Der Senator für Kultur und Europa, Dr. Klaus Lederer, möchte besonders für jene einstehen, die nicht so glimpflich durch die Pandemie kommen. Er hegt Visionen und setzt große Hoffnungen in das vielfältige Berlin, in dem die Menschen (wieder) gern leben und in das die Menschen (wieder) gern reisen.

Mein/4: Auf den Fotos im letzten Jahr sahen alle glücklich aus. Es wirkte, als habe es keine Probleme in den Koalitionsverhandlungen gegeben?

Lederer: Es war ja nicht unbedingt zu erwarten, dass SPD, Grüne und Linke in Berlin weiter miteinander regieren. Insofern waren alle auf harte Koalitionsverhandlungen eingestellt. Dass dann aus den laufenden Gesprächen – auch über die Kontroversen – wenig nach draußen gedrungen ist, erwies sich schon als eine Stärke. Alle merkten: Man kann in geschützten Räumen über alles reden. Das hat Vertrauen aufgebaut und deshalb waren es freundliche Bilder, weil wir freundlich miteinander gearbeitet haben.

Mein/4: Sie sind mit Andreas Geisel zusammen der „alte Hase“. Jetzt sind Sie derjenige, den alle um Rat fragen. Können Sie mittlerweile Sachen ruhiger angehen, weil Sie aus Ihrer Erfahrung schöpfen können?

Lederer: Dass man nach fünf Jahren im Senat schon zu den Dienstältesten gehört, ist ein komisches Gefühl. Dass ich in meinem Ressort geblieben bin, macht mich im Amt bestimmt auch nicht weniger leidenschaftlich, aber ich habe den Vorteil, nicht alles neu lernen zu müssen. Ich muss mich auch nicht mit den Fallstricken und Herausforderungen, die das Kultur- und Europa-Ressort mit sich bringt, neu beschäftigen. Aber natürlich bedeutet ein völlig neuer Senat auch für mich ein Infragestellen von Routinen. Wir haben jetzt am 31. März die ersten 100 Tage hinter uns. Für alle Senatsmitglieder, die ihre Stäbe neu aufbauen und in die Themen reinkommen mussten, war das eine ziemliche Herausforderung. Von einer Schonfrist war da nichts zu merken. Aber wir haben alle erste Vorhaben hinbekommen und was ich spüre, ist der deutliche Wunsch nach einer besseren Zusammenarbeit und eine noch größere Verbindlichkeit im Miteinander. Insofern bin ich zuversichtlich, dass wir für die Berlinerinnen und Berliner und die ganze Stadt viel Positives entwickeln können.

Mein/4: Aber erst einmal mussten Sie weiterhin praktisch Feuerwehrmann sein, weil immer noch sehr stark Corona die Debatten und die Politik bestimmt. Ist denn jetzt Land in Sicht?

Lederer: Bei allem, was jetzt ab März wieder möglich ist und worauf ich mich auch sehr freue, bin ich nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre weiter vorsichtig damit, gleich das Ende der Pandemie vorherzusagen. Dennoch hoffe ich wie alle im Senat, dass mit Omikron der Übergang in die endemische Phase erfolgt ist und wir von weiteren Zumutungen im Herbst und Winter weitgehend verschont bleiben. Mir war von Anfang an wichtig, die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure in der Kultur, der Freien Szene, in landeseigenen Kulturbetrieben, Soloselbstständige und privatwirtschaftliche Kulturveranstalter, von den Clubs bis zu den Privattheatern, schnell und gut zu unterstützen. Von Förderprogrammen und Hilfsmaßnahmen über die Erstellung von Hygienerahmenkonzepten bis hin zu sehr konkreten Hilfen im Einzelfall – das alles gehört dazu. Das ist jetzt auch nicht vorbei. Wir müssen weiter die Folgen bewältigen und das beschäftigt uns natürlich, selbst wenn das Leben wieder weitgehend normal läuft. Im Senat haben wir gerade als einen der ersten großen ١٠٠-Tage-Punkte den Entwurf für den Landeshaushalt beschlossen. Ich bin sehr froh und habe mich stark dafür eingesetzt, dass wir nicht mit der Abrissbirne durch den Kulturhaushalt gehen werden. Denn die Gefahr besteht ja. Viele kommunale Haushalte werden durch die Pandemie unter großen Druck geraten und bei den sogenannten freiwilligen Aufgaben sparen, wozu eben auch die Kultur gehört.

Mein/4: Und in Berlin wird das anders sein?

