Kolumne Wladimir Kaminer

30 Jahre Prenzlauer Berg – Von der Anarchie zum Bürgertum

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Ich kam im Juni 1990 aus der Akademiker-Pawlow-Straße in Moskau nach Prenzlauer Berg. Viele Häuser standen damals leer, ihre Bewohner verließen in Eile ihre Wohnungen. Sie gingen nach Westen, weil sie dachten, die Mauer würde bestimmt bald zurückkommen, die ganze Widervereinigung hielten sie für ein Missverständnis. Da haben die Russen wohl nicht aufgepasst, haben sich nicht eingemischt. Vielleicht hatten die Panzerfahrer der sowjetischen Armee, die in Deutschland stationiert waren, gerade keinen Sprit. Möglicherweise hatten sie ihre ganzen Dieselvorräte an die ostdeutschen Bauern verhökert.

© Foto: Vera Rüttimann

Ein Freund von mir aus den alten Zeiten, ein sowjetischer Panzerfahrer, der bei Neuruppin gedient hatte und nach der Wiedervereinigung politisches Asyl in Berlin beantragte, erzählt noch heute gerne, dass die Offiziere tatsächlich den Sprit in großen Mengen an die ostdeutsche Bevölkerung verkauften. Sie waren verunsichert, wussten nicht, was sie in der Heimat nach dem Abzug aus Deutschland erwartet und brauchten einen Notgroschen für die dunkle Zeit.

Die Sowjetunion steuerte schon damals eindeutig in Richtung Kapitalismus, der Kalte Krieg sollte endgültig beigelegt werden. Es war unklar, ob es für die Offiziere in dieser nebelreichen Zukunft überhaupt einen Platz geben würde. Also verkauften sie alles, was sie nicht mehr brauchten. Sie verkauften Baumaterialen, Heizkörper, Uniformen, Sprit – sie hätten wahrscheinlich auch den Panzer verkauft, wenn sie einen Abnehmer dafür gefunden hätten. Doch die Ostdeutschen waren gerade auf ihre friedliche Revolution so stolz, sie wollten keine Panzer haben, nur Sprit.

Mein Freund, der Panzerfahrer, hat später politisches Asyl bekommen, eine Umschulung gemacht und arbeitet nun bei Telekom. „Deutschland ist meine Heimat“, sagt er, „hier sind alle meine Träume in Erfüllung gegangen.“

Auf dem Weg hierher stellte ich mir Deutschland als ein geordnetes Land vor, diszipliniert und sauber, die Menschen kommen zum Bier zusammen, trinken nie zu spät, und die Straßenbahnen halten an jeder Haltestelle von allein an. „Wenn es zu langweilig wird, kann ich jederzeit weiter nach Frankreich oder nach Italien ziehen“, so dachte ich.

Doch Prenzlauer Berg entzückte mich mit seiner Anarchie. Ich atmete die Luft der Freiheit, es roch nach Marihuana und Stickstoffen, die bei der Verbrennung von Kohlebriketts entstehen. Diese besonders krass stinkenden Kohlebriketts, die sich Berliner zum Heizen aus den verwahrlosten, fremden Kellern in der Lychener Straße klauten, rieche ich noch heute manchmal, wenn ich nachts durch die Dörfer Brandenburgs fahre.

Die Einwohner der besetzten Häuser in der Dunckerstraße veranstalteten jede Woche Partys in den Hinterhöfen, man brauchte keine Genehmigung vom Gesundheitsamt, um Bier auf der Straße zu verkaufen, die Ausländer integrierten sich innerhalb von wenigen Tagen in das Leben des Bezirks. Die Vietnamesen verkauften enthusiastisch nicht verzollte Zigaretten unter der S-Bahn- Brücke und eröffneten die ersten chinesischen Restaurants. „Ente süß-sauer“ und „Grüner Jasmin-Tee mit Pflaumenschnaps“ auf der Schönhauser Allee waren die Renner.

Für die Ostdeutschen bedeutete das ein Durchbruch in die Welt der globalen Gastronomie. Früher dürften sie die Ente nur zu Weihnachten essen, auf einmal hatten sie Weihnachten jeden Tag und das zum Spottpreis von 9,90 DM! Böse Zungen munkelten allerdings, dass viele dieser preiswerten Enten in Wahrheit bloß Stadttauben waren.

Die Afrikaner aus Angola und Mozambik eröffneten die Tanzbars, dort konnte man tanzen und trinken lernen. Die Russen korrumpierten die Wohnungsgesellschaft in der Schwedter Straße, sie schmierten die Beamten und konnten mit einem WBS-Schein riesige Wohnungen zu Spottpreisen ergattern.

Die Kaufhalle in der Pappelallee wurde in Kaisers unbenannt und täglich mit Westwaren gefüllt, die Verkäuferinnen konnten sich nicht mehr merken, wie all die Käsesorten und Konfitüren hießen, sie sagten einfach „Ham wi nischt“, wenn man nach Unbekanntem verlangte.

Die Finanzierung des anarchischen Lebens war ebenfalls gut gesichert. Man musste einmal im Monat zum Sozialamt in die Fröbelstraße gehen und bekam ohne lange Gespräche 500 DM bar auf die Hand, manchmal kamen noch Extras für warme Kleidung und Kinobesuche dazu.

Vor den zahlreichen Telefonzellen standen die Russen, die Afrikaner und die Vietnamesen Schlange. Telefonieren mit der Heimat war umsonst, man brauchte dafür bloß eine Telefonangel: Die Einwurfmünze wurde an einer Angelschnur mit Klebeband befestigt, man musste sie vorsichtig hochziehen, jedes Mal, wenn das Telefon „Klick“ machte.

Die Menschen hatten viel zu erzählen, die Wartenden in der Schlange wurden ungeduldig, permanent beschimpften sie einander: „Hört auf zu quatschen, geht doch nach Angola zurück!“, hörte man, und „Gruß mir deinen Onkel Ho“. „Na, hat Gorbi aufgelegt?“, bekamen die Russen gesagt.

Die Ureinwohner schauten sich diesen Zirkus an und rieben sich ungläubig die Augen. Ihre kleine, gemütliche Welt löste sich wie ein Phantom auf. Der ganze Spaß hat ziemlich lange gedauert, bis sich das wiedervereinigte Deutschland zusammenraufte und anfing, Ordnung herzustellen.

Alle Menschen, die ohne richtige Papiere in den Häusern wohnten, bekamen ordentliche Mietverträge, die Mieten schnellten sofort in die Höhe, die Zigaretten wurden den Vietnamesen abgenommen und verzollt, die Telefonzellen abgebaut, die Enten in den chinesischen Restaurants nach ihrer Herkunft geprüft.

Die Sozialämter wurden in Jobcenters umgewandelt, man musste auf einmal jeden Monat dreißig Unterschriften von potenziellen Arbeitgebern sammeln, die einen nachweislich abgelehnt haben. Diese Regelung hat viele Existenzen zerstört, die Menschen mussten neue Lebensentwürfe entwickeln, viele sind tatsächlich studieren oder gar arbeiten gegangen. Einige von ihnen sind stur geblieben und versuchen noch immer, das bedingungslose Grundeinkommen durchzusetzen.

Deutschland hat zu seiner berühmten Ordnung wiedergefunden. Erst vor Kurzem wurde das letzte besetze Haus leergeräumt. Nur die Erinnerung an die Zeiten der Anarchie ist geblieben. ■

 

Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller, ist er hoffentlich bald wieder die meiste Zeit unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.
www.wladimirkaminer.de