Bärbel Stolz Kolumne

Bärbels ungebetener Ratschlag – Die Gedanken …

… sind frei – wer kann sie erraten?

Eine Kolumne von Bärbel Stolz

Neulich hatte ich eine Erkenntnis. Bei der Arbeit. Wir haben herumgeflachst und uns gegenseitig übertrumpft beim Witzig-, Anstößig- und Absurdsein. Auf einmal hab ich einen Satz heruntergeschluckt, der gerade noch so von meinem inneren Zensor erwischt worden ist. Ich hab mich selber ein kleines bisschen darüber amüsiert, war aber gleichzeitig abgestoßen von diesem meinem eigenen Gedanken. Gut, dass ich ihn nicht ausgesprochen habe. Obwohl meine Kollegen vielleicht gar nicht so schockiert gewesen wären, jeder innere Zensor ist anders geeicht. 

Da hatte ich die Erkenntnis: Keiner kann in meinen Kopf kucken. Zum Glück. Denn da sind nicht nur schöne Gedanken, menschenfreundliche, helle, gut riechende, wohlmeinende. Nee, das ist wie in einem Garten, wo neben den hübschen essbaren Kräutern die giftigen Pflanzen wuchern. Manche erkennst du gar nicht als giftig, die tarnen sich, sehen ganz harmlos aus und womöglich sogar hübsch oder einladend. Aber wehe du fällst drauf rein. Würgen, husten, verenden unter Krämpfen. Und ich schaue zu. 

Und schmeisse dich zu den ganz und gar fauligen Gedanken in die Jauchegrube. Die ist ganz versteckt, ganz geheim. Die kann ich selber nur ganz kurz öffnen, da wabert der giftige Gestank sofort hoch und vernebelt mir das Hirn. Und dann tu ich es vielleicht. Das, was sonst nur kurz zuckt in mir. Zum Beispiel neulich: Ich gehe am Bahnsteig entlang an all den vielen Menschen. Zu viele, selbst wenn nicht Pandemie wäre, ihr seid mir zu viele! Ich muss zu F, frag nicht, ich will da sein, ehe der Zug einfährt. Meine Sache. Geht nicht aus dem Weg, klar. Weißer hetero Cis-Mann, schätze ich. Gelobtes Vorurteil. Gelebtes Vorurteil. Zug kommt gleich. Boah! Schnell zu, die Gifthalde! 

Knallen wir alle mal durch, heftiger oder weniger? Innerlich oder nach außen? Unsere Gefühlskontrolliertheit ist wie eine Zeitbombe. Deswegen glotzen auch alle diesen Psychotrash. Squid Games oder so. Don´t ask me. 

Aber deine Gedanken schaffen deine Wirklichkeit … heißt es. Du ziehst das in dein Leben, worauf du deine Aufmerksamkeit lenkst. Energie folgt der Energie.

Mega. Nervig. Auch.

Willkommen in der Hölle oder was?

Für die Balance brauch ich doch diesen verdorbenen Schleim auch in mir oder nicht? Wohin damit? Release and reset. Kann man das so machen? Zum Beispiel einen feinen Krimi lesen, das ist homöopathisches Stinkkraut gegen Überzuckerung der Seele. Ich verachte mich nicht dafür. Nur euch. Haha. Kannste mir nicht verbieten, die Gedanken sind frei. Und mein Lächeln sitzt. 

Aber egal, ob vom Feuilleton gelobt oder verachtet, was uns interessiert sind die Brüche, verbeulte Seelen. Verstörend, womöglich abstoßend, aber auch faszinierend. 

Kennst du Kintsugi?

Das ist japanisch. Japanisch ist in: Sushi, Marie Kondo, Murakami. Bei den Japanern sind die Gefäße, die einmal zerbrochen waren, wertvoller. Sie werden mit Goldfassung geklebt, damit man den Riss nicht übersieht, der Makel wird zur Trophäe. Die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit. Das heißt Kintsugi.

„There’s a crack in everything

That’s how the light gets in“

Leonard Cohen wusste einfach Bescheid. Er hat das gesungen. Zehn Jahre hat er an dem Text geschrieben.

„Da ist ein Riss in allem

so kommt das Licht herein“

Habe ich Kintsugi? Wann bin ich so gefallen, dass ich geborsten bin? In meinen Augen genug. „Wie kann ich in immer noch kleinere Fetzen gerissen werden?“, stand mal in meinem Tagebuch. Ich will im Schauspielworkshop nicht über meine Traumata reden. Schmerz kannst du nicht messen.

Ich habe sie mit Goldstaub geklebt, meine Risse. 

Nur da – an dieser einen Ecke meines Herzens, da ist damals etwas abgeplatzt, das ich nicht wiedergefunden habe, ein Splitter. 

Ich bin nicht mehr ganz. Jetzt bin ich vollkommen.

Da ist mein Riss, da kommt das Licht hindurch. Und hier auch. Und hier.

