an einem der vielen berühmten Orte Europas wie Paris, Berlin, Brüssel oder Warschau. Nein – er fand im Oval Office in Washington statt.

Der ukrainische Präsident Selenskyj war zum Antrittsbesuch zu Trump nach Washington gereist. Dass es nicht einfach werden würde, war spätestens nach dem Telefonat Trumps mit Putin am 12. Februar klar – „We have a common sense. We want to end the war immediately“, hatte Trump die Partner über das Gespräch via Social Media wissen lassen. Im Oval Office ging Trump noch einen Schritt weiter. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit beschuldigten er und sein Vize JD Vance den ukrainischen Präsidenten, der eigentlich als Freund gekommen war, dass er schuld am Krieg sei und diesen sofort beenden solle. In beispielloser zynischer und arroganter Weise machten sie den Mann vor der Welt nieder, der sich seit mehr als drei Jahren mit seinem ganzen Volk mit allem, was ihm zur Verfügung steht, gegen den brutalen Angriffskrieg Putins zur Wehr setzt.

Bisher war klar gewesen, dass die demokratische Ukraine dabei nicht nur ihre eigene Souveränität verteidigt und dazu nach dem Völkerrecht wirklich „jedes Recht der Welt“ auf Selbstverteidigung hat, sondern dass die Ukraine gleichzeitig die internationale Rechtsordnung und damit vor allem auch die Werte unserer gesamten westlichen Welt – Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung, nationale Souveränität – verteidigt. Bisher war deshalb auch klar, dass nicht nur die EU, sondern auch der „große Bruder“, die USA, das ukrainische Volk in ihrem Überlebenskampf gegen den russischen Aggressor unterstützen. Aber mit der Inszenierung der Trump-Clique zur Demütigung Selenskyjs ist diese Gewissheit Geschichte. Nichts ist mehr so wie vorher. Ein unfassbarer Vorgang. „Der Westen ist beendet“, sagt der ehemalige Außenminister Joschka Fischer.

Europa ist nicht vorbereitet

Europa allein zu Haus. Und nun? Was bedeutet das? Europa ist darauf nicht vorbereitet. Zu lange und zu fest hatte man sich immer auf Amerika verlassen. Und auf die Stärke der NATO. Aber was bedeutet das für die NATO? Und für die sogenannte Beistandspflicht nach Art. 5 des NATO-Vertrages, nach der, wenn ein NATO-Staat angegriffen wird, die anderen diesem militärisch zur Seite stehen müssen? Aber Trump sind diese alten Verbündeten und Europa egal, eher lästig. Denn er will mit den Autokraten dieser Welt Geschäfte machen. Vor allem zum eigenen Nutzen und zum Nutzen seines eigenen Firmenimperiums und dem seiner „Buddies“ wie Elon Musk und der amerikanischen Öl- und Kohlelobby. Daher geht seine erste Reise auch an den Golf, um mit den Saudis und den Emiraten Rüstungsverträge zu schließen. Daher hat er auch Selenskyj zu einem Rohstoffdeal gezwungen, zum Nutzen amerikanischer, auch eigener Unternehmen, und zwar ohne dafür Sicherheitsgarantien abgeben zu wollen. Deshalb auch die Demütigungen. Der Krieg in der Ukraine ist ihm dabei im Weg. In der Überzeugung, dass diese internationalen „Geschäftspartner“ das ja auch so sehen müssten, glaubt er wahrscheinlich, er kann Putin von einem schnellen Ende des Krieges überzeugen.

Putins Großmachtstreben

Aber der ist anders gestrickt. Putin geht es nicht (nur) um Geschäfte. Putin hat eine Mission. Er will Russland wieder zu alter zaristischer und sowjetischer Größe verhelfen. Aus seiner Sicht war die Perestroika der größte historische Fehler. Putin hat einen ganzen Kult darum entwickelt, dass Russlands Grenzen „nirgendwo enden“, trägt ihn mit Ausstellungen und Veranstaltungen von Staat und Kirche durch das ganze Land. Nur wer Russland erweitert, ist in seinen Augen ein Held. Und er will sich in diese Ahnenreihe des Tausendjährigen Russischen Reiches stellen, der Zaren und des Diktators Stalin.

