Sie habe ja nur ein Jahr Zeit gehabt, sich zu beweisen. Bitte? Man reibt sich verwundert die Augen. Ach so, sie meint unter ihrer Führung und unterschlägt dabei, dass die SPD in wechselnden Konstellationen nun bereits 21 Jahre Berlin regiert. Der Unmut vieler Bürgerinnen und Bürger liegt daher viel tiefer. Das fängt mit dem Chaos bei den Wahlen im September 2021 an: Für viele waren die stundenlangen Schlangen an den Wahlurnen, fehlende und falsche Wahlzettel, überforderte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und parallel noch der Marathon nur die Spitze des Eisberges und die angeordnete Wiederholung der Wahl nicht wirklich eine Überraschung. Denn jeder Mensch, der schon mal versucht hat, bei den Berliner Bezirken einen Termin zu bekommen, ob nun für den neuen Ausweis oder eine Baugenehmigung, weiß, dass es mindestens drei bis sechs Monate dauern kann.
Und schon so lange wie die SPD in Berlin regiert – mit wem auch immer –, so lange redet sie davon, dass das Thema Verwaltungsreform beim nächsten Mal angepackt wird. Passiert ist nix. Sogar der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Andreas Geisel wird nicht entlassen, sondern kann mit neuem Amt einfach weitermachen. Unfassbar. Davon hatten jetzt die Wählerinnen und Wähler die Nase voll: „Es reicht“ – ist die klare Botschaft. Denn nicht nur für die vergeigte Wahl, vor allem auch für das Pingpongspiel der Behörden macht eine Mehrheit die SPD verantwortlich, genauso wie für die Wohnungsnot, die maroden Schulen und die fehlenden 10.000 Schulplätze, den Lehrermangel und vieles mehr. Etwas ungerecht zwar, aber die komplett überforderte Schulsenatorin Busse, bei der auch gestandene SPDlerinnen beschämt die Augen senkten, hat diesem Image noch den Rest gegeben. Erstaunlich eigentlich, dass die SPD angesichts dieser desaströsen Bewertungen der Wählerinnen und Wähler nur drei Prozent verloren hat. In der Verkehrspolitik ist die Debatte polarisiert: Diejenigen, die weiter ungestört Auto fahren möchten und etwa in den Außenbezirken schlechtere ÖPNV-Anbindungen haben, machen Die Grünen für die „schlechte Verkehrspolitik“ verantwortlich und lehnen eine autofreie Innenstadt, wie in der Friedrichstraße, ab. Diejenigen, die vor allem in den Innenstadtbezirken mehr Radwege, weniger Autos und Parkplätze wollen, haben Grün gewählt und das, obwohl auch hier – vor allem wegen des Zuständigkeitschaos – der Radwegebau mit 4,2 Prozent krass hinter dem geplanten Radwegenetz hinterherhinkt.
Insgesamt ist jedenfalls die amtierende Koalition mit 74 Prozent Unzufriedenheit die unbeliebteste Koalition Deutschlands und hat konsequenterweise daher auch die Quittung von den Wählerinnen und Wählern bekommen.
Traut man nun der CDU eher die Lösung dieser Probleme zu? 50 Prozent der CDU-Wählerinnen und -Wähler geben an, die Partei aus Frust und Enttäuschung gewählt zu haben: 60.000 SPD- und 17.000 Grün-Wählerinnen und -Wähler sind dieses Mal zur CDU gewechselt. 37 Prozent sind gleich gar nicht mehr wählen gegangen. Aber gerade deshalb wäre es auch verheerend, wenn man diesen deutlichen Protest ignorieren und einfach zur Tagesordnung übergehen würde. Genau das scheinen SPD, Grüne und Linke aber vorzuhaben: einfach weiter so. Nach dem Motto: „Das ist nun mal so in der parlamentarischen Demokratie – die Mehrheit regiert“. Wirklich? Bei vergangenen Wahlen konnte man sehen, was passiert, wenn man den Willen der Wählerinnen und Wähler so sträflich ignoriert: Der Frust wird noch stärker und damit vermutlich auch die CDU, vielleicht auch die AfD oder die Fraktion der Nichtwählerinnen und -wähler. Für die Demokratie ist das eine Katastrophe – der ohnehin schon vorhandene Vertrauensverlust wächst.
