Seit zwölf Jahren Parteivorsitz der Berliner SPD, seit sechs Jahren Regierender Bürgermeister von Berlin – Zeit für eine Neuorientierung, erzählt uns Michael Müller. Mitten in die Diskussionen um Veränderungen im Roten Rathaus und die Weiterführung des Amtes kam Corona und hat zeitlich und emotional ordentlich gefordert. Wir sprachen mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller über die Herausforderungen dieser Krisenzeit, über seine Visionen von Berlin als Wissenschaftszentrum Europas und über seine Ideen und Pläne.
Mein/4: Im Januar dieses Jahres haben Sie angekündigt, den Parteivorsitz in der Berliner SPD abzugeben. Das hat eine Debatte um das Rote Rathaus ausgelöst. Nun haben Sie angekündigt, für den Bundestag kandidieren zu wollen. Wie fühlt man sich, wenn man neben diesen Entscheidungen und Diskussionen eine Stadt wie Berlin durch die Krise und die Ausnahmesituation regieren muss?
Müller: Das eine hat mit dem anderen nicht direkt etwas zu tun. Nach zwölf Jahren im Amt, habe ich im Januar den Rückzug vom Parteivorsitz bekannt gegeben. Das hat zu einer Diskussion geführt, wie es im Roten Rathaus weitergeht, aber das wird erst jetzt entschieden.
Dazwischen, das ist richtig, hat uns Corona aus der Bahn geworfen, auch in allen zeitlichen Abläufen, zum Beispiel mussten Parteitage verschoben werden. Vor allem hat es uns aber emotional sehr gefordert – und tut es noch. Es ist bedrückend zu sehen, wie viele Menschen erkranken und sterben.
Aber es hat an der grundsätzlichen Entscheidung nichts geändert, dass man einen langen Weg in der Partei beschritten hat und es nun mit einem neuen Team weitergeht.
Mein/4: Sie haben sich in der Corona-Krise sehr stark am Föderalismus orientiert. Sie wollten mit Berlin keinen Einzelweg gehen. Einige haben das als Führungsschwäche ausgelegt und neidvoll auf Herrn Söder nach Bayern geschaut. War das im Rückblick der richtige Weg?
Müller: Er hat ja keine besseren Zahlen, im Gegenteil. Es gibt einfach unterschiedliche Persönlichkeiten, die mit Themen unterschiedlich umgehen. Von Anfang an war mir eine weitgehende Abstimmung mit anderen Bundesländern wichtig – hundertprozentig geht das natürlich nicht, allein schon durch die regionalen Unterschiede. Das Virus macht ja nicht an Grenzen halt. Wenn ich eine Maßnahme beschließe, dann hat sie konkrete Auswirkungen auf Brandenburg oder Mecklenburg- Vorpommern, auf Sachsen-Anhalt, vielleicht auch auf Nordrhein-Westfalen – und umgekehrt genauso. Alleine durch Reisetätigkeiten.
Deshalb war es aus meiner Sicht wichtig, dass in allen Punkten, von Masken über Tests bis hin zur Gesundheitsversorgung mit Intensivbetten, eine bundesweite Abstimmung miteinander stattfinden muss, um allen Bundesbürgern eine bestmögliche Versorgung zu bieten. Wenn ich sehe, wie gut die Zahlen in Berlin, aber auch in Gesamtdeutschland in den vergangenen Monaten waren, fühle ich mich auch bestätigt.
Mein/4: Berlin hat relativ schnell 5.000 EUR Soforthilfe für kleine Unternehmen zur Verfügung gestellt und damit einen Sonderweg bestritten. Kann sich Berlin das eigentlich leisten?
Müller: Ja natürlich, Berlin musste sich das leisten. Die Alternativen wären zigtausend Pleiten gewesen. Das belastet uns natürlich auch. Einerseits finanziell, denn die Menschen werden ja trotzdem finanziell unterstützt, können aber keine Steuern mehr zahlen. Andererseits belastet es uns natürlich auch in unserem sozialen Gefüge, wenn Menschen ihren Mittelpunkt, ihre Arbeit, ihr kleines Unternehmen verlieren. Das hat auch soziale Folgen.
Deshalb war es wichtig, schnell zu helfen. Das geht natürlich nicht immer von heute auf morgen reibungslos. Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: Wir sind in einer weltweiten Krise. Dass innerhalb weniger Tage gut geholfen werden konnte, das war wichtig. Es ist unterm Strich auch geglückt. Wir haben diesen, wie Sie sagen „Sonderweg“ gewählt, weil wir besondere Wirtschaftsstrukturen mit den vielen kleinen selbstständigen Unternehmerinnen und Unternehmern haben. In Baden-Württemberg oder Bayern ist das anders, die haben große Industrieunternehmen. Wir haben die Start-ups, die kleinen Einzelhändler, Handwerker, Kulturschaffende, viele Soloselbstständige. Deshalb mussten wir mit einem speziellen Programm für sie sehr schnell reagieren.
