Über das Leben, die Freude und die Gemeinschaft
Text: Silke Schuster
Sie gilt als Grande Dame der früheren Berliner Partyszene, wird als Stilikone gefeiert, war Tänzerin und ist eine Frau mit vielen Facetten. Dabei strahlt sie eine außergewöhnliche Sensibilität und Offenheit aus. Britt Kanja lässt uns an ihrem Leben teilhaben, teilt ihre Gedanken über die Welt und erzählt, was für sie Verbundenheit bedeutet. Mit ihrer feinsinnigen Art und ihrer unermüdlichen Lebenslust ist sie eine Persönlichkeit, deren Haltung ermutigt und inspiriert.
Am 16. August 1950 im Berliner Kinderkrankenhaus Reinickendorf geboren, wuchs Britt Kanja behütet und geliebt auf. Ihre Eltern wollten sie vor den Schatten der Vergangenheit schützen, dennoch spürte sie als Kind die Last der Menschen im Nachkriegsberlin. Als Kind lebte sie zunächst im Wedding, später in Zehlendorf. Sie beschreibt sich selbst als „Wildfang“, der keine Freude an hübschen Kleidern hatte, sondern sich lieber ins Fußballtor warf. Sie hatte nie Schwierigkeiten, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie war zufrieden in ihrer Welt. Von sich selbst sagt sie, durch ihre frühe Kindheit im Wedding „ein bisschen ‚Straße‘“ in sich zu haben, „das hat mir in meinem Leben schon oft geholfen.“
Für die vielen Familienfeiern zog ihre Mutter sie immer schön an: „Das mochte ich nicht “, lacht sie. Ihr Modestil entwickelte sich erst später. „Mit 14 wurde ich dann expressiv.“ Britt Kanja hat eine sehr zarte Statur, Kleidung von der Stange passt ihr meistens nicht. „Ich habe einen kleineren Knochenbau als die Norm. Ich esse wirklich ganz viel, aber manche denken, ich wäre magersüchtig. Auch mein Kopf ist kleiner, deswegen trage ich so gern Hüte. Im Winter, wenn ich keine Kopfbedeckung aufhätte, würde ich aussehen wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen.“ Sie hat ihren Weg gefunden, damit umzugehen. Trotzdem können unbedacht geäußerte Kommentare verletzen: „‚Du verschwindest aber bald‘ oder Ähnliches sind genauso schlimm wie Kommentare, die sich gegen dicke Leute richten. Das tut weh.“ Als Teenager (und bis heute) trug sie Konfektionsgröße unter 32, in der Kinderabteilung wollte sie aber auch nicht einkaufen. Also fing sie an, sich in Trödelläden nach Vintage-Schätzen umzusehen. „Ich konnte allerdings nicht nähen“, erzählt sie. „Also habe ich das alles von innen mit Sicherheitsnadeln abgesteckt und bin manchmal piksend rumgelaufen, später dann mit großen Heftstichen, die auch manchmal wieder aufgingen. Irgendwann fing ich mit dem Nähen an. Später traute ich mich in Schnitte einzugreifen und dann ans Schneidern aus freier Hand. Heute kann ich alles für mich passend machen und bin meine eigene Designerin.“
Parallel zur Schule absolvierte Britt Kanja eine Tanzausbildung. Ihre Familie förderte ihre Eigenständigkeit: Mit 14 Jahren ließ ihre Mutter sie in die Freiheit ziehen, nicht ohne an ihr Verantwortungsbewusstsein zu appellieren und ihr gleichzeitig den immerwährenden Schutz und die bedingungslose Liebe des Elternhauses mit auf den Weg zu geben. „Meine Mutter hat gemerkt, dass ich etwas Wildes in mir habe. Verbote hätten nichts gebracht. Sie hat mich freigegeben, damit ich meine Grenzen selbst finden konnte – dafür bin ich ihr bis in alle Ewigkeiten dankbar.“ Dieses Vertrauen, das ihre Mutter ihr geschenkt hat, ließ sie zu einem kreativen Freigeist aufblühen. „Und ich habe mich mit 14 wirklich hingesetzt und über Verantwortung und mein Leben nachgedacht. Für einen Freund habe ich mich zu jung gefühlt.“ Aber das Tanzen liebte sie. Viel unterwegs, wurde sie direkt „von einer schöngeistigen Gay-Gruppe adoptiert“, weil sie so expressiv war. „Das war das Beste, was mir passieren konnte“, schaut sie zurück. „Ich wurde beschützt und konnte meine wilde, expressive Seite ausleben. Ich wünsche jeder Frau auch so einen echten Gay-Freund.“ In der Schulzeit verschwendete sie keinen Gedanken an eine Beziehung, später war sie mit dem Tanzen beschäftigt. „Ich hatte allerdings auch nie diesen Drang, mir einen Mann zu suchen“, teilt sie mit, „sondern ich wusste immer: Wenn ich mit mir selbst all-eins bin, dann bin ich sowieso mit allem verbunden. Und wenn die Liebe vor mir steht, dann weiß ich es.“
Tanzkarriere und Auswanderung
Eigentlich wollte sie Kunst und Kunstgeschichte studieren, doch das Leben lenkte sie in andere Bahnen: Nach ihrem Abitur 1968 startete sie mit ihrem Tanzpartner eine Karriere, die sie durch ganz Europa führte. „Das Tanzen war nie als Beruf gedacht, aber es wurde zu einer großen Liebe“, erzählt sie. Diese Liebe begann kurios: Während ihrer Debütshow erlitt das Duo einen kompletten „Filmriss“ auf der Bühne – und wurde dennoch mit tosendem Applaus gefeiert. „Wir sind mit einer vergessenen Choreografie in eine Tanzkarriere geschlittert. Hätten wir sie nicht vergessen, wäre das vermutlich nicht passiert. Es war wahrscheinlich diese Energie zwischen uns.“ Bis 1978 blieb sie dem Tanz treu, bevor sie ihrer ersten großen Liebe nach Amerika folgte und das Tanzen aufgab.