Daher müssen jetzt die regierenden Parteien dieses Signal ernst nehmen und über die Lager hinweg ernsthafte Gespräche führen – und nicht nur solche, die ihrem aktuellen Machterhalt dienen. Die SPD hatte sich wie immer eine große Koalition offengehalten. Mit am Ende nur 113 Stimmen Vorsprung vor den Grünen scheint sie nun davon nichts mehr wissen zu wollen, weil sie auch als Zweitplatzierte im Roten Rathaus bleiben könnte. Eine große Koalition wäre allerdings wie Mehltau für die Probleme der Stadt. Denn große Koalitionen sitzen Probleme meist aus, statt sie zu lösen. Wenn Kai Wegner das ernst meint, mit dem „echten Neuanfang“ für die Stadt, dann ist das Schielen auf eine Koalition mit der SPD ein Rohrkrepierer. Stattdessen müsste er jetzt ernsthaft mit den Grünen verhandeln – was auch hieße von den „Bäumen“ herunterzukommen und den Grünen ein gutes Angebot zu machen, gerade bei den Konfliktthemen Verkehr und Integration. Er will die Spaltung der Stadt überwinden und zusammenführen.
Im Wahlkampf war die CDU aber Teil der Spaltung, z. B. Auto gegen Fahrrad. Oder die unselige Forderung nach der „Vornamenabfrage“ nach der Silvesternacht. Wegner hatte sogar fast eine Koalition mit den Grünen ausgeschlossen, obwohl man doch inzwischen weiß, dass eine solche Ausschließeritis ein großer Fehler ist. Aber auch Die Grünen können 17.000 zur CDU abgewanderte Wählerinnen und Wähler nicht einfach ignorieren. Gerade die Partei, die die Demokratiefahne immer so hoch hängt, sollte jetzt keine Politik betreiben, mit der sie dem Vertrauensverlust in die Demokratie auch noch Vorschub leistet und diesen verstärkt.
Die Grünen Berlin müssen daher glaubwürdig mit der CDU sondieren, wo Kompromisse denkbar sind. Aber bei vielen aus dem Berliner Landesverband scheint die Bereitschaft dafür nicht sehr groß – man habe „kaum inhaltliche Schnittmengen mit der CDU“, so Finanzsenator Wesener, und man habe bereits im Wahlkampf „eine Priorität für ein progressives Bündnis“ genannt. Ein progressives Bündnis? Die Grünen sprechen damit einem Bündnis mit der CDU von vornherein ab, „progressiv“ zu sein. Ernsthaftes Sondieren geht anders. Dabei sind die Konfliktthemen Verkehr und Enteignung mit Giffey genauso umstritten wie mit Kai Wegner.
Vor allem aber könnte ein solches Bündnis auch für Die Grünen eine große Chance sein. Seit Jahren verharren sie in der Hauptstadt mit einem sehr linken Profil weit unter ihrem Potenzial. Sie schaffen es nicht, ihre Wählerschaft in weitere bürgerliche Schichten auszubauen. Eigentlich müssten sie diejenigen sein, die mit 28 statt mit 18 Prozent aus den Wahlen hervorgehen – aber genügsam feiert man am Wahlabend ein wiedererlangtes „bestes Ergebnis“ als Erfolg trotz des Wählerverlustes. Wenn aber beide Seiten versuchen würden, Konfliktthemen zu überbrücken, dann könnte eine solche Koalition tatsächlich die Spaltung in der Stadt überwinden helfen. Leider wurde das von keiner Seite im Vorfeld vorbereitet.
So steht denn mal wieder die Stadt Berlin vor einem Scherbenhaufen: Mehltau oder Weiter-So-Koalition sind die beiden realistischen und gleichzeitig unattraktiven Alternativen. Die einzige wirklich spannende Koalition, Schwarz-Grün, die einen „Neuanfang“ für die Stadt darstellen könnte, wie ihn viele sich wünschen, wird von der Lagermentalität der ehemaligen Frontstadt auf beiden Seiten blockiert.
Schade für die Demokratie und für Berlin sowieso!
Kerstin Müller
Staatsministerin im Auswärtigen
Amt a.D. (2002-05)
MdB Bündnis 90/Die Grünen 1994-2013, davon u.a. 8 Jahre Fraktionsvorsitzende
Senior Associate Fellow der DGAP,
Kuratorium Aktion Deutschland hilft,
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