Mein/4: Berlin ist stark abhängig von den Touristen, die Berlin besuchen – egal ob kleine Geschäfte, Gastronomie, Hotels oder der Kulturbereich. Die Touristen bleiben aus beziehungsweise kommen nur zögerlich wieder. Rechnen Sie mit einer Insolvenzwelle im Herbst?
Müller: Das ist sehr schwer zu sagen. Momentan haben wir viele Menschen in Kurzarbeit, das verschafft Unternehmen und Arbeitnehmern Luft, um eine Krise zu überstehen. Wenn sie sehr lange andauert, wird möglicherweise auch Kurzarbeit nicht mehr helfen. Ich befürchte, dass wir auch Insolvenzen erleben werden. Auch an der Hotellerie und Gastronomie wird diese lange Phase des Einnahmeausfalls nicht spurlos vorübergehen. Ob das wirklich massenhaft der Fall sein wird, ist im Moment noch nicht abzusehen, das hängt von so vielen Faktoren ab: Wie schnell erholt sich der Flugverkehr? Was passiert in anderen Ländern? Wie schnell können und wollen zum Beispiel Italiener, Spanier oder Amerikaner wieder reisen? Das haben wir nicht alleine in der Hand. Deshalb gibt es bei solchen Prognosen viele Unsicherheiten.
Mein/4: Wie beurteilen Sie die Berliner in der Krise?
Müller: Die Berlinerinnen und Berliner sind toll. Wenn wir immer so selbstverständlich sagen können, dass wir niedrige Zahlen haben, ist uns viel geglückt. Und dann ist uns deshalb so viel gelungen, weil so viele Berliner diszipliniert diesen Weg mitgegangen sind.
Gleichwohl steigen auch in Berlin die Zahlen wieder. Wir müssen also weiterhin vorsichtig sein und uns an die Abstands- und Hygieneregeln halten. Die Politik hat einen Weg vorgegeben, auch finanziert und ausgestattet, aber die Berlinerinnen und Berliner haben diesen Weg mitgetragen: Sie haben Abstand gehalten, Masken getragen, sind zu Hause geblieben. Das hat alles eine große Rolle dabei gespielt.
Umso ärgerlicher ist es, dass diese gemeinsam erreichten großen Ziele von einigen wenigen infrage gestellt oder kaputt gemacht werden – von Corona-Partys über Schlauchboot-Partys bis hin zu Demonstrationen der Corona-Leugner, bei denen die Menschen nicht auf Abstand achten und keine Maske tragen. Das sind im Vergleich zu einer Vier-Millionen-Stadt einige wenige – aber wenige, die sehr viele gefährden.
Mein/4: Viele Demonstranten kommen von außerhalb Berlins. Wer als Demonstrant etwas auf sich hält, demonstriert in Berlin, nicht in Stuttgart. Ärgert Sie das?
Müller: Man möchte ja Bilder, die um die Welt gehen. Da will man das Kanzleramt, den Reichstag, die Siegessäule oder das Brandenburger Tor im Hintergrund haben, damit weltweit erkannt wird, wo demonstriert wird. Das ist Fluch und Segen der Hauptstadt. Damit muss man umgehen. Und wir freuen uns ja auch, dass sich so viele für uns interessieren. Dadurch interessieren sich auch viele Demonstranten für uns.
Mein/4: Ihr Weg führt Sie in die Bundespolitik …
Müller: Schauen wir mal. Ich kandidiere …
Mein/4: … so ist zumindest die grobe Planung? Was reizt Sie daran, für den Bundestag zu kandidieren? Ist das ein nächster Schritt? Eine andere Form der Politik?
Müller: In einem Stadtstaat wie Berlin kommt es nicht so sehr darauf an, auf welcher Ebene man Politik macht – es ist immer eine Mischung aus Weltpolitik und Kommunalpolitik. Die Berliner erwarten von einem Regierenden Bürgermeister, dass er in Washington so wahrgenommen wird wie im Kiez um die Ecke. Und dass er sich um den Weltfrieden kümmert und um die umgefallene Parkbank. Das ist in einem Stadtstaat so und das ändert sich auch nicht, wenn man Bundestagsabgeordneter wird. Das macht es schön und spannend zugleich. Es ist nicht anonym oder abgehoben und weit weg von den Themen der Berlinerinnen und Berliner, es ist ganz nah.
Was jetzt wirklich neu wäre: dass ich auch viele kommunalpolitische Erfahrungen, die ich als Senator und als Bürgermeister gesammelt habe, auf eine andere Ebene mitnehmen kann – zum Beispiel Themen wie die Veränderung der Städte, Mobilität, das Mietenproblem oder Migrationsthemen, die bei uns jeden Tag eine Rolle spielen. Diese Themen kann ich in die Debatten des nationalen Parlamentes, des Deutschen Bundestages, tragen.
