
Kultur im Kiez entdecken
Den heutigen Kulturspaziergang beginnen wir mit einem Blick auf eine alte Postkarte, die in den 1930er- Jahren gelaufen sein muss, denn nur in dieser Zeit war die Bebauung so, wie wir sie hier sehen.
Text & Fotos: Marc Lippuner
Im Zentrum des Fotos steht die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Das protestantische Gotteshaus wurde auf Anregung Wilhelms II. zum Gedenken an seinen Großvater, den 1888 verstorbenen ersten Deutschen Kaiser Wilhelm I. zwischen 1891 und 1895 nach Plänen des Königlichen Baurats Franz Schwechten errichtet, der einen fünftürmigen Bau im Stil der Neoromanik entworfen hatte, dessen monumentaler Eindruck durch einen 113 Meter hohen Hauptturm gekrönt wurde.

Noch während der Fertigstellung der Kirche wurde der Architekt damit beauftragt, auch die Umgebung des nun nach Auguste Viktoria, der amtierenden Deutschen Kaiserin, benannten Platzes im bewussten Bezug zur Kirche zu gestalten. Zwischen 1893 und 1895 entstand gegenüber dem Hauptportal der Kirche das Romanische Haus als hochpreisiges Mietshaus mit aufwendigen Fassaden aus Sandstein, durchgehenden Loggien und einer erlesenen Innenausstattung mit Mosaiken, bunten
Glasfenstern sowie marmornen Säulen und Kaminen. 1909 wurde das Erdgeschoss zum Restaurant Regina-Palast umgebaut, das Mitte der Zwanzigerjahre durch das Café Trumpf abgelöst wurde. Zugleich wurden das erste und zweite Obergeschoss entkernt, um mit dem Gloria-Palast ein Luxuskino mit 1200 Sitzplätzen einzurichten. Hier feierte übrigens am 1. April 1930 Der blaue Engel, der Film, der Marlene Dietrichs Weltruhm begründete, seine Uraufführung.
Während das Erste Romanische Haus mit dem Schriftzug des Kinos auf dem Dach auf der alten Postkarte gut zu erkennen ist, ist das Zweite Romanische Haus, ebenfalls von Schwechten geplant, nur mit seinem Schatten am rechten unteren Bildrand vertreten. Im Erdgeschoss des 1901 fertiggestellten, ebenfalls auf wohlhabende Mieter zugeschnittenen Wohnhauses befanden sich eine Bank und eine Konditorei des berühmten Hotels Kaiserhof, die bereits seit 1902 unter dem Namen Romanisches Café firmierte. Das 1909 vom Gastronomen Bruno Fiering übernommene Lokal avancierte innerhalb weniger Jahre zum beliebten Treffpunkt für Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler.
Der Baumbestand, der die rechte obere Ecke des Fotos dominiert, gehört zum bereits 1844 eröffneten Zoo, in der linken oberen Ecke ist der 1882 in Betrieb genommene Bahnhof Zoologischer Garten zu sehen. Der neoromanische Flachbau davor komplettierte 1906 das von Kaiser Wilhelm II. erwünschte Romanische Forum. Die sogenannten Wilhelmshallen, entworfen von Carl Gause, dienten sechs Jahre als Messe- und Ausstellungsgebäude, auch das erste Berliner Sechstagerennen wurde hier veranstaltet. 1913 wurden sie als Varieté genutzt, in dem gelegentlich auch Filme liefen. 1919 übernahm die Ufa das Gebäude und ließ es 1925 zum größten Lichtspielhaus Deutschlands, mit 2165 Sitzplätzen, umbauen. Im Ufa-Palast feierten bedeutsame Filme ihre Premiere, darunter Metropolis (1927), M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931), beide von Fritz Lang, in der Zeit des
Nationalsozialismus auch Leni Riefenstahls Propagandafilm Triumph des Willens (1935) oder Münchhausen (1943) mit Hans Albers in der Titelrolle.
In der linken unteren Ecke der Postkarte ist ein Gebäude mit runder Fassade zu erkennen. Hier handelt es sich um ein 1914 fertiggestelltes, Kaisereck genanntes Geschäftshaus, das Emil Schaudt ebenfalls mit architektonischer Rücksicht auf die Gedächtniskirche entwarf, wenngleich die romanische Formensprache nur lose zitiert wird. 1926 bezog das Seidenhaus Michels & Cie hier Geschäftsräume und ließ etwas später seinen Namenszug aufs Dach montieren, der auf dem Foto nur zu erahnen ist.
