„Ich wünsche mir, dass die Welt wieder zur Ruhe kommt“

Ein persönlich-politisches Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister

Fotos: Pavol Putnoki

Politik für die Menschen in Berlin zu machen, ist eine Herzensaufgabe für Kai Wegner, wenn auch keine leichte. Die Verantwortung wiegt schwer bei den vielen bedeutsamen Themen, in die endlich Bewegung kommen soll in einer durchaus diskussionsfreudigen Koalition. Als Wegner am 27. April 2023 als Regierender Bürgermeister antrat, kannte er noch nicht alle zu bewältigenden Krisen. Sein Ziel ist es, Zug in wichtige Themen für Berlin zu bringen, aus Überzeugung, mit Biss und Leidenschaft.

Mein/4: Bei Erscheinen des Magazins sind Sie 200 Tage im Amt. Das letzte Interview haben wir vor der Wahl geführt. Da war noch Corona Thema. Jetzt haben Sie im absoluten Krisenmodus angefangen. Macht es noch Spaß? Oder schlagen Sie manchmal nachts die Hände über dem Kopf zusammen und sagen sich: „So habe ich mir das nicht vorgestellt?“

Kai Wegner: Das Amt des Regierenden Bürgermeisters ist eine große Herausforderung. Aber es ist auch eine Aufgabe, die mir jeden Tag große Freude macht. Und es ist mir eine Herzensaufgabe, Politik für die Menschen in dieser Stadt zu machen. Die Aufgaben sind herausfordernd, durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat sich die Lage natürlich auch in Berlin verändert – und die Sicherheitslage drastisch verschärft. Besonders für die Polizistinnen und Polizisten in Berlin, die seit Wochen gefordert sind und eine hervorragende Arbeit leisten. Manchmal wache ich nachts auf und denke: „Hoffentlich ist in der Stadt nichts passiert.“ Aber ich weiß auch: Die Berliner Polizei und die Justiz gehen konsequent gegen Antisemitismus, Israelfeindlichkeit und Judenhass vor, denn dies hat auf unseren Straßen nichts zu suchen. Wir stehen in Berlin fest an der Seite Israels – und wir werden alles dafür tun, jüdisches Leben in Berlin zu schützen

Mein/4: Haben Sie eine Prioritätenliste oder hat sich etwas geändert seit Wahlantritt? Etwas, das Sie zum Umdenken und Umschwenken veranlasst? Das Thema Sicherheit ist jetzt ein ganz anderes als noch vor dem Krieg.

Wir haben das geändert: Wir machen eine pragmatische, lösungsorientierte Politik.

Kai Wegner: Mein Ziel ist es, dass die Stadt wieder funktioniert. Dafür müssen wir in den kommenden Monaten und Jahren viele Aufgaben erledigen – bei der Digitalisierung, in der Verwaltung, aber etwa auch in den Schulen. Wichtig war und ist mir auch, dass Berlin eine Regierung bekommt, die nicht nur untereinander streitet, sondern die Probleme der Stadt anpackt und die Chancen für Berlin nutzt. In den vergangenen Monaten haben die Koalition und der Senat das sehr gut hinbekommen. Wir fallen durch inhaltliche Arbeit auf, nicht durch Streit. Außerdem machen wir unideologisch Politik. Gerade bei der grünen Verkehrssenatorin hatte ich in den vergangenen Jahren das Gefühl, dass es mehr um Ideologie ging als um gute Lösungen für alle Berlinerinnen und Berliner. Wir haben das geändert: Wir machen eine pragmatische, lösungsorientierte Politik.

Mein/4: Welche Themen stehen noch ganz oben auf der Agenda?

Kai Wegner: Eine bessere Bildung für unsere Kinder und Jugendlichen ist mir eine Herzensangelegenheit. Es geht um diese Fragen: Wie schaffe ich bestmögliche Chancen für unsere Kinder? Wie schaffe ich eine Schule, in der das Lernen im Vordergrund steht, sprich Lesen, Schreiben, Rechnen. Alle Kinder in Berlin sollen eine Chance auf eine gute Zukunft haben.

