Gesellschaft Politik

Feel Good Klimaschutz – Aufstand der Klimakleber

Letzte Generation Eastside Gallery Berlin

Ein Kommentar von Kerstin Müller

Das Land hat einen neuen Aufreger: die Klimakleber. Eine Gruppe junger Menschen hat den „Aufstand der letzten Generation“ ausgerufen und will durch umfangreiche Proteste in Berlin und anderswo in der Republik Druck auf die Bundesregierung machen, entschiedener gegen den Klimawandel vorzugehen. Seit Ende April legt die Gruppe mit Aktionen immer wieder den Verkehr lahm.

Weil die Aktivisten so moralisierend auftreten, sind weite Teile der Gesellschaft genervt – selbst solche, die eigentlich im grünnahen Milieu für mehr Klimaschutz sind. Auch ich muss zugeben, dass ich, wenn ich wegen der Aktionen mal wieder lange im Stau gestanden habe, die „total bekloppten“ Aktionen – persönliches Zitat des Bundeskanzlers – verflucht habe.

Im Ergebnis muss der sogenannte Aufstand wohl eher als kontraproduktiv gesehen werden – jedenfalls im Hinblick auf die Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft. Denn diese sinkt mit jedem Tag, je hitziger die gesellschaftliche Debatte geführt wird.
Dennoch: Das, was so mancher von verantwortlicher Stelle von sich gibt, ist nicht nur stark übertrieben, sondern muss ganz klar als hysterische Überreaktion bezeichnet werden: Der Regierender Bürgermeister von Berlin z. B. kündigt in einem Interview mit der BILD am Sonntag ein härteres Vorgehen gegen die Klimakleber an. Verhandlungen mit den Klimaklebern – wie in Hannover – schließt Wegner kategorisch aus. „Ich verhandele nicht mit Radikalen, die Straftaten verüben und mit erpresserischen Methoden arbeiten. Der Staat darf sich nicht erpressen lassen.“

Bitte was? Wegner vergleicht durch dieses Zitat von Helmut Schmidt die Klimakleber von heute mit dem gewaltbereiten Terror der RAF. 1977 war die damalige Bundesregierung unter Schmidt gleich mit zwei Terrorakten der RAF konfrontiert – der Entführung und späteren Ermordung Martin Schleyers und der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut durch vier palästinensische Terroristen. Schmidt lehnte mit diesen Worten Verhandlungen mit den Entführern ab. Ein solch maßloser und geschichtsvergessener Vergleich ist daher völlig überzogen und unverantwortlich.

Doch selbst die SPD fällt in diese Hysterie ein. Innenministerin Faeser rechtfertigt gar die beispiellose Aktion der Generalstaatsanwaltschaft am 24. Mai, bei der 15 Wohnungen und Büroräume der Letzten Generation bundesweit durchsucht wurden und lässt wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ermitteln. Straßenblockaden als Terrorakt? Die Klimakleber auf einer Stufe mit der Ndrangheta, Drogenmafia, internationaler Prostitution und Terroristen? Dieses völlig unverhältnismäßige Vorgehen erschüttert wohl eher den Rechtsstaat als die Aktivisten. Denn die §§ 129 ff. StGB fordern, dass das Ziel der Täter, die „Begehung schwerer Straftaten“ sein muss. Die Ziele der Klimakleber hingegen sind eher bescheiden: Tempo 100 und das 9-Euro-Ticket – die Sitzblockaden sind nur Mittel zum Zweck. Die Verantwortlichen in Politik und Teilen der Justiz setzen leider offensichtlich eher auf Eskalation statt auf Dialog.

Schon fühlt sich auch der „Normalbürger“ berufen, selbst zu handeln, weil „Polizei und Justiz die Kleber nicht schnell genug wegsperrt“, wie die Bildzeitung es fordert. Die Lage auf den Straßen ist inzwischen tatsächlich eskaliert. Autofahrer schlagen und treten auf Klimakleber ein und sind erstaunt, wenn die Polizei sie festnimmt und nicht die Aktivisten.