Lederer: In unserer Regierungskoalition haben wir verabredet, dass das nicht unsere Linie ist. Wir können sogar neue Schwerpunkte setzen, wenn auch bei weitem nicht in dem Maß wie vor der Pandemie. Mit unseren Soforthilfen für private Kulturbetriebe haben wir tatsächlich ein großflächiges Wegbrechen in den Kultursektoren verhindern können. Diese Hilfe muss jetzt umgestrickt werden auf Investitions- und Kredithilfen. Wir werden weiter unsere Möglichkeiten einsetzen, um die ganz unterschiedlichen Härten für die Betroffenen so weit wie möglich aufzufangen. Wir sehen ja, dass sich etliche Künstlerinnen und Künstler, die als Soloselbstständige unterwegs waren, umorientiert haben und heute zum Teil in anderen Berufen tätig sind. Das gilt auch für Freiberuflerinnen und Freiberufler aus der Veranstaltungsbranche mit entsprechenden Folgen für die Veranstalter, die teilweise händeringend Leute suchen. Da ist es umso wichtiger, für jene einzustehen, die nicht so glimpflich durch die Pandemie gekommen sind. Dann wollen wir weiter dezentrale und niedrigschwellige Kulturangebote in der ganzen Stadt bereitstellen. Im Vergleich zu den großen Institutionen ist die dezentrale Kulturarbeit ja besonders verletzlich. Sie zu schützen und zu fördern ist nicht nur eine Frage von Kulturpolitik, sondern einfach von Fairness gegenüber allen Einwohnerinnen und Einwohnern dieser Stadt. Das kostet natürlich auch Geld. Wir wollen zum Beispiel die Bibliotheken stärken, das sind die meistbesuchten Kultureinrichtungen der Stadt. Sie müssen in den Bezirken personell besser ausgestattet werden. Das gehört einfach zum Angebot kultureller Teilhabe. Aber wir wissen auch, dass die Ausstattung der Zentral- und Landesbibliothek eigentlich seit Jahrzehnten nicht mehr ausreichend ist, erst recht nicht, wenn man heutige bauliche Ansprüche an moderne Bibliotheken hat. Immer wieder stellt sich für mich angesichts der begrenzten Ressourcen die Frage, wie sie durch gemeinschaftliche Nutzung mehr Akteurinnen und Akteuren zugutekommen könnten – etwa in der Kooperation zwischen freien Strukturen und institutionalisierten Kulturbetrieben. Zum Teil geschieht das schon, etwa wenn das Konzerthaus in der Pandemie seine Bühne freien Ensembles zur Verfügung stellt. Auch die Opern- und Schauspielhäuser arbeiten schon lange immer mal wieder mit Künstlerinnen und Künstlern der Freien Szene. Da ist sicher noch mehr möglich. Denn es gibt überall Mehrbedarfe, dafür sorgen schon allein die Inflation und die Tariferhöhungen. Theater, Museen, Opern, Orchester, diese Einrichtungen der sogenannten Hochkultur, nichts davon möchte man missen, alles verdient Unterstützung. Deshalb haben wir uns zum Beispiel darauf verständigt, auch in Zukunft die Kosten von Tariferhöhungen auszugleichen. Wir haben beim Friedrichstadt-Palast das Sanierungsvorhaben vorgezogen, wir werden die Komische Oper baulich erneuern. Die Baumaßnahmen an der Deutschen Oper und im Theater an der Parkaue laufen weiter. Wir müssen Wege finden, trotz knapperer Investitionsmittel die Berlinische Galerie, das Bröhan-Museum und das Brücke Museum auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen. Das sind Gebäude und Einrichtungen, die schon lange keine Infrastruktur-Investitionen gesehen und sich in ihren Nutzungsanforderungen einfach verändert haben. Jetzt hoffe ich aber erst einmal, dass sich die Sorge einiger Kulturbetriebe nicht bewahrheitet, die Menschen hätten sich in den vergangenen zwei Jahren vielleicht abgewöhnt, unter Menschen zu gehen. Da bin ich sehr zuversichtlich: Immer nur Netflix wird ja irgendwann auch langweilig.

Mein/4: Als Kultursenator hat man Visionen und will etwas über den Tag hinaus verändern. Gibt es etwas, dass Sie in Berlin aktuell wieder angehen wollen?

Lederer: Ein Drittel der letzten Legislaturperiode war in der Tat mehr oder weniger Pandemiemanagement, und ganz viele der strategischen Dinge konnten in der Zeit nicht mit der Priorität verfolgt werden. Egal, ob das jetzt die Schaffung bzw. Sicherung von Arbeits- und Präsentationsräumen für Kunst und Kultur war oder die Stärkung der sozialen Dimension im Kulturbereich, also der Einsatz gegen prekäre Arbeitsbedingungen. Da will ich weiterkommen. Ein spannendes Thema ist auch das nach der ökologischen Transformation des Kulturbetriebs. Museen und Opern sind ja auch Energiefresser. Um die Frage aufzuwerfen: Kann man nicht umweltbewusster Kunst produzieren, als das vielleicht in der Vergangenheit der Fall war?