Wir wollen eine Verkehrswende in Berlin – denn für den Kurswechsel in der Verkehrspolitik sind wir auch gewählt worden. Kaum ein Thema spaltet diese Stadt so sehr wie der Verkehr. Die Grünen haben mit ihrer ideologischen Politik zur Spaltung der Stadt beigetragen. Wir müssen die Stadt und die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer wieder zusammenzuführen. Das ist gar nicht so einfach: Wenn wir einen neuen Radweg bauen, protestieren die Autofahrer. Wenn man sagt, dieser oder jener Radweg ist überflüssig, dann protestieren die Fahrradfahrer. Deshalb machen wir es anders: Ich möchte eine Verkehrspolitik, die alle in den Blick nimmt. Wir brauchen sichere Fahrradwege und vor allem sichere Kreuzungsbereiche. Wir brauchen aber auch gute Fußgängerwege, gerade für ältere Menschen, die auf eine Gehhilfe angewiesen sind. Wir brauchen einen besseren öffentlichen Personennahverkehr, der auch die Außenbezirke einschließt und mehr Schienen- und Busverbindungen anbietet. Der ÖPNV muss bezahlbar und sicher sein. Aber für mich gilt auch: Es muss auch weiter Platz für Auto-Individualverkehr geben. Wir verdammen das Auto und die Autofahrerinnen und Autofahrer nicht. An diesen Prämissen richten wir die Verkehrspolitik aus.

Ein weiteres wichtiges Thema ist der Wohnungsbau. Unser Ziel sind 20 000 neue Wohnungen im Jahr. Uns allen ist bewusst, dass der Bau von so vielen Wohnungen pro Jahr schwierig sein wird, weil die Weltlage sich verändert hat. Es gibt Lieferengpässe, die Zinsen sind gestiegen, die Baupreise sind in die Höhe geschossen. Aber Berlin hat einen Bedarf von 20 000 neuen Wohnungen, diesen wollen wir decken. Deshalb haben wir dieses ehrgeizige Ziel vereinbart. Wir müssen bezahlbare Wohnungen für Menschen schaffen, die ein ganz normales Einkommen haben. Ich möchte nicht, dass ein Polizeibeamter oder eine Krankenschwester sich in Berlin keine Wohnung mehr leisten können und nach Brandenburg ziehen müssen.

Für mich ist Politik schon immer ein Teamspiel gewesen.

Und ich wiederhole mich: Ich möchte, dass die Stadt funktioniert. Es geht also um die Digitalisierung, um funktionierende Bürgerämter, um eine wirkliche Verwaltungsreform. Ich wurde am 27. April zum Regierenden Bürgermeister gewählt und natürlich hätte ich mir gewünscht, dass ich am 28. April einen Schalter umlegen kann – und alles würde wieder in Berlin funktionieren. So leicht ist es leider nicht. Aber wir arbeiten mit Hochdruck daran. Bei einer Klausurtagung mit allen Bezirksbürgermeisterinnen- und Bürgermeistern haben wir über die Reform der Verwaltungsreform sehr intensiv diskutiert – und wir waren uns einig, dass uns die Verwaltungsreform nur gemeinsam gelingen wird. Das Jahr 2024 muss dann das Jahr der Entscheidung sein: Wir wollen die Zuständigkeiten zwischen Senat und Bezirken klar regeln, wir wollen mehr digitale Prozesse auf den Weg bringen. Wir, der Senat und die Bezirke, haben jetzt mit der Arbeit in Workshops begonnen – und ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit im kommenden Jahr

Mein/4: Für mich ist auch die Gemeinschaft in der Stadt unheimlich wichtig. Ich finde, in Gesamtdeutschland ist eine Spaltung erkennbar, mit viel Polemik drin. Deshalb finde ich es so bemerkenswert, dass zumindest nach außen hin keine großen Konflikte innerhalb der Koalition sichtbar sind. Wie macht man das in der Koalition? Was ist das für eine Führung?

