Kultur im Kiez entdecken

Nach mehr als zwölf Jahren sind die Baustellen auf der Karl-Marx-Straße verschwunden – ein schöner Anlass, sich hier einmal umzuschauen.

Text & Fotos: Marc Lippuner

Das Viertel, das im Westen durch die Karl-Marx-Straße begrenzt ist, verdankt seinen Namen der nach Europas zweitlängstem Fluss benannten Straße, die es in Nord-Süd-Richtung mittig durchläuft. Der Donaukiez beginnt südlich des Hermannplatzes und läuft in etwa dort aus, wo die namensgebende Straße zur Böhmischen Straße wird. Die östliche Grenze bildet die pulsierende Sonnenallee.

Das Quartier ist geprägt von fünfgeschossigen Wohnbauten aus der Gründerzeit mit stark verdichteter Hinterhofbebauung. Entdecken lässt sich dies beim Streifzug durch die 1907/08 nach Plänen von Willy und Paul Kind errichtete Ideal-Passage, die „Häuser und Grünanlagen mit Licht, Luft und Sonne zum gesunden Wohnen“ versprach, deren gärtnerisch gestalteten Innenhöfe heute jedoch als wenig großzügig wahrgenommen werden. Nichtsdestotrotz galt die 203 Wohneinheiten umfassende Anlage als Modell sozialen Wohnens, in dem die Bauherren versucht haben, ihre reformerischen Ideen für Mietskasernen umzusetzen. Für damalige Verhältnisse einmalig war der Ausstattungsgrad. Jede Wohnung hatte Zentralheizung, Gas-Kohle-Herde und Warmwasser, wenngleich nicht alle mit Badegelegenheiten ausgestattet waren.

Grün- und Freiflächen sucht man im ganzen Donaukiez vergeblich, dafür findet man weitere historisch bedeutsame Bauten aus der Zeit, als der heutige Ortsteil Neukölln noch Rixdorf hieß. 1899 hatte das seinerzeit größte Dorf Preußens das Stadtrecht erhalten, unmittelbar nach der Verleihung wurden an der heutigen Karl-Marx-Straße, die damals noch Berliner Straße hieß, das Amtsgericht und die Alte Post im repräsentativen Stil der Neorenaissance errichtet. Während das erstgenannte Gebäude in seinen 111 Räume noch heute Justizia walten lässt, ist das Hauptpostamt 2003 ausgezogen. Nach einer kulturellen Zwischennutzung entstand hier vor einigen Jahren ein Ensemble mit Wohnungen, Büros, Geschäften und Gastronomie. Bis heute kulturell nachgenutzt wird hingegen das Alte Finanzamt in der Schönstedtstraße 7, in dem ein als Verein organisiertes, queer-feministisches Kollektiv Performances, Ausstellungen und Workshops durchführt.

In unmittelbarer Nachbarschaft des Amtsgerichts steht das wohl repräsentativste Gebäude des Kiezes. 1905 war der 31-jährige Architekt Reinhold Kiehl zum Rixdorfer Stadtbaurat berufen worden und hatte direkt nach seinem Amtsantritt mit dem Entwurf eines mehrflügeligen Rathaus- und Verwaltungskomplexes im Stil der Deutschen Renaissance begonnen, dessen herausragendstes Merkmal der 67 Meter hohe Rathausturm war. Bereits 1908 konnte der erste Bauabschnitt bezogen werden, seit dieser Zeit richtet sich eine von Josef Rauch geschaffene zwei Meter hohe bronzene Skulptur der Glücksgöttin Fortuna auf der Turmspitze – Wetterhähnen gleich – nach dem Wind. Erweiterungsbauten folgten bis 1914, dann brachten die Sparzwänge des Ersten Weltkriegs die ehrgeizigen Pläne des Architekten zum Erliegen.

Zwei Jahre zuvor war die Umbenennung Rixdorfs in Neukölln mit Genehmigung des Kaisers erfolgt. Erklärtes Ziel der Stadt war es, die ihr auch dank des populären Gassenhauers In Rixdorf ist Musike anhaftende Frivolität abzustreifen. Mit dem Namen Neucölln wurde auf die nördlich des alten Rixdorf gelegenen Neucöllner Siedlungen verwiesen und zugleich ein Bekenntnis zur Nähe der alten Doppelstadt Berlin-Cölln abgegeben.