Lieber Leser, liebe Leserin,

selbst wenn die Aktionen der Klimakleber völlig kontraproduktiv für die Sache sind und auch wenn bei den Aktionen Straftaten begangen werden, die natürlich verfolgt werden müssen, so sollten wir uns zum einen doch erinnern, dass auch unsere Generation sich mit Straßenblockaden, also mit sogenanntem zivilem Widerstand gegen Wackersdorf, den „Atomstaat“ und eine aus unserer Sicht falsche Politik gewehrt hat. Und es sollten angesichts des Ausmaßes der verbalen Hetze gegen die jungen Aktivisten bei uns alle Alarmglocken klingeln. Eine derartige überzogene Kriminalisierung, erst recht indirekte Aufrufe zur Gewalt, sind hochgefährlich und können auch tödlich enden, wie die Geschichte schon häufiger gezeigt hat. Es war eine Kampagne rechter Medien und Politik, die zu dem Attentat auf Rudi Dutschke führte, den diese zuvor als „Volksfeind Nr. 1“ ausgerufen hatte. Auch der ehemalige israelische Premierminister Jitzchak Rabin wurde im November 1995 durch einen nationalreligiösen Extremisten erschossen, nachdem zuvor der Oppositionsführer Netanjahu Hand in Hand mit rechten Pressekampagnen massiv gegen Rabin und seinen Friedenskurs gehetzt hatte. Das Muster ist leider immer gleich: Verbale Hetze aus Teilen der Politik und der Boulevardpresse kann am Ende dazu führen, dass sich der sogenannte Normalbürger dazu berufen fühlt, den vermeintlichen Volkswillen zu vollstrecken. Daher überschreiten solch überzogene Maßnahmen und Aufrufe gegen die Klimakleber eine rote Linie. Politisch und journalistisch Verantwortliche müssen sich distanzieren – Wir brauchen Dialog statt Eskalation. Und wir müssen uns fragen, was ist eigentlich seit den großen Demonstrationen von Fridays for Future in 2019 passiert? Fast scheint es, als ob der Greta-Effekt völlig verpufft ist.

Wollen oder besser: Brauchen wir jetzt doch keine konsequentere Klimapolitik, um bis 2045 klimaneutral zu werden? Oder tut Klimaschutz, wenn er konkret wird, uns dann doch zu weh?

Die Fridays-for-Future-Demonstrationen waren 2019 noch von großen Sympathien quer durch die ganze Gesellschaft begleitet. Die Gesellschaft schien fast geeint.
Und jetzt? Auf einmal Krieg auf unseren Straßen, die Habeck`sche Wärmewende droht im allgemeinen Skandalgeschrei unterzugehen, und die Gesellschaft ist tief gespalten.

In der Folge der Ukrainekrise hat die Klimadebatte sich offensichtlich verändert – vor dem Hintergrund von hoher Inflation, steigenden Energiepreisen und drohendem „Weltkrieg“ haben sich wieder Fronten gebildet – Angst beherrscht die Debatte, die stärker ist als gute Argumente. Zwar haben Untersuchungen gezeigt, dass der Mainstream die Klimakrise durchaus ernst nimmt, aber wenn es darum geht, den Lebenswandel tatsächlich zu verändern, dann sind die Menschen zögerlich.

Was sind wir tatsächlich bereit für den Klimawandel zu tun und zu verändern?

Das ist wohl die zentrale Frage. Und genau hier legen die Klimaaktivisten den Finger in die Wunde. Denn – auch das zeigen die Untersuchungen – die meisten verstehen unter Veränderung eher einen „Feel-Good-Klimaschutz“. Will sagen: ein bisschen mehr Fahrrad fahren, regional und Bio einkaufen, weniger Fliegen – aber auf den SUV verzichten? „Ist doch nur ein kleiner und dazu noch hybrid (?!?)“. Und dann auch noch die gesamte Heizung ausbauen, Wärme dämmen, Solaranlage auf den Balkon? Es gibt doch zurzeit keine Handwerker dafür. Ist es nicht genau das, was gerade abläuft? Klimaschutz ja – aber er darf bitte nicht wehtun!

Sicher: Auch die Politik ist nicht ganz unschuldig an der Misere. Die Ampel vermittelt den Leuten nicht den Eindruck, dass die Gesellschaft für die Transformation eine große Anstrengung braucht. Aktuelles Beispiel: die Heizungsdebatte. Man müsste hier eigentlich eine Aufbruchstimmung vermitteln. Im Winter wurde ja durchaus viel erreicht – die Menschen haben mitgemacht. Aber Teile der Regierung, allen voran die FDP, machen gegen das Gebäudeenergiegesetz Stimmung und die SPD tut so, als gehe sie das Ganze nichts an. Die Bürger bleiben dabei verunsichert zurück. Die FDP wird als Bremser wahrgenommen, die Grünen als naiv, die SPD vermittelt, dass die Transformation zum Nulltarif zu haben sei. Die Konflikte in der Ampel spiegeln die Widersprüche in der Bevölkerung eins zu eins wider.

Weil die Politik nicht führt und uneins ist – und das bei einem der entscheidendsten Projekte der Koalition gegen den Klimawandel –, droht dieses zu scheitern.

Verheerend.

Was wir jetzt schnell brauchen, ist eine gemeinsame Anstrengung der Gesellschaft. Und das geht nur, wenn die Koalition sich endlich zusammenrauft und statt egoistischer kurzsichtiger Parteiinteressen der Bevölkerung vermittelt, dass wir alle die große Transformation gegen den Klimawandel dringend brauchen und dass diese eben nicht zum Nulltarif zu haben ist, sondern für jeden Einzelnen große Veränderung bedeuten wird.

Kerstin Müller

Staatsministerin im Auswärtigen
Amt a.D. (2002-05)
MdB Bündnis 90/Die Grünen 1994-2013, davon u.a. 8 Jahre Fraktionsvorsitzende
Senior Associate Fellow der DGAP,
Kuratorium Aktion Deutschland hilft,
Beiratsmitglied von ELNET