Kai Wegner: Der Senat arbeitet nicht gegeneinander, sondern miteinander. Wir sind in der Koalition aus CDU und SPD auf einem sehr guten Weg. Natürlich sind wir unterschiedliche Parteien, wir diskutieren und ringen um den richtigen Weg. Am Ende finden wir gemeinsame Lösungen, die das Beste für Berlin sind. Ich finde sehr gut: Obwohl wir auch mal miteinander ringen, die Diskussion findet hinter verschlossenen Türen statt, nichts dringt nach draußen. Am Ende können wir gute Lösungen präsentieren. Das ist ein Verdienst beider Koalitionsparteien, von CDU und SPD. Für mich ist Politik schon immer ein Teamspiel gewesen. Als Regierender Bürgermeister verfolge ich alle Themen eng. Mir ist dabei wichtig, dass unsere zehn starken Fachsenatoren und Fachsenatorinnen die Möglichkeit haben, zu gestalten und sich zu präsentieren. Wir sind ein starkes Team – für alle Berlinerinnen und Berliner.

Mein/4: Wie kriegen wir diese Stadt wieder vereint, mit einem stärken Wir? Ich denke, das würde der Leistungsfähigkeit unserer Stadt guttun

Kai Wegner: Zusammenhalt in der Stadt ist von zentraler Bedeutung. Leider erleben wir in Berlin, dass manche Stadtteile stigmatisiert werden, dass sich die Gesellschaft aufspaltet und das Gegeneinander betont oder gar gelebt wird. Ich bin davon überzeugt, dass die breite Mehrheit unserer Gesellschaft – egal welcher Herkunft, egal welchen Glaubens, egal wen man liebt und wie man lebt – den Zusammenhalt will. Es gibt kleine Gruppen, die auf Spaltung setzen. Sehen Sie: In Berlin leben rund 200 000 Menschen mit arabischen Wurzeln. Die meisten von ihnen wünschen sich Frieden und ein friedliches Miteinander. Nur eine Minderheit unterstützt den Terror der Hamas, ist antisemitisch und israelfeindlich. Dieser Minderheit zeigen wir mit unserer Polizei und Justiz ganz klar ihre Grenzen auf.

mein/4: Ich habe den Eindruck, wer Bilder erzeugen will, geht nach Berlin. Hier vom Brandenburger Tor kommen die Bilder. Ich ärgere mich dann immer so, wenn wir in einen Topf geworfen werden.

Kai Wegner: Berlin ist eine Metropole mit fast vier Millionen Einwohnern, Berlin ist die deutsche Hauptstadt – und steht schon deshalb besonders im Fokus. Manche Bilder, die seit dem barbarischen Terrorangriff der Hamas von Berlin aus in die Welt gingen, waren keine schönen Bilder. Demonstrationen, bei denen antisemitische Parolen gerufen und Israel-Hass propagiert wird, gehören nicht zu Berlin. Berlin ist und bleibt eine weltoffene, tolerante Stadt. Ich möchte nichts relativieren, aber in manchen europäischen Metropolen wurden in den vergangenen Wochen bei Großdemonstrationen noch ganz andere Bilder provoziert – und etwa das Kalifat ausgerufen. Wir alle – in Deutschland, in Europa, ja weltweit – stehen angesichts der Lage in Nahost vor besonderen Herausforderungen und müssen darauf mit unseren rechtsstaatlichen Mitteln konsequent reagieren. Ich kann versichern: In Berlin machen wir das.

mein/4: Teilen Sie eine positive Zukunftsaussicht mit unserer Leserschaft. Wo werden wir 2025 stehen? Was werden wir überwunden haben?