Wenige Monate vor Kriegsbeginn wurde das ebenfalls von Reinhold Kiehl geplante Stadtbad als eines der größten und modernsten Europas eröffnet, ein neoklassizistisches Gebäude, dessen Entwurf sich an der Bauform antiker Thermen orientierte. Im selben Komplex war auch eine Volksbibliothek untergebracht – ein architektonisches Konzept, das – dem antiken Ideal entsprechend – körperliche Ertüchtigung, Körperhygiene und geistige Erbauung zusammenbringen wollte. 1961 zog das Museum Neukölln in die Bibliotheksräume, bis es 2010 auf dem ehemaligen Gutshof Britz sein heutiges Zuhause fand. Mittlerweile ist hier das KinderKünste-Zentrum beheimatet, ein Kreativort für Kinder von zwei bis acht Jahren. Schräg gegenüber, in der Donaustraße 88, werden in einem schlichten Bau mit grüngefliester Fassade seit 1992 Mädchen und junge Frauen in ihrer künstlerischen und sozialen Entwicklung beraten und begleitet. Das kommunale Mädchen*zentrum Szenenwechsel ist nicht nur eine offene Kinder- und Jugendeinrichtung, sondern auch Medienkompetenzzentrum für den Bezirk Neukölln.

Doch wenden wir unseren Blick noch einmal auf die repräsentativen Altbauten im Donaukiez: Zeitgleich mit dem Stadtbadkomplex wurde in der Ganghoferstraße 2 eine Reichsbankfiliale errichtet, deren Entwurf ebenfalls Reinhold Kiehl zugeschrieben wird. Das Gebäude mit seiner wehrhaft wirkenden Natursteinfassade beherbergt heute eine Eventlocation. Nur wenige Jahre nach der Eröffnung der Reichsbank entstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein ähnlich solide und respektabel wirkendes Bankgebäude der Sparkasse. Dass sich hier in der Krisenzeit des Ersten Weltkriegs zwei große Geldinstitute etablierten, ist ein Beleg für die Prosperität der jungen Stadt, die 1920 Teil Groß-Berlins wurde. Die Sparkasse hat diesen Standort mittlerweile aufgegeben, seitdem bietet Humana hier Second-Hand- und Vintagebekleidung an.

Geschäfte dieser Art sind ja immer auch beliebte Fundorte für Theaterleute und somit sicher auch für jene, die im Donaukiez ihre Produktionen zeigen. Zwei der bekanntesten Spielstätten der freien Berliner Szene sind hier beheimatet: der Heimathafen Neukölln und die Neuköllner Oper.

Erstgenannter residiert seit 2009 im alten Ballsaal des Saalbaus Neukölln mit dem im Pachtvertrag vereinbarten Ziel, „niedrig schwelliges Kulturangebot für den Bezirk und ganz Berlin zu schaffen“, wobei das Team sich vor allem der „Heimat“ Neukölln verschreibt und Themen wie Migrationskonflikte, Jugendgewalt, Armut oder Gentrifizierung in den Fokus rückt. Mit dem bewährten Mix aus „Theater, Amüsemang, Tacheles und Musik“ hat sich der Heimthafen gänzlich der Historie des Hauses verschrieben. 1875 als Wirtshaus mit Salon und Ballsaal eröffnet, um die Jahrhundertwende mit einer Kegelbahn ausgestattet, und die nächsten sechs Jahrzehnte im wilden Wechsel als Theater oder Kino genutzt, musste das Gebäude 1968 wegen baulicher Mängel schließen und wurde nach einer umfassenden Sanierung in den 1980er-Jahren in die Hände des Kunstamts Neukölln gelegt. Im Vorderhaus, das seit 1928 eine schlichte Fassade im Stil der Neuen Sachlichkeit trägt, eröffnete 1990 die kommunale Galerie im Saalbau, die sechs Ausstellungen pro Jahr zeigt, wovon mindestens zwei Arbeiten von Neuköllner Künstlerinnen und Künstlern zeigen.

