Gesellschaft Portrait

Sandra Maischberger: Verantwortung im Journalismus

Im Gespräch mit Moderatorin Sandra Maischberger

Wenn sie öffentlich auftritt, zählt ihre eigene Meinung nicht. Ihre Aufgabe ist es, verschiedene Sichtweisen zu einem Thema aufzuzeigen. Sie ist nicht nur das Talkshow-Gesicht im deutschen Fernsehen, sondern sie steht auch hinter dem Verein Vincentino e. V., der möglichst allen Kindern Zugang zu Kunst und Kultur ermöglichen möchte: Wir sprachen mit Moderatorin und Journalistin Sandra Maischberger über die veränderte Dialogfähigkeit unserer Gesellschaft, über das Miteinander und den Anspruch von professionellem Journalismus. In unserem Gespräch zählt ihre Meinung sehr wohl.

Mein/4: Wir sind über das MACHmit! Museum auf Sie aufmerksam geworden. Als wir über die Verlosung des Bären schrieben, zeigte uns Frau Rinklebe voller Stolz Ihr Foto, mit grauem T-Shirt und Maske. 

Maischberger: Das ist ein außergewöhnlicher Ort. So etwas habe ich nirgendwo auf der Welt bisher gesehen. Als mein Sohn jünger war, bin ich mehrmals hierher gekrochen, um ihn aus dem großen Labyrinth wieder rauszuholen. Unsere Freunde sind überall verstreut. Und wenn sie mit ihren Kindern zu Besuch nach Berlin kamen, sind wir immer in das MACHmit! Museum gegangen. 

Mein/4: Sie engagieren sich viel ehrenamtlich.

Maischberger: Als ich Mutter wurde, habe ich die vielen Engagements, die ich vorher hatte und die mich immer irgendwo herumgeführt haben, weggelassen und mich auf die Stadt konzentriert, in der ich lebe. Damit ich das, was ich tun kann, dort mache, wo ich bin und nicht reisen muss. Als Mutter eines Kindes hatte ich keine Lust mehr dazu. Es macht Sinn, was wir hier tun, und es erinnert mich an meine eigene Kindheit. Ich hatte einfach Riesenglück: Ich hatte eine tolle Schule und Eltern, die Musik und Theater unterstützt haben. Das hat mir viel gegeben. Und dann dachte ich, das müsste eigentlich jedes Kind kriegen können.

Mein/4: Der Impuls für die Vereinsgründung von Vincentino e. V. kam von Ihnen?

Maischberger: Ich sollte an einer Grundschule in einem Problemviertel was mit den Kindern machen. Dazu wurde ich interviewt. In der Klasse waren 26 Kinder aus 24 Nationen. Ich war so beeindruckt von diesen Kindern und vom Lehrer. Das kannte ich aus Bayern, wo ich aufgewachsen bin, und aus Hamburg, wo ich dann gelebt habe, so nicht. Jedenfalls nicht aus den Vierteln, in denen ich mich bewegt habe. Ich dachte mir: „Das ist irre, dass die das hinkriegen!“ Der Mann hatte eine Autorität, und die Kinder waren fantastisch. Mit der Frau, die dieses Projekt betreut hat, haben wir dann den Verein gestartet. Wir fanden, dass man genau diese Fähigkeiten bei den Kindern unterstützen muss und natürlich auch die Lehrer, die das Ganze umsetzen. Das war der Beginn vor etwa 15 Jahren. Der Verein ist nur wenig älter als mein Sohn.

Mein/4: Woran fehlt es dem Verein? Was brauchen Sie?

Maischberger: Spendengelder [lacht]. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, Kinder mit Kulturprojekten zu stärken und damit am Ende auch die Klassengemeinschaft zu stärken. Und um den Lehrern zu zeigen, was ihre Kinder können. Das führt dazu, dass die Kinder nicht nur in diesen Projekten aufgehen, sondern vielleicht auch im Schulischen besser und erfolgreicher werden. Das funktioniert richtig gut. Wir arbeiten inzwischen regelmäßig pro Jahr mit etwa 600 Kindern an fünf bis sechs Schulen im Unterricht. Wir sind in den Unterricht gegangen, weil die Nachmittagsbetreuung nur die Kinder erreicht, die sowieso schon aktiv sind. Und wir wollen alle Kinder erreichen. Das ist aber nicht besonders förderungswürdig, deshalb sind wir auf Spenden angewiesen und darauf, dass Menschen an das glauben, woran wir glauben. Dass die Beschäftigung mit Künsten, mit Kultur, aber auch mit Medien – das ist eines unserer großen Standbeine – die Kinder befähigt, sie aufweckt und in ihren Talenten stärkt, sodass sie Lust haben auf Leben, Lust auf Schule, Lust auf Erfolg und Lust haben einfach zu sein. Es geht um Talente, um Selbstbewusstsein, um Teamfähigkeit. Wir wollen den Lehrern zeigen, dass jedes einzelne Kind in ihrer Klasse, auch wenn es vielleicht gerade nicht so auffällt, etwas kann. 