Dann ist mein Ziel, mit einem Jugendkulturticket für Kinder und Jugendliche die Möglichkeit zu schaffen, sehr niedrigschwellig und ohne große Kosten, Berliner Kultureinrichtungen zu besuchen. Wir haben jetzt schon über den Jugendkulturservice Möglichkeiten, Theaterbesuche von Jugendlichen finanziell zu unterstützen, wir haben den Museumssonntag bei freiem Eintritt einmal im Monat. Ich finde es gut, wenn Kinder und Jugendliche, die in der Pandemie besonders gelitten haben, mit ihren Freundinnen und Freunden oder mit ihrer Familie ins Theater, ins Museum gehen können, auch wenn ihre Familien wenig Geld haben. Prinzipiell gilt, dass die Teilhabe an Kunst und Kultur bei erwachsenen Menschen nicht zuletzt davon abhängt, ob sie als Kinder die Möglichkeit einer Berührung mit Kunstwerken, mit Literatur, Theater und Musik hatten, die nicht rein kommerziell ist. Auch deshalb kann man Kinder und Jugendliche gar nicht großzügig und früh genug mit Kultur in Kontakt bringen. Aber erst einmal stecken wir jetzt unsere Kraft in den Kultursommer. Da soll es in Berlin, über die ganze Stadt verteilt, kostenfreie Kulturangebote geben. Ich hoffe, dass die Bezirke und landeseigenen Unternehmen mitziehen und dass auch die Umwelt- und Klimaschutzverwaltung mit uns an einem Strang zieht. Damit wir hier tatsächlich ein Fest der Lebensfreude im Sommer erleben! Nach dem langen Verzicht nehme ich schon eine Sehnsucht wahr, wieder etwas unbefangener mit anderen Menschen gemeinsam was erleben zu können. Das bedeutet für die Künstlerinnen und Künstler, egal ob aus der Freien Szene oder aus den großen landeseigenen Kultureinrichtungen die Möglichkeit, sich auch mal in einem anderen Umfeld und vor einem anderen Publikum zu zeigen.

Mein/4: Was ist konkret beim Kultursommer geplant? Richtet er sich mehr an die Berlinerinnen und Berliner oder an Touristen?

Lederer: Wir wissen, dass wieder viele Gäste in unsere Stadt kommen werden, weil sie das Kulturangebot schätzen, und sie werden hier Kultur erleben und den Sommer genießen. Wir unterscheiden aber nicht zwischen Berlinerinnen und Berlinern und den Gästen. Es ist ein Angebot für alle. Wir möchten die Breite des Kulturangebots in diesem Kultursommer adressieren – von Kabarett und Musik über Lesungen bis zu Tanz und bildender Kunst soll alles einen Raum finden. Derzeit schauen wir nach Orten, die sich in der Stadt dafür eignen. Wie kriegen wir in der ganzen Stadt solche Begegnungsort hin, solche Zauberoasen, solche Kulturorte? Diese dann mit Programm zu füllen, ist angesichts der Vielfalt des Berliner Kulturangebots wahrscheinlich noch die geringste Herausforderung. Die vier Monate bis dahin sind nicht viel Zeit, aber wir arbeiten jetzt schon mit Feuereifer, manche Dinge werden wir auch improvisieren müssen. Derzeit hoffe ich, dass die Fête de la Musique der Auftakt sein wird und dass wir danach vielleicht über die Sommerferien hinweg bis in den September hinein in der Lage sind, über die Stadt verteilt Kultur erlebbar zu machen. Vielleicht gelingt damit, und das würde mich besonders freuen, dass ein paar der Verletzungen, die viele Menschen in den vergangenen zwei Jahren über die Coronapandemie erlitten haben, daran auch wieder heilen können. Berlin ist eine Stadt, in der viele Menschen auf sehr unterschiedliche Art und Weise glücklich werden können. Meine Vision wäre, dass wieder mehr Menschen die Kraft, die Lust und auch die Hoffnung wiedergewinnen, daran zu arbeiten, damit es sich für uns alle lohnt.

Mein/4: Auf Instagram haben Sie auch Posts vor der Gethsemanekirche veröffentlicht. Es ist ein geschichtlicher Ort, ein Ort der friedlichen Revolution, der gekapert wurde und Sie haben sich dafür engagiert, Flagge zu zeigen. Erzählen Sie uns davon.