Putin will folglich keinen Frieden. Er wird sich auch nicht mit dem Osten der Ukraine und der Krim zufriedengeben, die Trump ihm schon mal, an Selenskyj vorbei, „en passant“ angeboten hatte. Nein – „Putin wird nicht stoppen, wenn seine Eroberungen erfolgreich waren – er wird mit den osteuropäischen Nachbarstaaten weitermachen“, sagt eine, die es wissen muss: Kaja Kallas, seit letztem Jahr die „Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission“ und zuvor Premierministerin Estlands. Ein Glücksfall für die EU in diesen Zeiten, wo der westliche Teil Europas, wie z. B. wir, immer noch zaudert und von besseren Zeiten träumt. Kaja Kallas stand schon als Premier auf der „Wanted-list“ des Kremls. Denn die Baltischen Staaten sind wahrscheinlich die Nächsten, wenn Putin mit der Ukraine „fertig ist“. Sie kämpft gemeinsam mit den anderen Osteuropäern daher seit Jahren in der EU dafür, dass diese sich endlich auf den Aggressor einstellt und wehrhaft wird, endlich aufrüstet und eine robuste Verteidigungspolitik entwickelt, die auch ohne die USA agieren kann. Leider ist die sogenannte ESVP, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bisher nicht viel mehr als ein Papiertiger. Denn wenn der Irre im Weißen Haus ernst macht und die Rüstungslieferungen an die Ukraine tatsächlich einstellt, wie kurzzeitig geschehen, könnten die Europäer diese zurzeit nicht ersetzen, selbst wenn sie wollten.

Für uns, für Europa wird das dramatisch. Viele werden es nicht gern hören: Wir Europäer müssen endlich lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.

Europa muss auf eigenen Beinen stehen

Das heißt auch: gemeinsam aufrüsten, uns koordinieren – vor allem alles geben, was möglich ist, „whatever it takes“, damit die Ukraine gegen Russland zumindest nicht verliert, d. h. auch ökonomisch, technologisch und finanziell alles in eine Waagschale werfen. Immerhin gab es jetzt einige Wake-up-Signale in Europa. Nach dem niederschmetternden Ereignis im Weißen Haus traf Selenskyj mit dem britischen Premier Starmer und mit Macron zusammen.

Am 9. Mai, an dem Tag, an dem Putin Seite an Seite mit dem chinesischen Machthaber den Krieg gegen die Ukraine 2025 in den historischen Kontext von 1945 stellte und damit signalisierte, dass er den Sieg über den Westen will – an diesem Tag trafen sich die EU-Außenminister in der Ukraine und forderten einen bedingungslosen Waffenstillstand unter Androhung weiterer Sanktionen. Putin hat natürlich nicht reagiert – aber das 17. Sanktionspaket der EU ist nun in Kraft, mit scharfen Maßnahmen gegen die russische Schattenflotte und Russlands Öl und Gas und mit 1,4 Milliarden Euro Investitionen in die ukrainische Verteidigungsindustrie.

Außerdem will die EU bis 2027 verbieten, dass überhaupt noch Gas nach Europa importiert wird. Auch in Deutschland hat der neue deutsche Bundeskanzler schon vor seiner Wahl mit Teilen der Opposition den Weg für größere Investitionen in den Verteidigungssektor und für eine höhere Verschuldung frei gemacht. Er will auch mit den Franzosen über das französische Atomprogramm und die nukleare Teilhabe sprechen. Spätestens hier wird den Leserinnen und Lesern mulmig, die, wie ich auch, noch in den Achtzigern gegen die NATO-Nachrüstung gekämpft haben. Ich hätte mir bis vor einiger Zeit nicht träumen lassen, dass ich einmal darüber nachdenke, dass gar eine eigene europäische nukleare Abschreckung nötig werden könnte und ob es daher keine schlechte Idee wäre, bei den Franzosen „Unterschlupf“ zu suchen.

Fest steht: Der Mann im Kreml bedroht mit seinem Krieg in der Ukraine täglich auch unsere Freiheit, unsere Demokratie und alles, was wir seit Kriegsende 1945 in Europa aufgebaut haben. Die Zukunft Europas wird also in der Ukraine entschieden – nirgendwo sonst.

Kerstin Müller Berlin

Kerstin Müller

Staatsministerin im Auswärtigen
Amt a.D. (2002-05)
MdB Bündnis 90/Die Grünen 1994-2013, davon u.a. 8 Jahre Fraktionsvorsitzende
Senior Associate Fellow der DGAP,
Kuratorium Aktion Deutschland hilft,
Beiratsmitglied von ELNET

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