Ich habe gestern mit Cem Özdemir ein Interview gemacht, und er erzählte von seiner Schulzeit. Er sagte: „Wir waren immer die hinteren Kinder.“ Sprich, er und Pablo waren die einzigen beiden Ausländerkinder in der Klasse. Und er sagte: „Kein Lehrer hat mir das zugetraut.“ Er ist nachher Erzieher geworden, weil es einen gab, der gesagt hat: „Dieses Kind kann was.“ Und als Erzieher ist er genau mit dem Gedanken dorthin gegangen: „Jedes Kind kann das.“ Ich bin der festen Überzeugung, dass das stimmt. Wir können es uns überhaupt nicht leisten, als Gesellschaft auch nur ein Kind zurückzulassen, auch nur ein Kind ohne Schulabschluss zu lassen. Mein Sohn wächst in dieser Stadt auf. Er wird wählen und sich diese Stadt erobern. Diese Kinder werden seine Stadtgenossen und -genossinnen sein. Wir sind alle eine Gemeinschaft, und wir müssen aufeinander achtgeben, finde ich.

Mein/4: An der Schule meiner Kinder haben wir gerade ein Trommelprojekt laufen. Das Gemeinschaftsgefühl ist toll. Ich habe gerade ein Video vom Musiklehrer bekommen: 70 Leute mit afrikanischen Trommeln. Ich bin begeistert davon, wie verbindend das ist.

Maischberger: Bei uns heißen diese Musikkurse „Kids & Drums“. Das ist genau das Prinzip. Als wir in den Jahren 2016 und 2017 die Willkommensklassen hatten, war das das Mittel der Wahl. Da waren so viele Kinder, die sich gar nicht verbal verständigen konnten, weder mit den Lehrern noch untereinander. Bei diesen Musikgruppen, die ja sehr flach anfangen, kann jeder sofort mitmachen. Du brauchst überhaupt keine Vorbildung. Die sind zusammengewachsen. Wir konnten uns gar nicht retten vor Anfragen, dieses Programm auch an anderen Schulen anzubieten. Das ist bis heute so. Wir haben tolle Musiker und könnten doppelt so viele Klassen bespielen – aber wir müssen das natürlich finanzieren. Berlin ist voller geworden mit Unternehmern. Wir haben vor allem Kinder an Förderschulen im Auge. Das sind eben die Schulen mit den größten multikulturellen Konflikten. Ich glaube, dass alle, die hier ein Business aufziehen, eine Gastronomie oder Hotellerie haben, Auszubildende brauchen. Sie alle brauchen junge Menschen, die bei ihnen anfangen. Deswegen hatte ich immer gehofft, dass wir bei den Unternehmern vielleicht welche finden, die uns dauerhaft unterstützen.

Mein/4: Aber wenn es jemand mit Ihren Kontakten nicht schafft …?

Maischberger: Ich habe einen Hauptberuf, ob Sie es glauben oder nicht [lacht]. Wir machen eine bundesweite Sendung. Dirk Rossmann z. B., der bei uns in der Sendung war, gehört zu unseren Großspendern. Auch der Hotelmanager Zeev Rosenberg hat für uns eine Charity-Aktion aufgezogen. Es gibt Einzelne, die mitmachen, aber es könnten sehr viel mehr sein. Ich moderiere auch Firmenveranstaltungen für die Betriebskasse. Wenn sie mir eine ordentliche Spende geben, mache ich alles [lacht].

Mein/4: Sie sind das Gesicht der Talkshows im deutschen Fernsehen, zusammen mit Ihren beiden Kolleginnen. Wie produzieren Sie eine ausgewogene Sendung, in der Sie eigene Vorbehalte und Meinungen außen vor lassen? 