Zeitgleich mit dem Kaisereck entstand 1913 direkt nebenan das Marmorhaus, das seinen Namen seiner edlen Fassade verdankt, die der Architekt Hugo Pál über fünf Geschosse mit Marmor verkleidete. Es war das erste Gebäude, das in der Gegend als Kino errichtet wurde, und somit das älteste Kino am Kurfürstendamm, Jahre bevor die vorab genannten Filmpaläste älteren Gebäude eine neue Funktion gaben.
Auch auf der gegenüberliegenden Seite des Auguste-Viktoria-Platzes vollzog sich eine drastische Abkehr vom Stil des Romanischen Forums, wie man auf dem Foto rechts hinter der Kirche gut erkennen kann: Der Stararchitekt Hans Poelzig entwarf mit dem Capitol am Zoo 1925 eine zweigeschossige Ladenzeile im Stil der Neuen Sachlichkeit, deren Herzstück ein viertes großes Filmtheater war: Es fasste 1314 Plätze in einem sechseckigen Kinosaal mit achteckiger Decke.
In der Nacht vom 22. auf den 23. November wurden die Gedächtniskirche und die umliegenden Gebäude bei britischen Luftangriffen zerstört und brannten zum großen Teil aus.
1947 wurde der von Ruinen geprägte Platz umbenannt und ehrt seitdem den von den Nationalsozialisten verfolgten Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid. In den 1950er-Jahren wurde beschlossen, die Überreste des Romanischen Forums zugunsten eines modernen Stadtzentrums vollständig abzutragen.

1947 wurde der von Ruinen geprägte Platz umbenannt und ehrt seitdem den von den Nationalsozialisten verfolgten Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid. In den 1950er-Jahren wurde beschlossen, die Überreste des Romanischen Forums zugunsten eines modernen Stadtzentrums vollständig abzutragen.
Egon Eiermanns Entwurf des völligen Neubaus einer Kirche endete nach Protesten in der Bevölkerung mit einem Kompromiss. Die 71 Meter hohe Ruine des Hauptturms wurde als Mahnmal gegen den Krieg bautechnisch gesichert und von einem vierteiligen Bauensemble umgeben: ein oktogonales Kirchenschiff mit einem rechteckigen Foyer im Westen der Ruine, ein hexagonaler, 53 Meter hoher Glockenturm und eine rechteckige Kapelle auf der östlichen Seite. 1961 konnte das markante Gebäudeensemble mit seinen gerasterten Wänden und den mehr als 20 000 blauen Glasfenstern, von denen jedes ein Unikat ist, eingeweiht werden. Im alten Turm kann man die Gedächtnishalle besichtigen, deren prachtvolle von Hermann Schaper entworfenen Mosaike Szenen aus dem Leben des ersten Deutschen Kaisers oder der Hohenzollernfamilie mit biblischen Geschichten verweben. Sie sind nicht originalgetreu restauriert, sondern, wie auch die Architektur des Turms, mit sichtbaren Narben als Mahnmal für Frieden und Versöhnung. Die Gedenkhalle fungiert seit 1987, anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins, als Ausstellungsort zur Geschichte der Kirche sowie als Raum des Gedenkens an die Geschehnisse und die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Vor dem Eiermannschen Kirchenschiff durchzieht ein mit einer goldfarbenen Legierung aufgefüllter Riss den Boden des Breitscheidplatzes. Er erinnert an die Opfer des Terroranschlags vom 19. Dezember 2016; zudem sind an den Stirnseiten der Treppe die Namen und Herkunftsländer der Opfer eingraviert. Im Foyergebäude der Gedächtniskirche ist seit letztem Sommer das Center for Contemporary Arts (kurz CCA Berlin) beheimatet, das sich mit wechselnden Ausstellungen der Präsentation und Förderung zeitgenössischer künstlerischer Praktiken widmet.