Die in den 1970er-Jahren gegründete Neuköllner Oper ist seit 1988 im Ballsaal des 1910 als Rixdorfer Gesellschaftshaus eröffneten, ersten offenen Passagenbaus Berlins zu Hause. Mit zeitgenössischen Inszenierungen, vor allem Ur- und Erstaufführungen, greift das kleinste Berliner Opernhaus die Diskurse, Themen und Ästhe-tiken der Stadt auf, wobei es als freie Produktionsstätte Popkultur und Experimente gleichermaßen groß schreibt.
Mit dem Einzug der Neuköllner Oper in der dritten Etage des ebenfalls von Stadtbaurat Kiehl geplanten Gebäudes wurde das darunter liegende Kino aus dem zwanzigjährigen Dornröschenschlaf geholt. 1968 war das 1910 als Lichtbildtheater Excelsior eröffnete Kino, das seit 1920 den Namen Passage trägt, der Kinokrise zum Opfer gefallen und diente als Möbellager, bis es wenige Wochen vor dem Mauerfall im Herbst 1989 wiedereröffnet werden konnte. Mittlerweile verfügt das Passage Kino über vier Säle, wovon der historische große Saal zu den schönsten Berlins zählt.

Der Historie hat sich auch das in direkter Nachbarschaft gelegene Puppentheatermuseum verschrieben. 1986 als Mobiles Puppentheater-Museum gegründet, bezog es 1995 seine jetzigen Räumlichkeiten in der Karl-Marx-Straße 135, in denen es in jährlich wechselnden Ausstellungen seine umfangreichen Bestände an Handpuppen, Stabfiguren, Marionetten sowie Schattentheater- und Trickfiguren aus den verschiedensten Kulturkreisen Europas, Asiens und Afrikas präsentiert. Das museumseigene Puppentheater zeigt Inszenierungen für Kinder und Erwachsene, darüber hinaus werden Puppenbau-Workshops angeboten.

Auch im thespis, das sich in einem Ladenlokal in der Anzensgruberstraße 11 befindet, finden gelegentlich Performances, Konzerte oder Workshops statt. Eine Möglichkeit, dort vorbeizuschauen, bietet sich vom 20. bis 23. November beim Berliner Festival für aktuelles Musiktheater (BAM!), das den Blick auf Musiktheater jenseits der traditionellen Opernform legt und die Vielfalt der Spiel- und Ausdrucksweisen in Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen zeigt. Dies alles geschieht an nur vier Tagen an nah beieinander gelegenen Spielorten in einem dichten Programm, in dem sich Stadt und Musiktheater miteinander zu einem immersiven Erlebnis verbinden sollen. Neben dem thespis wird es Veranstaltungen u. a. im Heimathafen Neukölln, der Neuköllner Oper oder dem Puppentheatermuseum geben sowie an einem Ort, der seit dem vergangenen Jahr für kulturelle Events genutzt wird: das CANK. Der brutalistische Betonklotz mit den kupferschimmernden Scheiben, in denen sich seit den 1960er-Jahren die Altbauten der Karl-Marx-Straße spiegeln, ist eine seit Jahren leerstehende C&A-Filiale. Nach einer Zwischennutzung als Flüchtlingsunterkunft kann dieser „abandoned place“, in dem Kabel von der Decke hängen, Spiegelsäulen die Etagen strukturieren und Rolltreppen für immer stillstehen, nun für Performances, Ausstellungen, Konferenzen oder Modenschauen angemietet werden.


Infobox

Marc Lippuner

leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen des Prenzlauer Bergs, und ist Verleger im Querverlag. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe: So hat er eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin und einen wöchentlichen Podcast. Im Elsengold-Verlag erscheinen seit 2019 seine Wandkalender zur Berliner Geschichte. Im
B&S Siebenhaar Verlag veröffentlichte er 2024 die Anthologie „Eldorado“ Berlin, die die Geschichte des queeren Berlins nachzeichnet.

Für unser Magazin unternimmt er kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlinbücher vor

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