Ich schreibe lieber kurze Sätze. Ich weiß nämlich nie, wo die Kommata hinkommen. Vorlesetexte schreibe ich auch gern. Da sieht niemand, wo die Kommata hingekommen sind. Am Ende jeder Seite nehme ich einfach eine Handvoll und streue sie wahllos über den Text. Ich schreibe außerdem nur Texte, von denen ich vorher nicht weiß, was drinstehen wird. Das erklärt auch, warum in der Schule unter jedem meiner Aufsätze stand: Thema verfehlt, fünf! Man muss dem Leser vorher mitteilen, wovon der Text handeln wird, damit er weiß, ob er ihn lesen will. Aber jeder Text ist doch ein Forschungsauftrag. Ich will etwas herausfinden, was ich noch nicht weiß.

Text: Franziska Hauser

In der Sprachschule muss ich meinen Schülern am Beginn der Stunde immer mitteilen, was sie am Ende der Stunde gelernt haben werden. Ich muss es sogar an die Tafel schreiben. Wie eine Textüberschrift. Aber das widerspricht meinem Verständnis von Unterhaltung und Überraschung, und ich finde das Wichtigste, was ein Unterricht sein muss, ist unterhaltsam und überraschend. Jede Unterrichtstunde sollte ein Forschungsauftrag sein.

Ich scheibe gern Texte für Zeitungen, denn da machen die Redakteure die Überschriften. Irgendwie finden sie doch immer raus, worum es geht, und offenbar geht es letztendlich auch immer um irgendwas. Die Kommata machen sie auch.

Von den Sprachschülern bekomme ich gute Bewertungen, aber ich gelte als unstrukturiert und werde deswegen immer wieder vom teachers teacher ermahnt. Ich soll mich an den Lehrplan halten. Also schon wieder das Thema verfehlt.

Aber der Lehrplan ist schrecklich langweilig. Genauso langweilig, wie einen Text zu schreiben, von dem ich vorher weiß, wovon er handelt.

Man muss mit dem Unterrichten doch erst mal anfangen, um herauszufinden, was den Schüler beschäftigt, und genauso ist es mit dem Schreiben: Ich fange den Text erst mal an, und dann stellt sich heraus, dass es mich momentan schwer beschäftigt, ob ich mit dem Schreiben Geld verdienen kann, ohne es auf ein Handwerk zu reduzieren, weil mir nämlich das Geldverdienen immer noch ein viel größeres Rätsel ist als das Schreiben.
Das ist mein Forschungsauftrag. Meine Strukturlosigkeit, die mich am Geldverdienen hindert, hindert mich auch daran, beim Thema zu bleiben, weshalb ich abschweife in alle Himmelsrichtungen.

Völlig unvermittelt, ohne jeden logischen Übergang und nur, weil es mir gerade in den Sinn kommt, beginne ich also nun damit, dass ich neulich eine Nachricht bekam, von einem, der Kraftfahrer von Beruf ist. Die Nachricht war so gut formuliert und bestand aus so langen Sätzen, dass mir schwindlig wurde. Eine ganze Szene mit viel Handlung beschrieb er in nur einem Satz, mit Nebensätzen und Präteritum und Kommata und allem und ohne zu viel und, und trotzdem verständlich. Erstaunlich, dachte ich. Weil er doch Kraftfahrer ist. Da hat man ja nie die Hände frei, um mal was aufzuschreiben. Aber den Kopf zum Denken hat er frei, und das reicht wahrscheinlich.

Ich brauche auch den Kopf frei, wenn ich nicht schreibe. Das ist, wenn man Geld verdienen muss, ein Dilemma, weil man in Jobs mit viel Händen und wenig Kopf so wenig verdient, dass man es den ganzen Tag machen muss, um davon zu leben. Dabei würde ich so gern drei Stunden am Tag den Friedhof harken. Sogar bei fünfunddreißig Grad oder bei minus zehn kann man das für drei Stunden gut durchziehen. Aber für einen 15-Stunden-Job muss man einen nehmen mit viel Denken, um nicht zu verhungern, was total unlogisch ist, weil man für körperliche Arbeit ja mehr essen muss als für Denkarbeit.

Zum Schreiben braucht man vor allem entsetzlich viel Zeit. Vielleicht formuliert der Kraftfahrer die Sätze im Kopf und schreibt sie auf, sobald er die Hände vom Lenkrad nehmen kann. Drei Sätze pro Tag. Da würde ein Roman in meinem Fall sechs Jahre dauern. Vielleicht schreibt er aber deshalb so lange Sätze, weil er nicht, wie ich, zwanzig Sätze pro Seite schreibt, sondern nur drei.

Wovon leben die alle, frage ich mich, wenn ich andere Autoren kennenlerne. Dabei ist ja eigentlich klar, dass, wer schreiben kann, eine gute Jobauswahl hat in unserer Gesellschaft, die immerzu überall Content braucht. Das Dilemma allerdings ist, dass es sich schwer mischen lässt. Wenn man in einer Person Werbetexte schreiben will, die ja bekanntlich am schnellsten Geld einbringt, und anderseits auch Literatur produziert, braucht man eine multiple Persönlichkeitsstörung. Hätte ich das eher begriffen, wäre ich jetzt noch Fotografin. Aber ich habe mich als Fotografin selbst zerstört. Meine Schöpfungskraft ausgeschlachtet für Hochzeiten und Veranstaltungsfotos. Ich hab an das Perpetuum geglaubt und gedacht, ich könnte mit der Kreativität die Kreativität finanzieren. Aber um Hochzeiten fotografieren zu können, musste ich versuchen, die langweiligen Motive interessant zu finden. Im Gegenzug bewirkte es, dass ich mich für die wirklich interessanten Motive, die ich freiwillig fotografieren wollte, nicht mehr begeistern konnte. Das Fotografieren, das ich zu hassen anfing, weil die Hochzeiten so langweilig waren, fraß das Fotografieren auf, das ich geliebt hatte, weil ich berührende Bildgeschichten erzählen wollte. Bedeutsame Momente aufschnappen. Ich wollte das Leben einfach und klar abbilden. Am Ende blieb nicht das freiwillige, sondern das geldbringende Fotografieren übrig.