Es ist nicht wichtig, ob du viele Risse hast oder nur wenige. Ob sie Krater sind oder feine Frakturen. Wichtig ist, dass du die Splitter zusammensetzt und das Gold darüberstreichst. Sonst bist du nur ein kaputtes Ding. Nach der Geburt sammle deine Verletzungen, setz dich den Stürmen aus und spring vom Rand der Klippen – du musst bersten, um vollkommen zu werden. Du musst dich aufsammeln, deine Splitter und Bruchstücke – du, niemand sonst. Und du musst sie zusammenfügen. Die Form bleibt mehr oder weniger gleich, und egal wie ungeschickt du dich anstellst: Wenn du dir zumindest Mühe gibst, ist das Ergebnis weniger plump als vorher.

Ich kleb dich nicht. Das könnte ich gar nicht. Das kann jeder nur selbst. Ich reiche dir den Goldstaub, wenn du dich an die Arbeit machst – und streich dir über den Rücken. Nur du kennst deine Cracks. 

Unsere Splitter und Scherben ähneln sich ja, es ist immer die Kälte oder das Brennen, das uns bersten lässt, die harten Kanten in der Tiefe, woran wir zerschellen. Das ist nichts Besonderes. Nur im Zusammensetzen kannst du individuell sein. Das machst DU.

Doch wenn du vor dem Scherbenhaufen stehst, scheint es manchmal unmöglich. Unmöglich, sich zu bücken, unmöglich, etwas aufzuheben. Lohnt es sich überhaupt? Hingeschmissene zersplitterte Tränen und Traumata sind nur jämmerlich. Kann daraus wieder irgendwas werden, gar etwas Schönes? 

Es kann dauern, ehe du dich zusammengepuzzelt hast. Lass dir die Zeit. Und lass dir auch helfen. Gemeinsames Puzzeln macht womöglich noch mehr Spaß.

Also bück dich und sammle und gib dir Mühe beim Kleben. Dann kommt ein Kunstwerk raus. 

Ich liebe es, solchen Kunstwerken zu begegnen! Wie Laternen am Sankt-Martins-Umzug leuchten sie durch das banale Dunkel. Wabi Sabi. Auch japanisch. Die Kunst, die Schönheit im Unperfekten zu sehen. 

Das Licht der Inspiration kommt auch nur durch den Riss, nicht in ein hermetisch abgeschlossenes System. Wäre ich ein Ei oder eine Schmetterlingspuppe, wäre ich eine vollkommene Einheit. Ein Meer, ein Ozean. Innerhalb meines kleinen beschränkten Panzers zwar, aber was weiß ich davon? Bis der Riss kommt. Von außen oder von innen.

Die Gedanken sind frei. Wenn sie frei fließen, können sie anstoßen. Zementierte Gedankengebäude sind dunkel – wir müssen uns erschüttern lassen, Risse bekommen, da kommt das Licht hindurch. Feste Glaubensgebäude brauchen Risse, das eröffnet neue Blickwinkel, Wege, auf denen wir uns treffen können, womöglich Trümmer, aus denen wir etwas ganz Neues aufbauen können. Dazu gehören dann auch die finsteren, die fiesen, die ekligen Gedanken, dafür musst du dich nicht schämen und davor nicht fürchten. „Sie schwirren um unsere Köpfe wie Vögel. Aber du kannst verhindern, dass sie Nester bauen.“ (frei nach Luther) 

Wenn du jemanden berührst, kannst du damit einen Riss verursachen, und die Berührung muss nicht gewalttätig sein. Im Gegenteil, Liebe kracht stärker als alles andere. Berührt werden heißt zum Schwingen gebracht werden – und durch Schwingungen können Risse entstehen in der Hülle.

Unsere Unvollkommenheit schafft Poesie und Eleganz. Wenn Licht Schönheit und Vollkommenheit ist, dann erreichen wir sie nur durch unsere Schäden. Niemand ist perfekt – darin sind wir gleich.

Eigentlich ist das doch recht beruhigend: Wir haben alle einen Knacks, einen Hau, einen Sprung in der Schüssel. Zum Glück.

Lass das Licht rein, das ist wichtig. Gerade jetzt, wo es wieder so finster aussieht, überall. Lasst uns puzzeln und pinseln. Dann haben wir vielleicht immer noch nicht alle Tassen im Schrank, aber die, die drinstehen, sind total kintsugi-wabi-sabi. Wie meine Mutter neulich so schön sagte: „Draußen ist es dunkel, aber deine Seele ist bunt.“ Ja, ein bunter Garten. Und die Jauchegrube sieht man gar nicht, gell?

Fröhliche Weihnachten.

Info

Ihr wollt ebenfalls die Ukraine unterstützen? Unter dem folgenden Link oder QR-Code könnt ihr an die Ukraine-Hilfe Berlin e. V. spenden:

www.ukraine-hilfe-berlin.de/

© Foto: Pavol Putnoki