Maischberger: Die Frage hat sich mir nie so gestellt, weil ich genau weiß: Wenn ich in so eine Sendung gehe, bin ich allen gegenüber erst einmal aufgeschlossen. Das ist ein professionelles Prinzip. Ich rege mich z. B. nie auf in meinen Sendungen. Wenn ich mich privat mit Freunden politisch streite, dann rege ich mich auf. Meine Aufgabe ist es zu zeigen, dass es mehr als eine Sichtweise gibt. Selbst wenn die anderen Sichtweisen mir nicht gefallen, muss ich das akzeptieren. Auch bei der krudesten Ansicht – das ist vielleicht eine Berufskrankheit – frage ich mich: Ist da vielleicht ein Funken Wahrheit dran? Dass man die Chemie zwischen Menschen nicht immer ausschalten kann, ist so. Natürlich gibt es Politiker, mit denen ich sehr viel besser auskomme als mit anderen. Übrigens sind meine besten Interviews meistens nicht mit denen, die ich persönlich sympathisch finde. Weil ich dann denke, da musst du besonders scharf rangehen. Deshalb werden Sie merken: Wenn ich scharf bin, dann ist es wahrscheinlich jemand, auf dessen Linie ich sein könnte. Ich versuche, mich einfach zurückzunehmen. Hundertprozentig gelingt das natürlich nie. 

Mein/4: Social Media spielt heutzutage eine riesige Rolle. Man kann sich da weniger wehren. Und dann gibt es diese immer gleiche Kritik. Herr Lauterbach zum Beispiel …

Maischberger: … Lauterbach ist im Moment gerade echt eine Ausnahme, weil es keinen gibt, der sowohl Politiker ist als auch Epidemiologe. Er ist das Gesicht von Corona, ob er das will oder nicht. Von der fachlichen Seite her ist er zumindest keiner, der Unsinn erzählt. Wenn er sich durch die Studien wühlt, dann hat das, was er sagt, meistens Hand und Fuß. Im Moment ist er gerade übervertreten, das stimmt. Wir haben unser Konzept in der Sendung geändert, sodass wir nicht eine Runde zum Thema mit fünf Gästen machen, sondern wir haben drei Kommentatoren. Bei diesen dreien geht es wirklich darum zu zeigen, wie man eine Sache von zwei unterschiedlichen Seiten sehen kann. Dann haben wir einzelne Gäste und im Moment natürlich sehr viel Corona – das ist so, aber wir können auch mal andere Aspekte nehmen und andere Gäste einladen. Das war im letzten Jahr in der Tat ein bisschen schwierig. Aber das wird wiederkommen. Und wir achten darauf, dass wir nicht überall dieselben Gesichter einladen.

Mein/4: Wie hat sich Journalismus verändert? 

Maischberger: Der hat sich komplett verändert. Meine erste Talksendung, also Gesprächssendung – damals nannten sie es Diskussionssendung – hatte ich in Bayern. Das war eine Jugendsendung, die hieß „Live aus dem Schlachthof“. Günther Jauch hat dort z. B. auch moderiert, und damals war es so, dass über gar nichts wirklich öffentlich geredet wurde. Wir haben z. B. jahrelang darum gekämpft, offen über Homosexualität zu sprechen. Das müssen Sie sich vorstellen, in den 80er Jahren in Bayern. Da hieß es immer: „Könnt ihr machen, aber da muss jemand von der Kirche dabei sein.“ Heute wissen wir warum: Die kannten sich besser aus, als man dachte. Aber das waren die Anfänge. Damals sind wir, wenn Sie so wollen, in die Tabuzonen gegangen.

Heute herrscht eher das Gefühl vor, dass jedes Tabu einmal gebrochen wurde und jeder mit jedem in Social Media redet. Natürlich hat sich der ganze Diskurs komplett verändert, diese Offenheit, auch mit Andersdenkenden umzugehen. Wir haben damals die Wiking-Jugend eingeladen, also eine rechtsextreme Jugendgruppe, um zu erfahren, wie die eigentlich ticken. Und wir mussten uns mit denen auseinandersetzen. Das ist heute schwieriger geworden, weil die Gesellschaft in einer viel größeren Spannung miteinander lebt. Es gibt eine viel größere Angst vor dem anderen. Der andere ist nicht einfach ein Gegner, sondern gleich ein Feind. Das ist schwierig für unseren Diskurs. Dass ich jetzt einzelne Gespräche führe oder höchstens mal zwei Personen zusammen einlade, ist eine Folge daraus. Denn wir hatten das Gefühl, dass man sich wieder konzentrieren kann, eine Seite zeigt und die mit meinen Fragen konfrontiert. Bei der nächsten Sendung kann man dann wieder die andere Seite einladen. So lässt sich dieser manchmal sehr hasserfüllte Dialog entzerren.