Auf dem Grundstück des Ersten Romanischen Hauses entstanden in den 1950er-Jahren Geschäftshäuser, darunter ein fünfgeschossiger Stahlskelettbau, in dem das zerstörte Gloria-Kino neu entstand. 1998 musste das Kino einem Bekleidungsgeschäft weichen, ehe das Gebäude 2017 abgerissen wurde, wobei denkmalgeschützte 50er-Jahre-Elemente wie das Kassenhäuschen, die Wendeltreppe und die Leuchtreklame eingelagert wurden. Der vor zwei Jahren fertiggestellte Neubau, der Büros und Einzelhandelsgeschäfte beherbergt, wurde als „Erinnerungsbau“ konzipiert, die aufbewahrten Elemente sucht man dort jedoch vergeblich. Das gegenüberliegende Marmorhaus, das den Krieg nahezu unbeschadet überstanden hat, ist leider auch kein Kino mehr, 2001 schloss es nach 88 Jahren. Derzeit findet man hier die Filiale einer japanischen Lifestylekette.
Das danebenliegende Kaisereck wurde nach Kriegsschäden 1954 in vereinfachter Form wieder aufgebaut und beherbergt heute Modegeschäfte.






Die Ruinen nördlich des Breitscheidplatzes wichen Mitte der 1950er-Jahre dem Zentrum am Zoo, einem von Paul Schwebes, Hans Schoszberger und Gerhard Fritzsche verantworteten Bauensemble, das die alten architektonischen Ideen aufgriff. Auf dem Gelände des Ufa-Palastes entstand 1956/57 der Zoo Palast mit seiner nach außen gewölbten, mit gelben Keramikplatten verkleideten Fassade. Er war seit seiner Eröffnung 1957 bis zur Jahrtausendwende das zentrale Wettbewerbskino der Berlinale. Nach einer umfassenden Sanierung fasst das Gebäude nun neun Säle mit einer Kapazität von 1700 Sitzplätzen. Wo einst Poelzigs Capitol stand, wurde das Bikini-Haus errichtet, das seinen Namen dem ursprünglich offenen, von Säulen getragenen „Luftgeschoss“ in der zweiten Etage verdankt. In dem Gebäude wurde zu Westberliner Zeiten an 700 Nähmaschinen Konfektionsmode produziert. Vor 12 Jahren wurde das Gebäude zu einem Einkaufs-, Büro- und Hotelkomplex umgebaut.
Zuletzt wurde das Gelände des Zweiten Romanischen Hauses neu bebaut. Nach amerikanischem Vorbild sollte der Breitscheidplatz als einer der zentralen Plätze West-berlins mit einem weiteren Büro- und Einkaufszentrum seine vorerst letzte Aufwertung erfahren. Vor 60 Jahren entstand mit dem Europa-Center ein Gebäudekomplex aus Stahl und Glas mit einem 86 Meter hohen Turm, auf dessen Dach sich der größte Mercedes-Stern der Welt dreht. Dadurch erreicht der Büroturm eine Gesamthöhe
von 103 Metern. In den angeschlossenen, wesentlich niedrigeren Nebengebäuden findet man Appartements, ein Hotel, das Kabarett Die Stachelschweine, Eventlocations, Ladengeschäfte und gastronomische Einrichtungen. Eine davon war unmittelbar nach der Eröffnung des Centers ein neues Romanisches Café, dem jedoch kein langfristiger Erfolg beschieden war. Mit großem Erfolg spürt hingegen seit mehr als einem Jahr in einem der heute leerstehenden Ladenlokale eine äußerst sehenswerte Ausstellung dem Mythos des Kult-Cafés nach, wobei sie auch die Geschichte und die Geschichten rund um die Gedächtniskirche in den Blick nimmt. Verlässt man die Ausstellung, steht man vor der 13 Meter hohen, von Bernard Gitton entworfenen Uhr der fließenden Zeit, durch die seit 1982 fluoreszierendes grünes Wasser rauscht. 1983 wurde vor dem Europa-Center der Weltkugelbrunnen errichtet. Joachim Schmettaus aus behauenem roten Granit und zahlreichen Bronzefiguren bestehender „Wasserklops“ besticht durch zahlreiche Springbrunnen, Fontänen und Wasserspiele – allerdings nur wenige Monate im Jahr.
Infobox
Marc Lippuner
leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Kürzlich ist sein Kalender Berliner Geschichte 2024 im Elsengold Verlag erschienen.
Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

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