Mein/4: Du bist die Spitzenkandidatin in Berlin für die Grünen. Die Grünen sind nicht mehr die Partei, die ich aus meiner Jugend kenne. Die Partei macht inzwischen alles ein bisschen anders. Was ist passiert?
Bettina Jarasch: Es gibt uns jetzt vierzig Jahre als Grüne, und wir haben die Zeit genutzt, um an den Aufgaben zu wachsen. Und wir haben gelernt, dass man im Team besser spielt. Ich wurde beispielsweise für den Posten gefragt, weil ich führen und zusammenführen kann und weil ich Leute für ein gemeinsames Ziel begeistern kann. Unsere Rolle hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert. Wir waren früher die Anti-Parteien-Partei, die lange hitzige Diskussionen darüber geführt hat, ob man überhaupt antreten soll für Parlamentswahlen oder lieber nur von außen Druck auf die Politik macht. Dann waren wir lange die Partei, die ihre Themen hatte wie Atomausstieg oder Umwelt. Die Leute, denen das ganz wichtig war, die haben uns gewählt. Inzwischen traut man uns die volle Verantwortung für ein Bundesland wie Berlin zu, sogar für ganz Deutschland. Das bedeutet, dass man bereit sein muss, Verantwortung zu übernehmen für alle, auch für die, die einen nicht wählen.
Mein/4: Ich hätte gedacht, dass die Menschen in der Corona-Zeit andere Sorgen haben als die Umweltpolitik. Deshalb ist es für mich umso erstaunlicher, dass die Grünen in dieser Zeit so einen Sprung nach vorne machen.
Bettina Jarasch: Die Klimakatastrophe geht ja trotz Corona weiter. Ich hatte die Sorge, dass das Thema Klimawandel ein bisschen beiseite gedrängt wird. Aber ich stelle fest, dass diese Krise unterschiedliche Dinge in uns auslöst. Mein Eindruck ist: Es wird klarer, was wirklich wichtig ist. Und bei einem Teil der Bevölkerung wächst das Bewusstsein, dass wir nicht so weitermachen können, sondern Dinge verändern müssen.
Mein/4: Was würde sich ändern, wenn du Regierende Bürgermeisterin von Berlin wirst?
Bettina Jarasch: Klimaschutz würde Chefinnensache werden. Klimaschutz, so radikal wie wir ihn brauchen, gelingt nur, wenn ihn wirklich alle Ressorts zu ihrer eigenen Sache machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das gelingen kann, wenn man es aus dem Rathaus steuert. Ich möchte nicht alle Dinge ins Rote Rathaus ziehen, aber ich wünsche mir eine Steuerung von dort aus mit dem klaren politischen Willen, alle Akteure an einen Tisch zu bringen und die Aufgaben zu verteilen. Das würde dieser Stadt und der Politik insgesamt guttun.
Wir wollen Autos nicht verbieten, … Fahrradfahren oder die Bahn nehmen muss einfach bequemer und schöner sein, macht vielleicht sogar mehr Spaß …
Mein/4: Gehen wir gedanklich ins Jahr 2022: Was wird der Nahverkehr kosten?
Bettina Jarasch: Reden wir über Geld. Fakt ist, wir haben uns in der Corona-Krise verschuldet. Der Bund hat das so gemacht, genau wie alle anderen Bundesländer. Das ist auch richtig so, denn man kann sich aus der Krise nicht heraussparen. Das heißt, sobald es wieder losgeht werden wir auch Geld für Konjunkturprogramme ausgeben, um unserer Wirtschaft und auch der Kultur wieder auf die Beine zu helfen. Es ist richtig, das Geld dafür auszugeben. Wir haben noch Insolvenzen vor uns, Leute sind in Kurzarbeit. Es wird ein Minus geben – wir rechnen mit zwei Milliarden strukturell. Sprich, wir werden weniger Geld haben als in den letzten Jahren. Das heißt, wenn wir investieren wollen für noch mehr Busse und Bahnstrecken, dann müssen wir uns überlegen, wo das Geld herkommt. Beim ÖPNV-Ausbau, den wir weitertreiben wollen, werden wir also auch über Einnahmequellen reden müssen. Am besten finden wir natürlich Einnahmequellen, die auch eine Steuerungswirkung haben. Ein Beispiel: Wir wollen Autos nicht verbieten, das ist nicht unsere Linie. Fahrradfahren oder die Bahn nehmen muss einfach bequemer und schöner sein, macht vielleicht sogar mehr Spaß und es ist schneller, ohne eigenes Auto unterwegs zu sein – das wäre das Ziel. Aber um dahin zu kommen, müssen wir natürlich sehr viele Angebote schaffen und das kostet. Und wir brauchen Platz. Das wiederum bedeutet weniger Autos. Der Platz in so einer engen Stadt kann nicht vom Himmel fallen. Wir müssen Platz umverteilen. Wenn wir über Geld reden, dann gibt es eben auch Steuerungsmöglichkeiten, die auch im Sinne des Klimaschutzes richtig wären und die dafür sorgen, dass hier weniger Autos unterwegs sind. Man kann zum Beispiel über die Parkplatzgebühren gehen oder über Citymaut. Da sind wir noch offen für die Debatte.
Mein/4: Berlin hat viel Mikrowirtschaft, viele kleine Läden, Soloselbstständige, viel Kunst und Kultur. Du sprachst auch über Insolvenzen, die noch kommen werden. Was für eine Stadt erwartest du?