„Wir sind alle eine Gemeinschaft, und wir müssen aufeinander achtgeben“

Mein/4: Können Sie den Vorwurf „Systemmedien“ nachvollziehen?

Maischberger: Nein, das ärgert mich wirklich. Was Systemmedien sind, kann man in Ländern wie Ungarn sehen, wo einfach alles, was oppositionelle Medien sind, ausgeschaltet wurde. Ich verstehe natürlich, dass es Fragen gibt. Bei den Flüchtlingen an den Bahnhöfen waren, glaube ich, ganz viele begeistert von dieser Willkommenskultur. Dass wir Deutschen mal ein ganz anderes Gesicht zeigen. Da haben wir uns vermutlich alle zu sehr darüber gefreut, dass wir anders wahrgenommen werden und waren zu unkritisch. Aber es ist nicht so, dass das Kanzleramt uns Befehle erteilt. Dieser Vorwurf kommt ja manchmal: „Ihr kriegt doch eure Befehle direkt aus dem Kanzleramt.“ Uns wird abgesprochen, eine eigene Haltung zu haben. Das ist natürlich Unsinn. Wir haben dann sehr schnell angefangen, sehr kritisch zu werden. Aber da war es im Grunde schon zu spät. 

Mein/4: Haben Sie das Gefühl, dass die Kommunikation der Politik sich stark geändert hat? Inzwischen habe ich den Eindruck, dass sich ein großer Spalt durch die Stadt Berlin, durch Deutschland zieht. 

Maischberger: Das ist ja das Problem. Ich glaube, dass es trotzdem auch früher Feindschaften gab. Es gab immer schon die bei „Talk im Turm“, die nach der Sendung noch geblieben sind, um ein Glas Wein am Kamin miteinander zu trinken, nachdem sie heftig gestritten haben. Es gab aber auch damals schon die, die gegangen sind, weil sie gesagt haben: „Deine Haltung passt mir nicht.“ Es hat sich insofern geändert, dass gerade Social Media mit dem Zwang, sich stärker und lauter zu positionieren, einen Dialog schwerer macht. Aber ich erlebe trotzdem, dass man im Großen und Ganzen schon noch miteinander spricht. Es gibt ein paar Parteien, die das nicht machen. Wer nicht dialogfähig ist und keinen Austausch will, den wird man da nicht bekehren können. 

Mein/4: Wie stehen Sie zur Sprachkultur gerade in den sozialen Medien?

Maischberger: Das ist deshalb problematisch, weil der auffällt, der laut ist, der extreme Positionen hat oder der sich sehr privat gibt. Die gemäßigte Temperatur fällt nicht so auf. Also führen die sozialen Medien natürlich dazu, dass man ein bisschen überspannt. Dann dreht sich das in einer Spirale hoch, und der Nächste muss noch mal einen draufsetzen. Auf der anderen Seite funktioniert die Kommunikation untereinander, das ist das Positive. Wie hätten wir es denn früher geschafft, uns in Gruppen überhaupt zu finden und auszutauschen? Ich finde, da gibt es auch sehr gute Entwicklungen.

Mein/4: Heute kann jeder seine Meinung kundtun und findet im besten Fall über seinen YouTube-Kanal eine große Anhängerschaft. Wie kann sich der seriöse Journalismus behaupten?