1977, im Alter von 27 Jahren, begegnete Britt Kanja in Lugano ihrem späteren Ehemann William, einem wohlhabenden Amerikaner. Die beiden lebten in San Diego direkt am Strand. Sie selbst begann, Ernährungswissenschaften zu studieren. Nach ihrer Ankunft in den USA erlebte sie erst einmal einen Kulturschock, denn sie hatte nie zuvor so viele Menschen auf einmal erlebt, die nicht für sich selbst entscheiden konnten. Viele Menschen erschienen ihr fremdgesteuert und ohne innere Freiheit. „Ich dachte, ich bekomme jetzt keine Kicks mehr. Anfangs befiel mich eine Melancholie – ich dachte, außer William finde ich keine anderen verwandten Seelen.“ Außerdem habe der neue Luxus die Menschen um sie herum verändert: „Wenn ganz normale Menschen zu uns nach Hause kamen, wurden sie ganz anders. Die konnten damit nicht umgehen. Und auch ich musste erst mal lernen, mit dieser Situation zurechtzukommen, damit ich heimisch werden konnte.“ Aus dieser Erfahrung ist die Erkenntnis gewachsen: „Ich kann ganz reich sein und bleibe ich selbst. Und ich kann ganz arm sein und bleibe ich selbst. Dadurch kam die Gewissheit: Es ist wahr, ich kann mir selbst vertrauen. Denn ich kann nur geben, was ich selbst in mir trage.“ Kurze Zeit später begegnete sie einer Holländerin, die ähnlich empfand, sich auch als Fremdkörper fühlte und das gesellschaftlich auferlegte Korsett sprengen wollte. „Als wir uns anfreundeten, zogen wir prompt sämtliche Paradiesvögel an, denn zu jenem Zeitpunkt zogen viele Künstler wegen der Umweltverschmutzung in anderen Metropolen nach San Diego, ‚America‘s Finest City‘ ohne Verschmutzung und mit Sonne pur. Es fing an, mir richtig gut zu gefallen.“
Ihre Ehe zerbrach Ende 1983 unerwarteterweise – ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben. Als sie mit ihrem Mann auf dem Weg zum Flughafen war, weil sie ihre Mutter in Deutschland besuchen wollte, hielt er vor einem Anwaltsbüro, um sie zum Unterzeichnen der Ehe-Auflösungspapiere zu bewegen, was sie vehement verweigerte. Im Flugzeug nach Deutschland wurde ihr schlagartig bewusst, dass die Ehe vorbei war. Sie blieb in Berlin und fand Halt bei ihrer Mutter.
Zurück in Berlin – Aufstieg zur Ikone
Sie brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. „Ich habe fünf Monate lang kaum geschlafen“, blickt sie zurück, „ich war ein emotionales Wrack.“ In ihrer mental traurigen Zeit begegnete sie vielen Menschen, die ebenfalls große Verluste erlitten hatten. Irgendwann lernte sie jemanden kennen, der sich dann ebenfalls schlecht benahm, wie sie das zuletzt in ihrer Ehe erfahren musste. „Ich war hochgradig verletzt und wütend. Trotzdem war da während der Konfrontation eine innere Stimme in mir, die sagte: ‚Jetzt reagierst du als neutraler Freund. Ich habe mich ganz ruhig verabschiedet, ganz liebevoll.“ Hinterher fiel ihr auf, dass sie bereit für eine neue Bewusstseinsebene war und nicht mehr an das vergangene Leid gebunden war. Ohne Bitterkeit, dafür frei. Und dass sie vorher noch gar nicht fähig gewesen war, wieder neu zu lieben.