Da sich die Fotografin in mir selbst erstickt hatte, die Schaffenskraft aber noch nicht ausgebrannt war, flammte sie wieder auf, indem ich anfing nach Worten zu suchen, statt nach Bildern.

Geld ließ sich damit wieder nur zu wenig verdienen. Stattdessen von Hochzeitsfotos zu leben, wäre ein richtig guter Plan gewesen. Aber die Auftragsfotografin ließ sich nicht wiederbeleben.

Wenn Fotografen von Hochzeiten leben und damit ihre fotografische Kreativität abwürgen, dann tuen es Autoren mit Werbetexten. Um die Autorin in mir nicht auch noch zu ruinieren, entschied ich mich diesmal für eine unkreativere Arbeit und stellte fest: Ausländern seine Muttersprache beizubringen ist eine unheimlich befriedigende Tätigkeit. Man weiß einfach immer alles besser. Zumindest solange niemand nach Kommata fragt. Ich brauche nur mein Vokabular vor den Schülern auszubreiten, dann lasse ich sie die Worte sortieren, bis sie mit der Sprache machen können, was sie wollen. Es ist ein Job, der mich geistig satt macht und mir trotzdem keine neuen Erfindungen abverlangt.
Da man aber mit einem Fotografiestudium nicht erwarten kann, für Deutschunterricht so anständig bezahlt zu werden wie mit einem Pädagogikstudium, gibt es auch nicht viel mehr als fürs Friedhofharken.

Ein disziplinierter Berufsweg lässt sich im Nachhinein in meine Kariere beim besten Willen nicht hineininterpretieren. Schon als ich neunzehn war, hatte mein Vater mich aufgegeben. Meine Karriereplanung lasse keine Stringenz erwarten, weshalb er die Unterhaltszahlung vorsichtshalber endgültig einstellte und ich mein Kunststudium mit Nebenjobs finanzieren musste.

© Franziska Hauser

Er wollte eine Wissenschaftlerin. Keine Künstlerin. Aber da man Kunst durch Geldmangel nur schürt und nicht erstickt, war das der falsche Weg. Er hätte mich mit Geld überschütten müssen, um mir diesen Weg abzuschneiden.

Bei einer Feier alternder Wissenschaftler stellte ich vor Kurzem erst wieder fest, dass Wissenschaftler und Künstler durch ihre Besessenheit meist einen ganz guten Draht zueinander haben.

Beide arbeiten da, wo das Verstehen aufhört. An dieser Grenze will die Wissenschaft nur erklären, ohne zu verarbeiten. Die Kunst will aber nur verarbeiten, ohne zu erklären. Und eigentlich verlaufen so ziemlich alle weiteren Merkmale der Kunst und der Wissenschaft komplett diametral zueinander. Die Wissenschaft blüht nämlich mit mehr Geld auch mehr auf, während die Kunst durch zu viel Geld eingeht. Dann wird sie benutzt, um die Macht zu dekorieren und schafft sich selber ab.

Was Wissenschaftler gar nicht können, ist Unterhaltung. Tanzen können sie auch nicht. Die Festreden sind trocken, die Gespräche steif, die Tänzer verklemmt. Während man seit dem Studium verheiratet ist, ist man stolz auf die kleinsten Ausfälle. „Weißt du noch, wie du damals von Dach gepinkelt hast?“ Man erzählt sich amüsiert von den Trunkenheiten der Studienzeit, die sich an einer Hand abzählen lassen und von kleinsten Kontrollverlusten. Über Geld redet man nicht. Man erzählt sich die Dinge, die Künstler lieber verschweigen. Kein Künstler ist stolz auf Exzesse und ständige Beziehungsdramen. Darüber wird bei Künstlerpartys nicht geredet. Bei Künstlerpartys wird über Geld geredet.


Es ist überhaupt der einzige Grund, zu Künstlerpartys zu gehen, um nämlich herauszufinden, ob irgendjemand weiß, wie man Geld verdient. Aber meistens weiß es niemand, und alle gehen wieder nach Hause und schlafen mit derselben Frage ein, mit der sie aufwachen: Was könnte ich noch ausprobieren, um beim Geldverdienen den Kopf und die Hände frei zu haben? Wer kauft meine Kunst, ohne dass ich mich selbst mit verkaufe?


An dieser Stelle ist der Text leider zu Ende, denn hier müsste die Antwort stehen. Das Ergebnis der Forschungsfrage. Jetzt müsste klar werden, was der Leser gelernt haben soll. Aber es ist eben kein wissenschaftlicher Text. Es ist Kunst. Die Kunst, den Lesern klarzumachen, dass sie wieder gar nichts gelernt haben und alles alleine herausfinden müssen.

Infobox

Franziska Hauser

geboren 1975 in Pankow/Ostberlin, ist eine Autorin, Fotografin und Mitinitiatorin der DEO-Lesebühne (Des Esels Ohr) im Prenzlauer Berg.

Ihr Debütroman SOMMERDREIECK erhielt den Debütantenpreis der lit.COLOGNE und stand auf der Shortlist des aspekte-Literaturpreises. Ihr zweiter Roman DIE GEWITTERSCHWIMMERIN war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr aktueller Roman KEINE VON IHNEN ist 2022 im Eichborn Verlag erschienen.

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