Chin Meyer Kolumne

Warum Berlin kein Netz hat

Eine Kolumne von Chin Meyer

Berlin! Für viele der Inbegriff aller Sehnsüchte nach Großstadt, Abenteuer, Kreativität oder einfach nur nach der Ruhe einer Stadt, die über keinen richtigen Flughafen verfügt. Nicht alle allerdings sind Berlin wohlgesonnen: „Wie kannst du da nur leben?“, fragte eine süddeutsche Freundin neulich. „Bei den ganzen Drogen, der Kriminalität, den miesgelaunten Menschen.“ „Ach,“ sagte ich, „abseits des Regierungsviertels sieht es total anders aus. Es gibt sogar Gegenden, da ist es nahezu unmöglich einen halbwegs kriminellen Drogenhändler aufzutreiben.

Einen etwas besonderen Kommentar zu Berlin erhielt ich neulich in einem Telefonat. Bevor ich jenes denkwürdige Telefonat führte, hatte ich mir in einem Anfall von „Ich-will-Geld-sparen-und-daher-den-Stromanbieter-wechseln“ einen neuen Stromanbieter besorgt. Es handelte sich um – man höre und staune – Vattenfall. Aber nicht um irgendeinen Vattenfall, sondern um den „Natur12 Strom“-Tarif, der nur aus nachhaltigem Naturstrom besteht.

Sicher, ich hätte Verdacht schöpfen können. „Natur12 Strom“ – was soll das heißen? Dass es nur den halben Tag lang Strom gibt? Aber darauf kam ich nicht. Zuerst fühlte ich mich wie Indiana Jones nach der Sicherstellung der Bundeslade – ich hatte die Welt vor dem Bösen bewahrt. Und würde gleichzeitig Strom haben. Guten Strom. Biostrom gewissermaßen – das Tofusteak unter den Stromanbietern. Und das sogar bezahlbar!

Regelrecht euphorisiert war ich, als ich nach mehrstündiger Recherche, Preisvergleichen und nebenher noch eine Bonusreise fast buchen und dann ablehnen … als ich also völlig erledigt den Auftrag losklickte. Ich verbot mir, die damit verbrachte Zeit in diesem Stromwechsel zu berücksichtigen. Immerhin lassen vier Lebenszeit-Stunden bei einem Stundensatz von 50 Euro den Preisvorteil von 183 Euro doch etwas anders aussehen … Aber man darf nicht kleinlich sein, wenn man „Indiana-Jones-Strom“ bestellt.

Freudig erregt war ich auch noch, als ich Post von Vattenfall in den Händen hielt, die mir sicherlich bestätigen würde, dass ich jetzt mit meinem Strom die Welt rettete. Das jedoch tat sie nicht.
Vattenfall informierte mich sehr kühl, dass sich niemand gemeldet hätte, der mir Strom liefere und dass ich jetzt von ihnen mit „Basisstrom“ beliefert würde. Basisstrom – geht’s noch? Statt des erhofften Biostroms würde ich mit Kohle und Atom die Welt zerstören.

Zerstört war auch ich, und zwar am Boden! Ich rief bei Vattenfall an und schilderte meinen Fall: „Ihr Stromwechsel hat nicht funktioniert? Sie wohnen vermutlich in Berlin,“ sagte der Mitarbeiter mit dem Hamburger Dialekt. „Jetzt hör‘ mal zu, du Kackbratze,“ dachte ich, „deinen blöden Fischkopp-Lokal-Patriotismus kannst du mal ganz entspannt für dich behalten.“ Was ist das für eine Herangehensweise? Dieses platte Problembewusstsein steht auf einer Ebene mit: „Ihr Leben ist aus den Fugen geraten? Sie wohnen vermutlich in Berlin!“ „Ihr Drogenlieferant wurde nicht zum Ministerpräsidenten gewählt? Sie wohnen vermutlich in Berlin.“ „Sie können nicht wegfliegen? Sie …“ (Sie wissen schon).

Es stellte sich heraus, dass Vattenfall in Berlin ein „Softwareproblem“ hat. Meine Situation würde sich von selbst regeln. Irgendwann …

Ich musste daran denken, dass „Softwareproblem“ ein neuer, völlig unantastbarer Tatbestand ist. Hätte mir jemand in den 80er Jahren etwas von einem „Soft-Wear-Problem“ erzählt, wäre es naheliegend gewesen, ein Problem bei dessen schlabbrigen Klamotten zu verorten. Aber heute denkt man: „Tja, Softwareproblem, da kann man nix machen. Das passiert halt.“ Ähnlich wie Unwetter im Mittelalter werden Softwareprobleme heute irgendeiner übergeordneten, fast göttlichen Macht zugeordnet. Irgendein Chip ist wahrscheinlich in die Wechseljahre geraten.

Vermutlich sieht so das Ende der Menschheit aus: Innerhalb weniger Tage digital vernichtet. Softwareproblem. Weltweiter Computer-Corona. Sorry.

Nur ich überlebe. Zusammen mit 3,5 Millionen anderen Menschen in meiner Gegend. Weil wir kein Netz hatten. Wir wohnen nämlich in Berlin! ■

 

 

 

Leben im Plus – Kabarett, Geld und mehr

Gewohnt bissig-unterhaltsam und höchst aktuell nimmt Chin Meyer, Deutschlands bekanntester Finanzkabarettist, private und politische Verheißungen und Glücksversprechen ins Visier. Denn Chin Meyer ist sicher: wir wünschen uns alle eine ausgeprägte Komfortzone und ein „Leben im Plus“.

Doch was passiert eigentlich, wenn wir dem Unerklärlichen, wie einem Hybrid aus Hippie und Kapitalist (Mark Zuckerberg) oder aus Staatschef und Idiot (suchen Sie sich jemanden aus), oder gar den Algorithmen die Macht über uns überlassen? In einem vehementen Plädoyer für Pluralismus kämpft Chin Meyer scharfzüngig und gut gelaunt für unsere Demokratie.

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