Als sie sich wieder gefangen hatte, erfand sie sich neu. In den 1980er-Jahren begann sie, zusammen mit Bob Young, Partys zu organisieren, die das Berliner Nachtleben revolutionierten. Zuerst eröffneten sie den Club Hermanns Fenster: „Das war zu einer Zeit des Aufschwungs. Alle, die Freude suchten, waren in Aufbruchstimmung und bereit, irgendwas zu machen. Also zog es sämtliche Schöngeister hierher, und wir haben die natürlich gesammelt“, schmunzelt sie. Spätestens mit der Gründung des legendären Clubs 90 Grad wurde Britt Kanja zur prägenden Figur einer kreativen Partyszene. Einmal pro Monat richtete sie ihre eigenen Themenpartys aus, zu denen die passende Deko gehörte. „Die Gäste habe ich immer nach ihrem inneren Glanz ausgewählt, nicht nach ihrem Status,“ erklärt sie. „Es ging mir darum, was sie ausstrahlen. Und ich habe vielschichtig geschaut.“ Künstlerinnen und Künstler, Bankiers, Royals – in ihren Clubs trafen sich alle. Mit ihrer sozialen Ader brachte sie die wohlhabenden Banker dazu, den Kunstschaffenden die Drinks zu spendieren. Britt Kanja schuf zusammen mit einem Team eine einzigartige Atomsphäre für Tanz, Lebensfreude und Miteinander. Es kam auch schon mal vor, dass man sie mit ihren Rollschuhen auf der Tanzfläche sah.
Die Party zu ihrem 58. Geburtstag war ihre letzte. Mit dem Ende des 90 Grad 2008 verabschiedete sich Britt Kanja aus dem Nachtleben. Es wurde Zeit für etwas anderes Kreatives. Sie entschloss sich, Fortbildungen an der Medienakademie zu belegen. Den Zugang bekam sie durch Zufall oder vielmehr durch „Synchronizitäten“, wie sie das perfekte Zusammentreffen von Energien und Aufmerksamkeit nennt. „Je wacher und wahrheitsliebender man ist, desto mehr können Synchronizitäten stattfinden“, ist sie überzeugt. In der Akademie traf sie eine frühere Bekannte wieder, die mit dem Besitzer verheiratet ist und ihr den Zugang zur Akademie vermittelte. Heute widmet sich Britt Kanja der digitalen Kunst, näht ihre eigenen Kollektionen, beschäftigt sich mit Philosophie, pflegt ihre Freundschaften und arbeitet als Advanced Model.
Bewusstsein und Gemeinschaft
Die Stilikone geht mit sehr viel Bewusstsein und Aufmerksamkeit durchs Leben, und sie ist äußerst dankbar: „Mir ist wirklich mein Leben lang geschenkt worden, dass das, was ich tue, mir auch Spaß macht und ich davon leben kann. Das wünsche ich jedem.“ Für Britt Kanja ist Zusammenwirken essenziell: „Gemeinschaft ist der Grund des Seins,“ betont sie. In einer Zeit, in der Isolation und Spaltung zunehmen, sieht sie große Chancen für die Gesellschaft: „Wenn wir lernen, zu uns selbst Ja zu sagen, können wir eine Welt voller Freude schaffen.“ Ihre Lebensphilosophie basiert auf Authentizität: „Es geht darum, die eigenen Schwächen anzunehmen und daraus Stärke zu gewinnen. Diese gelassene Energie ist ansteckend und der Keim für echte Gemeinschaft.“ Sie ist überzeugt davon, dass wir Menschen es schaffen können, wieder Verbindungen im Miteinander zu leben. „Je extremer die Welt wird, desto mehr Liebesfähigkeit dürfen wir in uns selbst entwickeln“, sagt Britt Kanja und lebt genau diese Haltung vor. Sie glaubt fest daran, dass Gemeinschaft und das „Wir“ der Schlüssel zu einer besseren Welt sind. Ihre Botschaft ist klar: „Die Welt ist, was wir aus ihr machen. Wenn wir mit Freude und Wahrhaftigkeit leben, sprechen wir das Beste in jedem Menschen an.“
Infobox
Britt Kanja
ist eine ehemalige deutsche Partyveranstalterin im Berliner Nachtleben. Sie gründete den Club 90 Grad mit und gilt als „Berliner Stilikone“.
Deine Meinung ?