Kai Wegner: Ich wünsche mir, dass die Welt wieder zur Ruhe kommt. Ich wünsche mir sehr, dass wir die aktuellen weltweiten Auseinandersetzungen wie den Krieg in der Ukraine oder den Konflikt in Nahost überwunden haben werden. Vor allem für die Menschen in der Ukraine, in Israel oder in Gaza. All diese internationalen Konflikte haben weltweit und damit auch für unsere Stadt unmittelbar Auswirkungen, dies äußert sich nicht nur in der steigenden Zahl der Geflüchteten. Das betrifft auch die Energiepreise, Lieferketten oder die Inflation. Ich wünsche mir von Herzen Frieden für die Welt.

Für Berlin haben wir uns bis zum Jahr 2025 sehr viel vorgenommen: Wir wollen ein größeres Wohnungsangebot schaffen, wir wollen die Lage in den Schulen verbessern – mit mehr Personal, mit mehr sanierten Schulen und auch neuen Schulen. Mein Ziel ist eine starke und gut ausgestattete Berliner Polizei, die ausreichend Personal hat und Wertschätzung erfährt. Ich möchte darüber hinaus, dass die Besoldung für die Berliner Polizei an die Bundespolizei angeglichen wird und die Besoldung der öffentlichen Verwaltung in Berlin an die Bundesverwaltung.

Hass und Fremdenfeindlichkeit dürfen in Deutschland keinen Platz haben.

Ich wünsche mir, dass wir 2025 eine funktionierende Berliner Verwaltung haben, dass die Berlinerinnen und Berliner schneller Termine in den Bürgerämtern bekommen, dass mehr digitale Dienstleistungen angeboten werden. Berlin wird seine Chancen nutzen, da bin ich mir ganz sicher. Ich habe das bei meinen ersten Reisen gemerkt: Die Strahlkraft von Berlin ist immens, viele Menschen wollen nach Berlin kommen. Unsere Aufgabe ist es, dafür diese Bedingungen zu schaffen oder zu sichern: mit mehr Wohnungen, mit einem attraktiven öffentlichen Dienst, mit guten Schulen, interessanten Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, mit einem weltoffenen und toleranten Miteinander. Dafür arbeite ich.

mein/4: Ich würde mich freuen, wenn wir die Leute, die aktuell noch auf Protest eingestellt sind und vielleicht Parteien wählen, mit denen ich mich nicht unterhalten mag, wieder zurückholen könnten.

Kai Wegner: Ich war kürzlich bei der Bundesversammlung des Sozialverbandes Deutschlands, bei der auch über Ängste der Menschen gesprochen wurde. Viele Menschen haben Zukunftsängste. Das Ersparte, das sie sich hart erarbeitet haben, geht zur Neige. Sie wissen nicht mehr, wie sie ihren Wocheneinkauf im Supermarkt bezahlen oder ihre Wohnung finanzieren sollen. Viele Menschen wissen zum Beispiel nicht, ob sie ihrem Kind morgen ein Geburtstagsgeschenk kaufen können, damit es auf eine Geburtstagsparty gehen kann. Wir müssen diesen Menschen innere als auch soziale Sicherheit geben, wir müssen alles dafür tun, damit die Menschen das Vertrauen in die Politik und die Demokratie zurückgewinnen. Das wird uns nur gelingen, wenn wir gute und pragmatische Lösungen finden – auch in der Migrationspolitik und bei der Integration von Geflüchteten. Ich begrüße deshalb die Maßnahmen, auf die sich die 16 Bundesländer und die Bundesregierung geeinigt haben. Wir gehen die Herausforderungen bei der Integration von Geflüchteten nun gemeinsam an.

Es muss uns gemeinsam gelingen, den Zuzug nach Deutschland deutlich zu begrenzen. Nur dann werden die Menschen wieder Vertrauen in die Politik haben. Die AfD bietet bis heute in der Migrationspolitik keine Lösungen an, sondern sie sät Hass und spaltet die Gesellschaft. Die AfD ist deshalb für mich kein normaler politischer Mitbewerber, sondern mein politischer Feind. Hass und Fremdenfeindlichkeit dürfen in Deutschland keinen Platz haben.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.