Lederer: Wir haben ja gerade von erlittenen Verletzungen während der Pandemie gesprochen, aber wenn mich etwas geärgert hat, dass in dem Zusammenhang so oft von einer Spaltung der Gesellschaft geredet wird. Die sehe ich so nicht. Jeden Tag lässt sich in Berlin ein Vielfaches an Menschen impfen im Vergleich zu denjenigen, die wöchentlich in Gesamtdeutschland zum Teil noch immer auf die Straße gehen. Den Versuch, die Erinnerung an die friedliche Revolution in der DDR quasi zu kapern und hier Parallelen herzustellen zwischen autoritären, repressiven Verhältnissen und den heutigen Verhältnissen, finde ich absolut absurd. Ich glaube auch nicht, dass Rechtspopulisten und Neonazis diese Proteste vereinnahmt haben, sondern dass sie von Anfang an dabei waren und diese auch initiiert haben, um letztlich ihre Agenda voranzubringen, die die demokratischen Verhältnisse delegitimieren soll. Deswegen fand und finde ich das ganz großartig, dass hier in meiner Nachbarschaft so viele Menschen ein „Es reicht, wir machen das nicht mit!“ formuliert haben und dass sich daraus ein Netzwerk gebildet hat, was dann jeden Montag gesagt hat: „Wir geben diesen Platz nicht preis! Diesen Ort der friedlichen Revolution vor der Gethsemanekirche lassen wir nicht durch diese selbsternannte Querdenker-Bewegung vereinnahmen.“

Mein/4: Wir sprachen schon mal über die Verrohung der Gesellschaft. Was mich persönlich mit Sorge erfüllt ist, dass sich Menschen teilweise so außerhalb der Gesellschaft befinden. Ich frage mich: Wie kriegt man sie zu einem Gespräch und wieder integriert?

Lederer: Ich glaube, dass es dafür kein Patentrezept gibt. Was ich wahrnehme ist, dass Menschen, die ihre Position quasi als unangreifbare Position in den Raum stellen, dafür auch immer ein riesengroßes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit bekommen. Wenn wir über eine Spaltung in unserer Gesellschaft reden wollen, sollten wir über soziale Spaltung reden. Wir sollten über diejenigen sprechen, deren Lebensverhältnisse und Perspektiven im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle spielen. Wenn jemand als Arzt gefälschte Coronazertifikate ausstellt, erreicht er sofort eine Öffentlichkeit. Aber Menschen, die wirklich jeden Tag sehen müssen, wie sie unter ihren schwierigen Lebensbedingungen durchkommen, die finden kaum Widerhall. Ich meine da nicht nur die Beschäftigten im Gesundheitswesen, im Einzelhandel oder in den kritischen Infrastrukturen, sondern auch Menschen, die geflüchtet sind, die obdachlos sind, ein geringes Einkommen haben oder auf Transferleistungen angewiesen sind. Für sie war und ist der Umgang mit der Pandemie eine besondere Herausforderung, denn für Selbstisolation braucht es entsprechende Wohnverhältnisse. Für Homeoffice und Homeschooling braucht es genauso die räumlichen und technischen Voraussetzungen. Dieser Blick fehlt mir oft, auch in der medialen Widerspiegelung der Pandemie. Über Sorgen und Fragezeichen kann man reden. Aber nicht jeden wird man erreichen. Und wir wissen, dass jenseits von Corona vor uns viel größere, auch globale Probleme liegen, die mit den herkömmlichen Mitteln offenbar nicht mehr zu lösen sind, wie die Klimaveränderung oder die Zuspitzungen in den internationalen Verhältnissen. Da ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft zusammenstehen. Berlins Kultur wird jeden notwendigen Dialog unterstützen und alle Themen intensiv begleiten. Das ist wichtig, das kann sie und daraus ziehe ich auch persönlich viel Zuversicht und Kraft.

Mein/4: Losgelöst von Berlin: Die Situation in der Ukraine verschärft sich täglich, die Stimmen in Ihrer Partei sind sehr unterschiedlich. Wie ist Ihre Position zum Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine?

Lederer: Meine Position ist da ganz eindeutig: Der Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ist ein durch nichts zu rechtfertigender Angriffskrieg gegen das ukrainische Volk. Die internationale Gemeinschaft muss nun eng zusammenrücken, um diesem eklatanten Bruch des Völkerrechts mit einer unzweideutigen Position die Stirn zu zeigen. Russlands Präsident Putin zeigt sich hier unverhohlen als Aggressor.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch!