Sprechen wir mit Menschen aus Berlin, aber auch mit Touristen darüber, was sie an Berlin lieben, so fällt spätestens im zweiten Satz der Begriff Kiezkultur. Hierzu gehören neben kulturellen Angeboten natürlich auch die unzähligen kleinen Geschäfte, die Restaurants und Kneipen. Meistens inhabergeführt und in ihren Vierteln engagiert, prägen sie das Straßenbild Berlins. Die Corona-Maßnahmen haben sie schwer getroffen, und wir alle, die wir hier leben, werden mit unserem Konsumverhalten darüber entscheiden, ob unsere geliebte Kiezkultur auch nach Corona fortbestehen kann. Wir besuchten einige Unternehmer*innen und unterhielten uns mit ihnen über ihre Erfahrungen.

Brafinette – Spezialist für Damenwäsche

Wir treffen Denise Reinke in ihrem hübschen Laden für Damenunterwäsche in der Florastraße. Sie erzählt uns von ihrer Panik in der ersten Woche der Schließung und wie sie von jetzt auf gleich versucht hätte, alles an die neue Situation anzupassen. Der Fokus hätte auf dem Ausbau ihres Onlineshops gelegen – wohlwissend, dass Unterwäsche perfekt sitzen muss und es andernfalls zu hohen Retouren kommen kann.

An einem sonnigen Tag anderthalb Wochen später hatte die Rastlosigkeit ein Ende und sie kam zur Ruhe: „Ich habe dann die Zeit genutzt, die Sachen zu tun, die sonst zu kurz kommen, wie Ablage, Inventur usw.“ Denise Reinke hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, was wirklich funktionieren könnte. Inzwischen darf sie ihr Geschäft wieder öffnen. Sie versucht mit Terminen zu arbeiten, um die Abstandsregeln einhalten zu können. „Zum Glück habe ich großartige Kundinnen, die sehr verständnisvoll sind. Viele haben mich auch in der Zeit der Schließung mit Gutscheinen unterstützt“, berichtet sie dankbar.

 

Eiche Bürgerstube – seit 1903 in Berlin

Die Brüder Johannes und Martin Kühne betreiben in Pankow die älteste Kneipe des Bezirks. „Wir haben zusammen mit den Kneipen geschlossen, obwohl wir eigentlich mit einer Restaurantlizenz noch weiter hätten geöffnet bleiben können“, erzählen die Brüder, „aber man muss sich nichts vormachen: Die meisten unserer Gäste nehmen uns als Kneipe wahr und kommen her, um ein gutes Bier zu trinken.“

Ein weiterer Grund für den Entschluss wäre die gewandelte Stimmung auf der Straße gewesen und dass die Polizei vor der Tür gestanden hätte – wenn auch ohne etwas zu sagen. Dazu kam: „Wir durften nur noch bis 18:00 Uhr offen haben. Das können unsere Gäste gar nicht, da machen wir ja eigentlich erst auf.“

Die ersten zwei Wochen erlebten die Kneipeninhaber hektisch und panisch. Da wurde das Gesundheitsamt angeschrieben, der Steuerberater befragt, Bank und Versicherung einbezogen: „Wir haben versucht, uns einen Überblick zu verschaffen. Zum Glück kamen die Corona-Zuschüsse sehr schnell, das war beruhigend.“

Viele Gäste hätten Gutscheine erworben – Geld, das die beiden noch nicht angefasst haben. Sie empfinden das wie kleine Kredite, die ihnen gewährt wurden. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob und unter welchen Bedingungen es weitergehen kann, denn „ansonsten wird es ab Juli richtig eng, und unsere Ersparnisse sind aufgebraucht.“

 

Q-Bier – Craftbeer, handwerklich hergestellt

Jörg Adler betreibt eine kleine Brauerei mit Gastronomie im Berliner Norden. So leicht lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen. Insofern erhalten wir auf unsere Frage nur einen erstaunten Blick: „Panik? Nein, die hatte ich nicht. Es war natürlich hart, als wir alles schließen mussten“, gab er zu. Zunächst hätte es den Ausschank betroffen, dann seien alle Catering-Veranstaltungen abgesagt worden und auch die Bestellungen in den Supermärkten seinen eingebrochen. „Aber was soll’s? Es gibt Menschen, denen ist es viel schlechter ergangen“, erklärt Jörg Adler.

Stattdessen hätte er angefangen seine Speisekarte nachzukochen, daraus Filme zu machen und diese auf YouTube hochzuladen. „Ich hab gedacht, so haben meine Gäste was zu tun und können ihre Lieblingsspeisen zu Hause genießen. Das hat jede Menge Spaß gemacht.“

 

Kiezkinder – das Kinderbekleidungsgeschäft, das zum Verweilen einlädt

Marianne Wegner treffen wir inmitten ihrer bunten Kinderkleidung in der Florastraße, zusammen mit ihrer schulpflichtigen Tochter – Homeschooling und Selbstständigkeit an einem Ort. Die ersten zwei Wochen seien von nackter Panik geprägt gewesen: „Ich hatte gerade die bestellte Ware, die ich zukaufe, für das Frühjahr und den Sommer bekommen. Die Rechnungen lagen auf dem Schreibtisch. Meine Lieferanten sind überwiegend selbst kleine Labels. Wenn ich meine Rechnung nicht bezahle, kommen die auch ins Straucheln“, weiht sie uns ein. Mit der Soforthilfe sei etwas Ruhe eingekehrt.

Da das Kiezkinder-Team die meisten seiner Bekleidungsstücke selbst nähe, wäre es naheliegend gewesen, auf Gesichtsmasken umzusteigen: „Das ist sehr gut angekommen und hat uns über die Zeit gebracht.“ So verbrachte sie ihre Zeit nähend im Laden, während sie ihre Tochter schulisch betreute.

Hilfreich sei auch der Onlineshop gewesen, den Marianne Wegner bereits Anfang des Jahres vorangetrieben hatte. Schließlich gab ihr die Solidarität ihrer Kunden, die anklopften und Hilfe anboten, inneren Auftrieb und die nötige Zuversicht: „Wir schaffen das!“

 

TUI Reisebüro – für einzigartige Urlaubsmomente

„Was wird aus unserem Sommerurlaub?“, das fragen sich derzeit ganz viele Berliner. „Wir haben unser Büro seit dem 22. April wieder geöffnet und waren auch während der Corona-Schließzeit zu den regulären Bürozeiten (bis 21 Uhr) telefonisch oder per Mail zu erreichen“, sagt Inhaber Peter Ruh vom TUI-Reisecenter Kollwitzplatz. Viele Kunden, die bei ihren Reiseportalen niemanden mehr telefonisch erreichen konnten, hätten sich doch wieder ans Reisebüro erinnert. So konnten die Mitarbeiter vielen Kunden helfen und mit Informationen versorgen.

Der Arbeitsaufwand im Büro am Kollwitzplatz sei bis heute immens: „Wir haben nur noch Stornierungen und Umbuchungen verwaltet und Geld ausgezahlt, statt eingenommen“, verrät uns Peter Ruh. Doch der Servicegedanke stünde immer im Zentrum. Viele Kunden hätten sich auch für die Gutscheinlösung mit Bonus entschieden.

Was viele nicht wüssten: „In der Touristik bekommen wir unsere Bezahlung erst, wenn unsere Kunden abgereist sind. Somit haben wir für alle kostenlos stornierten Reise auch keine Bezahlung bekommen, trotz geleisteter Beratung und Buchung.“

Die Kosten laufen natürlich trotzdem weiter. Peter Ruh ist zuversichtlich, dass im Sommer und in den Herbstferien Ferienhäuser und Apartments in Deutschland gefragt sein werden: „Ich wünsche mir einen fairen Preisvergleich der Kunden. Wir nehmen es mit den Portalen auf jeden Fall auf. Schon sehr oft haben wir die Reisen für unsere Kunden günstiger buchen können, weil die Reiseportale wesentlich teurer waren oder aber gar nicht die Vielfalt der Flugzeiten und Zimmerkategorien abgebildet haben.“

Auch beim Buchen von Reisen solle der Gedanke an den eigenen Kiez im Vordergrund stehen, denn „nur wenn dieser überlebt, bleibt der Kiez ein Platz zum Wohlfühlen“, findet Peter Ruh.

 

make tea not war – Teehandel und Teehaus

Oliver Seifert betreibt ein kleines, feines Teefachgeschäft mit der Möglichkeit, den Tee auch vor Ort zu genießen. Unsere Frage nach Ängsten erübrigt sich beim Reinkommen: Ganz entspannt werden wir empfangen. Wir stellen die Frage trotzdem: „Nein, dafür bin ich schon zu alt und ruhig geworden. Ich lebe in einem Land, in dem jeder aufgefangen wird. Und selbst wenn ich Sozialhilfe beantragen müsste, könnte ich weiterleben“, erzählt uns Oliver Seifert. Er könne seinen Laden verlieren, seinen Teehandel, aber deshalb nicht sein Leben.

Wie sehen die Zukunftsprognosen aus? „Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier in meinem Teeladen und eigentlich hatte ich gerade einen Punkt erreicht, an dem ich finanziell im grünen Bereich angekommen war.“ Seine Gäste kämen eher aus dem näheren Umfeld, es seien Stammgäste, die das Geschäft weiterempfehlen würden. Er ginge allerdings davon aus, dass die Verunsicherung der Menschen noch eine Weile bleiben wird – und er sich noch etwas länger in Geduld üben müsse.

 

PankeRad – Fahrradladen mit Meisterwerkstatt

„Es ist erstaunlich, wie viele alte Fahrräder die Menschen noch im Keller haben“, sagt uns Dan Ehle von PankeRad. Auch Menschen, die sonst nichts mit Fahrradfahren am Hut hätten, stiegen jetzt um aufs Rad: „Unsere Werkstatt ist für Instandsetzungen fast völlig ausgebucht.“

Schade hingegen finde er, dass weniger die Autofahrer umstiegen, sondern eher die Menschen, die sonst den Nahverkehr genutzt hätten.

 

The PHO Bar – vietnamesische Küche

Thanh Nguyen kam 2004 aus Hanoi nach Berlin, 2019 erfüllte sie sich ihren Traum: ein eigenes vietnamesisches Restaurant mit authentischer Küche. Der Anfang war hart, denn viele Menschen gingen vorbei und fragten sich: Braucht es noch einen Vietnamesen?

Doch inzwischen ist sie angekommen. Sie erzählt uns, wie froh sie ist, wenn Nachbarn reinkommen und ihr Essen abholen: „Das war wichtig für uns“, sagt sie, „nicht nur finanziell.“ Vom Lieferdienst hätte sie sich mehr erhofft, aber wenn sie sehe, wie es anderen Geschäften geht, dann dürfe sie glücklich sein. „So hatte ich in letzter Zeit etwas Zeit für mich. Man muss auch das Positive sehen“, sagt Thanh Nguyen.

 

Schönhelden – heldenhaft (aus-)sehen

Auch für das Optikergeschäft „Schönhelden“ war der Anfang hart. Denn die Schönhelden hätten ihr Geschäft zwar öffnen dürfen, doch die Kundschaft sei ausgeblieben. Die Auftragsfächer hätten sich geleert, neue Aufträge seien nicht reingekommen: „Das hat mich schon deprimiert“, sagt Inhaber Lars Düngel.

Wo die Kunden und Aufträge abnahmen, stieg der Adminaufwand: Anträge abarbeiten, Kurzarbeitergeld beantragen, Stundung beim Finanzamt anmelden, Banktermine ausmachen etc. Nichts, was wirklich Freude bereitet.

Dann sei der Anruf von einem Freund und Kunden gekommen: „Lars, ist das nicht genau der richtige Zeitpunkt, um deine Website zu überarbeiten und einen Onlineshop zu gestalten?“ Seine Begeisterung war ansteckend. Aus einem kleinen Team wurde ein großes Team, in dem jede und jeder anpackte.

Lars Düngel ist unendlich dankbar: „Diese Solidarität hat mir unheimlich geholfen. Das war Balsam für die Seele.“

 

Stefan Hirt – Friseurerlebnis mit Wohlfühlfaktor

Wer wissen möchte, was gute kaufmännische Planung ist, sollte sich einmal mit Stefan Hirt am Stuttgarter Platz in Charlottenburg unterhalten. Der junge Friseurmeister kündigte im Dezember 2019 seine Anstellung mit dem Wunsch, einen eigenen Friseursalon zu öffnen. Der Standort war schnell gefunden, die Banken rasch überzeugt, und so startete er Anfang 2020 mit der Renovierung seines eigenen Salons.

Die Eröffnung war für Mai geplant – just zu dem Zeitpunkt, als vier Millionen Berliner mit viel zu langen Haaren die Friseursalons Berlin erstürmten. Wir ziehen unseren Hut für dieses Timing.

 

Rössle & Wanner – Die Bettenmacher

„Wir hatten Glück im Unglück“, sagt Detlef Schmidt, Leiter des Flagship-Stores in Pankow. Denn hinter ihnen stünde ein großes Familienunternehmen, das vor allem den Fachhandel beliefert. Betroffen wären sie zwar auch, aber ihr Werk hätte noch genug Aufträge abzuarbeiten. Durch die relativ kurze Schließung ließ sich das auffangen.

„Mit Sorge nehme ich wahr, wie unterschiedlich die Menschen von der Krise betroffen sind. Die Freiberufler, die Gastronomen – hier merke ich eine große Verunsicherung was ihre berufliche Zukunft betrifft“, so Detlef Schmidt. Umso dankbarer sei er für die vier Wochen „Zwangsurlaub“ gewesen, in der er eine schöne, intensive Zeit mit der Familie verbringen konnte.

 

SYLD STORE – lokales Handwerk trifft Design

Wir treffen Designerin Inga Liekfeldt in ihrem Fashionstore in Friedrichshain. Hier bringt die Urberlinerin ihre eigenen, in Berlin produzierten Labels an die Frau.

Gemischte Gefühle“, so beschreibt sie die ersten zwei Wochen der Corona-Krise, „natürlich waren da auch Existenzängste und die große Sorge, wie ich meine drei Mitarbeiterrinnen halten und die Miete zahlen kann.“ Doch recht schnell habe sie nach alternativen Absatzwegen Ausschau gehalten: „Wir haben dann die ‚Fuck Corona‘ -T-Shirt-Kampagne gegründet, einfach aus dem Gefühl heraus: Hey, es ist für uns alle hart, aber wir wollen den Kopf nicht in den Sand stecken.“

Der Umstand, dass ihre Designerin schon seit zwei Jahren Mundschutzmasken produzierte – eigentlich für Festivals gedacht – erwies sich als glücklich. Diese Produktion hätten sie gesteigert, und inzwischen gäbe es Masken für jeden Anlass, in jeder Preisklasse und in jeder Form – es seien schon rund 300 verschiedene Designs verkauft worden. Die Intention: „Wir wollten, dass die Menschen Spaß haben, wenn sie schon Masken tragen müssen.“

 

Hotel Kastanienhof – übernachten Mitten in Berlin

Wer an Hotels in Berlin denkt, hat schnell große Hotelketten im Kopf. Es gibt aber auch viele kleine, familiengeführte Hotels. Die Hauptmanns sind so eine Familie: Vater, Sohn und Enkelsohn betreiben seit 1992 ihr Hotel in Mitte. „Wir fühlen uns von der Politik im Stich gelassen“, sagen sie, „während kleine Betriebe mit bis zu zehn Mitarbeitern Unterstützung erhalten, gehen wir mit 20 Mitarbeitern leer aus. So bleibt uns nur der Weg über Kredite, um uns am Leben zu erhalten. Man darf auch nicht vergessen: Wir kämpfen schon seit der Absage der Messen und Großveranstaltungen mit drastischen Umsatzeinbußen.“

Wie sieht die Zukunft aus? Rosig sei anders, weil Messen und Kongresse noch länger ausbleiben würden. Und wann Berlin wieder Touristen begrüßen könne, stünde ebenfalls in den Sternen.

 

Café Neue Liebe – vegetarisch und vegan

Kristine van Essen steht wie immer hinter dem Tresen ihres kleinen Cafés in der Rykestraße. „Wir hatten die ganze Zeit geöffnet, am Anfang noch mit reduzierten Tischen und dann freiwillig nur noch außer Haus. Es fühlte sich einfach nicht mehr gut an, die Menschen mochten sich nicht mehr setzen. Wir haben dann schnell reagiert und nur noch to go angeboten“, erzählt die Inhaberin.

Auch das Sortiment hätte sie umgestellt. „Ich wollte eigentlich ab Sommer schöne Salate mit ins Programm nehmen, das habe ich jetzt vorgezogen.“ Es hätte etwas Zeit gebraucht, dafür die passende Verpackung zu finden – sie sollte ökologisch sein und gut aussehen. Die übrige Zeit hätte sie mit Streichen verbracht.

Dankbar ist sie für ihre Gäste und das Wetter: „So viele hatten das Bedürfnis, meine Sachen auch zu Hause zu genießen. Und wir hatten Glück mit dem Wetter.“ Am einzigen kühlen und regnerischen Tag seien nämlich nur fünf Gäste gekommen.

 

Tausche Tasche – wandelbar und 100 % Deutschland

„Wir merken, dass viele unserer Kunden, die uns hier vor Ort besuchen, Touristen sind, die den Prenzlauer Berg entdecken“, sagen uns Antje Strubelt und Heiko Braun. „Bis wir da das Niveau der letzten Jahre erreichen, wird es wohl noch etwas dauern.“

Sie hätten die Zeit für Arbeiten genutzt, für die sonst die Zeit fehlte. „Wir haben Designwettbewerbe ins Leben gerufen zum Thema ‚Bleibt zu Hause‘“, erzählen sie von dieser Zeit.

Ihr Anliegen ist es, sich zu erweitern und kiezbezogener zu werden. Dazu gehöre auch die verstärkte Suche nach Kooperationen im Kiez: „Bonny&Ried“ werden bei uns einen Pop-up-Store eröffnen, auch andere Projekte sind geplant.“

 

Alle Fotos: © Pavol Putnoki

Artikelveröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020