Maischberger: Ich glaube, dass Journalismus noch nie so gefordert war wie heute. Ich bin ausgebildete Journalistin. Was lernt man als Journalist? Es wäre ganz gut, wenn man die Wahrheit sagt. Es wäre ganz gut, wenn man das, was man sagt, überprüft hat. Es wäre ganz gut, wenn diese Überprüfung nicht nur eine Quelle hatte, sondern möglicherweise zwei oder drei Quellen. Sonst ist das keine Tatsache. Es wäre ganz gut, wenn man Meinung von Nachricht unterscheidet. Es wäre ganz gut, wenn man nicht nur eine Seite, sondern auch eine andere zu Wort kommen lässt. Diese Dinge habe ich als Journalistin gelernt. Das sind natürlich lauter Dinge, die im Netz so nicht funktionieren, weil das Netz keine Zeitung ist. In der Zeitung haben Sie einen Verantwortlichen im Sinne des Presserechts. Das heißt, Sie können jemanden haftbar machen dafür, dass da eine Lüge drinsteht. Im Netz kann jeder alles sagen und YouTube, Twitter, Facebook sind alles keine Publikationen, wie wir sie kannten. Das heißt, es gibt im guten Sinne keine Kontrolle. Es gibt auch tolle Bewegungen, die im Netz entstanden sind. Es gibt aber auch im schlechten Sinne keine Kontrolle. Und Donald Trump ist das beste Lehrbeispiel dafür, dass jemand, wenn er nur einfach bekannt genug ist und eine Machtposition hat, alles erzählen kann, ohne dass jemand dazu schreibt: „Achtung, falsch!“ Das ist etwas, was jetzt passieren muss: Wir müssen die Anbieter im Netz, die Absender, daran erinnern, dass sie eine Verantwortung dafür haben, was auf ihren Plattformen passiert. Und dem zumindest eine Art von Reality Check unterziehen. Man kann es nicht, finde ich, so laufen lassen, weil dann genau das passiert, was wir in Amerika gesehen haben. Die Männer, die das Kapitol gestürmt haben, haben wirklich geglaubt, dass sie im recht sind und dass da ein riesen Wahlbetrug passiert ist. Und sie sind auch nicht mehr davon abzubringen. Twitter hat viel zu lange den Tiger geritten, und ganz am Schluss haben sie dann den Account gesperrt. Was ist das für eine Haltung? Erst alles durchlassen und am Ende zensieren sie komplett. Das ist nicht verantwortlich. Ich glaube, da müssen wir wirklich drüber reden.

„Wer nicht dialogfähig ist und keinen Austausch will, den wird man da nicht bekehren können“

Mein/4: Die Trump-Zeit ist ja hoffentlich erst mal vorbei. Sehen Sie diese Gefahr auch auf Deutschland umgemünzt?

Maischberger: Permanent, ja. Der Ministerpräsident von Sachsen wollte neulich Schnee schippen vor seiner Haustür und war mit 30 Querdenkern konfrontiert. Und es entspinnt sich ein Dialog, in dem er sagt: „Aber die Menschen sterben auf den Stationen.“ Dann schreit einer: „Es ist hier im Land noch nie jemand an Corona gestorben.“ Ist doch schwierig, oder? Ich glaube, wir haben gerade die Marke von 50.000 Toten in Deutschland an oder mit Corona überschritten. Man kann die Zahlen in Zweifel ziehen. Vielleicht sind es nicht 50.000, sondern 53.000, vielleicht sind es 47.000 – aber es sind einfach eine Menge Leute, die gestorben sind. Es gibt Familien, die jemanden verloren haben. Und dann zu sagen: „Es ist noch niemand in diesem Land gestorben.“ Was machen wir damit? Das ist so ein Ausmaß an Willen, einfach an Lügen zu glauben, ohne dass man sich die Mühe macht zu überprüfen, ob das stimmen kann. Das erschreckt mich manchmal wirklich. 

Ich hinterfrage alles, was ich lese. Auch wenn es von den seriösen Medien kommt. Wo sind die Quellen? Wer sagt das? Ich wünschte mir, es würde sich durchsetzen, dass jeder hinterfragen würde. Und nicht nur: „Der hat das geteilt und meint, das sei richtig.“ Das ist keine Quelle.

Mein/4: Bei unserer Medienvielfalt heute hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass es noch mal so ein Aufbrechen in unserer Gesellschaft geben würde. Was ist mit uns passiert?

Maischberger: Diese Gesellschaft ist unter Druck geraten, glaube ich. Das hat etwas mit der Globalisierung zu tun. Das hat etwas mit der Digitalisierung zu tun. Es strömen so viele Dinge auf uns ein, und wir erkennen, dass wir die wenigsten davon wirklich selber ändern oder beeinflussen können. Das setzt die Menschen unter einen immensen Druck. Und unter immensem Druck macht man natürlich auch alle möglichen Dinge und glaubt vielleicht auch Sachen, die einfach bei näherer Betrachtung Humbug sind. Ich glaube, dass die AfD oder Trump Symptome für etwas sind, was passiert. Und ich glaube, wenn wir nicht ernst nehmen was passiert, dann können wir noch so viel lästern über den Trumpismus. Wir werden ihn nicht bekämpfen können. 