Bettina Jarasch: Die Berliner Wirtschaft ist unterschiedlich betroffen. Es gibt ein paar Branchen, in denen die Erholung noch nicht absehbar ist, weil das nicht automatisch wieder alles losgehen wird. In dieser Stadt ist der Dienstleistungssektor stark, die Gastronomie, die Event- und Kongressbranche, die Hotellerie, sie leben natürlich alle vom Tourismus, und Tourismus wird nicht auf einen Schlag wieder da sein. Da braucht es Programme für die Neustarthilfe, an denen wird ja bereits gestrickt. Für uns ist es wichtig, dass wir das verknüpfen mit Anreizen für eine Transformation. Die Berliner Wirtschaft muss sich nachhaltig aufstellen. Klimaschutz als Chefinnensache betrifft alle Bereiche in Wirtschaft und Industrie. Es muss Unterstützung für alle geben, die sich jetzt digitalisieren oder die jetzt auf Ressourcen, Sparsamkeit oder auf regionale Kreislaufwirtschaft und Müllvermeidung setzen, die sich jetzt auf den Weg machen, was sie langfristig sowieso müssen. Es wird mehr kosten, wenn man die Natur verschwendet. Wirtschaft wird sich auf nachhaltige Geschäftsmodelle umstellen, das gilt auch, wenn man sich in Zukunft Geld am Kapitalmarkt holen will. Grüne Anleihen boomen gerade. Die Wirtschaft wird sich neu aufstellen, und wir wollen sie dabei unterstützen. Das ist das eine. Das andere ist, dass sich in den Branchen, die ich gerade genannt habe, auch Gewohnheiten dauerhaft verändert haben. Beispiel Geschäftsreisen: Von den Kongressen haben auch die Hotels gelebt. Wir haben nun gelernt, dass vieles auch über Videokonferenzen möglich ist. Die werden nicht mehr alle zurückkommen. Da muss man sich nochmal etwas anderes überlegen. Was ich mir wünsche und was auch für diese Branchen wichtig wäre: Ich möchte, dass wir nächstes Jahr nicht nur einen Karneval der Kulturen, sondern wirklich einen Sommer der Kulturen machen und mit einem Bähm die Kultur wieder auf die Straße bringen, als konzertierte Geschichte, wo alles dabei ist. Alles, was wir in Berlin haben, soll sich zeigen und da sein. Das zieht dann auch wieder Menschen an, dann kommen wieder Touristen, und es bringt dieses Berlingefühl zurück. Auch den Menschen in Berlin gibt es dieses vibrierende Gefühl, das wir alle in der Stadt lieben. Dieses Lebensgefühl muss zurückkommen. Das ist es auch, was die Menschen herholt. Das verstehe ich als Wirtschaftshilfe.
Mein/4: Was willst du tun, damit sich der Mietmarkt ein bisschen entspannt?
Bettina Jarasch: Die wahre Antwort ist, dass es nicht die eine Antwort darauf gibt. Wir müssen alle Instrumente nutzen. Und wir müssen den Mut haben, die Instrumente, die wir als Land in der Hand haben, auch zu nutzen. Wir müssen neu bauen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass wir es richtig tun. Daran arbeiten wir hartnäckig auch in den Bezirken mit dem ganzen Vorkaufsrecht. Wir wollen einen gemeinwohlorientierten Wohnungsmarkt nach Wiener Vorbild. Das bedeutet, wir wollen mindestens die Hälfte der Wohnungen in gemeinwohlorientierter Hand. Es müssen nicht nur die kommunalen Gesellschaften sein, sondern auch Genossenschaften, Stiftungen oder auch Privatleute, wenn sie langfristig, also sozial vermieten, müssen bezahlbare Mieten anbieten und auf überzogene Renditen verzichten. Es geht nur auf die Weise, wenn man immer mehr Wohnungen diesem reinen Verwertungsgeschehen auf dem überhitzten Mietmarkt entzieht. Nur dann kann man die Mietpreise langfristig stabil halten.
Mein/4: Ein Thema kann ich dir nicht ersparen. Es gibt viele in Berlin, die sich unsicher fühlen. Was ist eure Antwort auf das Thema Sicherheit in Berlin?
Bettina Jarasch: Ich glaube, man muss ein bisschen genauer hinschauen, was die Unsicherheit auslöst. Ich würde sagen, das hat auch was mit der relativ schlechten Aufklärungsquote bei Einbrüchen, Taschen- oder Fahrraddiebstählen zu tun. Das Problem ist, dass man bei dieser Art von Kriminalität oft das Gefühl hat, sie würde nicht ernsthaft verfolgt, und das löst ein Unsicherheitsgefühl aus: Der Rechtsstaat mache sich gar nicht die Mühe, bestimmte Delikte aufzuklären. Ich bin davon überzeugt, dass Verbrechen bestraft gehören, und zwar egal welche, und ich glaube, dass diese Verbrechen die meisten Leute sehr viel mehr umtreiben. Und dann gehört zur Sicherheit auch das Gefühl dazu, wenn man seinen Job verliert keine Angst haben zu müssen, dass man auch noch aus der Wohnung fliegt. Deswegen war ich froh über den Mietendeckel, und ich bin sehr traurig darüber, dass der vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt worden ist, denn er hat diese Angst ein bisschen genommen. Dann gehört natürlich auch so etwas wie Verkehrssicherheit dazu. Und es gehört dazu, keine Angsträume zu haben, keine schlecht beleuchteten, dunklen U-Bahn-Stationen, wo man sich nachts als Frau oder vielleicht als queerer Mensch fürchtet.
Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch, liebe Bettina.
© Fotos: Pavol Putnoki
Bettina Jarrasch
ist seit 2016 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Sie ist die Kandidatin der Berliner Grünen für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2021.
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Leo, Conny & Andi Funk, Jazzfunk, Pop & Hiphop aus Berlin