Mein/4: Die mediale Präsenz eines Bundestagsabgeordneten ist nicht zu vergleichen mit der eines Regierenden Bürgermeisters?
Müller: Als Regierender Bürgermeister ist man in der Stadtpolitik die Nummer eins. Und man wird auch entsprechend wahrgenommen – mit allen Vor- und Nachteilen. Man wird für alles verantwortlich gemacht. Aber man kann auch auf alles oder sehr vieles Einfluss nehmen. Das ist das Tolle an der Aufgabe. Damit einher geht auch eine entsprechende mediale Präsenz. Im Bundestag sitzen rund 700 Abgeordnete, da muss man sich seinen Platz, auch seinen medialen Platz, erst mal erkämpfen. Aber in den letzten 20 Jahren ist mir das schon gelungen, in der jeweiligen politischen Situation wahrgenommen zu werden. Da mache ich mir keine Sorgen.
Mein/4: Ihr ganz persönlicher Ausblick für die nächsten zwei bis drei Jahre auf die Stadt Berlin? Was erwarten Sie?
Müller: Ich erwarte zum einen, dass uns Corona und die Folgen noch massiv beschäftigen, insbesondere mit Blick auf den Gesundheits- und Wirtschaftssektor. Aber auch die sozialen Folgen der Pandemie werden uns noch lange verfolgen. Ich erwarte aber auch, dass Berlin sich möglicherweise schneller erholt als andere Bundesländer, gerade durch unsere kleinteilige Wirtschaftsstruktur mit ihren Start-ups und Digitalunternehmen.
Meine Hoffnung und mein mittelfristiger Ausblick: dass Berlin das Wissenschaftszentrum Europas wird. Wir haben schon jetzt so viel zu bieten mit unseren universitären und außeruniversitären Einrichtungen, mit den Stiftungen, den vielen klugen Köpfen, wie zum Beispiel den Virologen der Charité, die weltweit wahrgenommen werden. Ich glaube, wir haben eine Riesenchance, Europas Wissenschaftszentrum zu werden. Diese Chance sollten wir nutzen, denn daran hängen auch viele Arbeitsplätze und Investitionen.
Mein/4: Also mehr Investitionen in den Wissenschaftsstandort Berlin?
Müller: Auf jeden Fall. Dadurch, dass mitunter verschiedene Schwerpunkte bei den Investitionen gesetzt werden, haben manche nicht im Blick, dass viele Gelder in den Wissenschaftssektor fließen. Wenn wir 400 Millionen Euro in das Herzzentrum investieren, 600 Millionen Euro in das Naturkundemuseum und 100 Millionen Euro in das Berliner Institut für Gesundheitsforschung, dann sind das zwar unterschiedliche Akzente, aber es handelt sich alles um Wissenschaftsinstitutionen. Seit Jahren investieren wir mit riesigen Beträgen in den Wissenschaftsstandort Berlin, der sich dadurch immer stärker weiterentwickelt.
Mein/4: Also die Abkehr vom Credo „arm, aber sexy“, die Partyhauptstadt?
Müller: Klaus Wowereit wurde auch oft diffamiert: nur Spaß, nur Party. Aber dahinter steckte ein ernsthafter Gedanke. Wowereit hat Berlin als Kultur- und Kreativmetropole gestärkt. Dort hängen auch viele Arbeitsplätze dran. Die sind mir wichtig. Aber man muss auch sagen, dass es unterschiedliche Phasen der Stadtentwicklung gibt. Und ich glaube, in der jetzigen Phase haben wir eine große Chance, mehr für Berlin zu erreichen. Das bedeutet nicht, zugunsten des einen das andere zu lassen. Kultur gehört zur DNA Berlins. Mit der Wissenschaft können wir aber noch mal einen obendrauf setzen.
Mein/4: Sind Kultur und Lebensqualität in der Stadt nicht auch der Magnet für die Wissenschaft?
Müller: Auf jeden Fall! Auch die 200.000 Studierenden in Berlin kommen ja, weil sie sich in der Stadt wohlfühlen. Sie studieren hier, finden hier ihren Arbeitsplatz, gehen auch wieder weg, aber es kommen auch viele zurück und gründen hier ein Unternehmen. Das heißt, das ganze Umfeld der Stadt schafft ein Klima für Investitionen und Arbeitsplätze.
Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.
Michael Müller, Reg. Bürgermeister von Berlin, geb. 1964 in Berlin, verheiratet, zwei Kinder. Seit 11. Dezember 2014 Regierender Bürgermeister, Wahlbezirk: Tempelhof-Schöneberg
Erschienen in mein/4-Heft 3-2020.