Mein/4: Was ist die Lösung? Wie kann dieses Volk wieder zusammenwachsen?

Maischberger: Ich bin ja jemand, der Fragen stellt. Ich frage Menschen, weil ich selber natürlich mit solchen Fragen, die Sie gerade gestellt haben, total überfordert bin. Neulich hatte ich Gesine Schwan bei mir in der Sendung. Die hat ein Buch geschrieben: „Politik trotz Globalisierung“. Und sie schreibt den Satz: „Politik hat einen schlechten Ruf.“ Ich habe sie auch gefragt: „Was ist die Lösung? Wie kriegst du die Leute?“ Sie sagt: „Man muss sozusagen im Kleinen, im Regionalen, im Lokalen die Menschen wieder dazu kriegen, dass sie sich selber engagieren, dass sie selber auch ihre Geschicke in die Hand nehmen.“ Denn da sind die Dinge, die man ändern kann. Ich bin ein großer Fan von Bürgermeistern deutschlandweit, weil die noch in der Globalisierung die Möglichkeit haben, Dinge zu verändern. Das hat die AfD oder haben die rechten Gruppen überhaupt sehr gut begriffen, dass sie in der Fläche sein müssen: Vereine gründen, Nachbarschaftshilfe. Lauter Dinge, die wirklich an der Basis wirken. Das ist der einzige Schlüssel, da wieder hinzugehen.

Mein/4: Was ist mit all den kleinen Ortschaften am Rande, wo politisch die Farbe Blau dominiert? 

Maischberger: Ich hätte gerne in diesen Ortschaften eine ordentliche Verbindung mit einer Bahn und einem ordentlich funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr. Das sind alles Dinge, die wir völlig vernachlässigt haben. Natürlich auch in den Zeiten nach der Wende. Das betrifft vor allem Ostdeutschland in den Zeiten im Westen, aber auch im Strukturwandel. Da hat man die Leute einfach allein gelassen. Man braucht sich nicht wundern, dass sie sich allein gelassen fühlen, wenn sie auch faktisch alleingelassen werden.

„Ich glaube, erst wenn wir uns quasi von der Schockstarre erholt haben, in die wir uns alle begeben mussten, werden wir begreifen, was mit uns passiert ist“

Mein/4: Finanziell gesehen würden die meisten sagen: „Es geht mir wesentlich besser als früher.“

Maischberger: Es kommt auf den Vergleich an. Mein Mann kommt aus Tschechien. Lothar de Maizière hat gesagt, dass die Tschechen zufriedener seien, weil sie sich immer mit dem restlichen Osten vergleichen. Die Ostdeutschen haben sich lange mit Westdeutschland verglichen. Die Unzufriedenheit kommt immer auch aus dem Vergleich. Deswegen geht es uns ja relativ gut, wenn man so will. Aber natürlich gibt es einfach viel zu viele Millionen Menschen in Deutschland, denen es objektiv nicht gut geht. Das aber nicht nur entlang der Ost-West-Linie, sondern auch alleinerziehend und Bildung spielen eine große Rolle bei dem, was man verdient. 

Mein/4: Gestern saß ich mit Franziska Giffey zusammen und dann sagte sie: 
„Wer teilt, gewinnt.“ Haben wir das nicht begriffen?

Maischberger: Wenn ich an meinen Steuersatz denke, dann sehe ich schon, dass ich teile [lacht]. Darüber hinaus gebe ich einen Teil dessen, was ich verdiene, ab. An jene, die nicht die Chance haben so gut zu verdienen, wie ich es zufälligerweise und glücklicherweise tue. Übrigens macht das auch großen Spaß, wenn man das einmal begriffen hat. Natürlich teilen wir schon alle, und Deutschland ist ein Land mit Ehrenämtern und vielen sozialen Engagements. Ganz viele Menschen teilen wahnsinnig viel. Gerade in Corona habe ich gesehen, wie viel Unterstützung im eigenen Sprengel da ist. Das hat doch wieder gezeigt: Wir können das. 

Mein/4: Ist Corona ein Brennglas für die Gesellschaft? 

Maischberger: Eins von vielen. Im Moment schon. Ich glaube, erst wenn wir uns quasi von der Schockstarre erholt haben, in die wir uns alle begeben mussten, werden wir begreifen, was mit uns passiert ist. Und dann schauen wir, was daraus wird. 

Frau Maischberger, vielen Dank für das Gespräch!