Yuriy Gurzhy über den Krieg in seinem Heimatland und was das für ihn als Musiker bedeutet
Yuriy Gurzhy liebt die Abwechslung. So bekommt er den Kopf frei. Bereits mit 20 Jahren formulierte er für sich, dass sein Weg die vielfältige Kreation sein würde. Ihm war schnell klar, dass er als DJ allenfalls jedes Wochenende am Start sein könnte und besser noch etwas anderes machen sollte. Gleiches gilt für die Musik: „Ich glaube, das Erfolgsrezept ist, mehrere Projekte am Laufen zu haben. Mit einem ist man zwischenzeitlich etwas stiller, mit dem anderen startet man durch.“ Und da er sich nicht immer zu 100 Prozent einem Projekt widmen kann, hat er eben mehrere am Start. Zu einer anderen Aktivität zu wechseln, bedeutet für ihn, eine Pause einzulegen. Aktuell kann von Pause allerdings nicht die Rede sein. Und das nicht wegen seiner vielfältigen Interessen und Talente, sondern wegen des furchtbaren Krieges in seinem Heimatland.
„Ich merke, dass meinen deutschen Mitbürgern der Kontext des Ganzen fehlt, was auch normal ist. Es ist nicht ihr Land.“
Musik als Therapie und Waffe
Bekannt wurde Gurzhy u. a. mit seiner Band RotFront und mit der legendären Partyreihe Russendisko, die er 1999 mit Wladimir Kaminer initiierte und die 2014 endete. Kaminer richtet sie heute unter dem Namen Ukrainedisko aus. Mit dem Begriff Russendisko braucht man gerade niemandem kommen – auch wenn es mal ein guter Witz gewesen war: „Mit dem Namen kann ich jetzt schwer leben. Es war mal ein starker Titel, der gerade für die Deutschen in Ostdeutschland etwas anderes bedeutet hat. Inzwischen muss man das zu oft erklären. Aber wenn man einen Witz erklären muss, ist er nicht mehr witzig.“ RotFront befindet sich seit zwei Jahren im „Coronaschlaf“. Offiziell hat sich die Band zwar nicht aufgelöst, aber letztlich weiß niemand so recht, ob es sie noch gibt. „Im Moment passiert da nicht viel. Wir waren mitten in den Aufnahmen, als der erste Lockdown kam. Und unser Studio war ungefähr so klein wie diese Küche“, blickt Gurzhy zurück. „Es war nicht vorstellbar, im gleichen Raum mit mehreren Musikern aufzunehmen. Dann zog mein Kollege aus Berlin raus und wohnt jetzt bestimmt 70 Kilometer entfernt. Ich ohne Führerschein und Auto. Mit dem Zug und dann noch mal 15 Kilometer weiter … Das ist schwierig.“ Gurzhy vermisst die Band und steht regelmäßig mit seinen Kollegen in Kontakt. Alle wahren den Schein, als würde die Band noch existieren. Aber etwas Neues gibt es nicht. Doch für Gurzhy ist ohnehin klar: „Nachdem das jetzt mit Corona weitgehend zu Ende ist, hat die Welt plötzlich andere Sorgen. Tanzen ist zwar erlaubt, aber ich kann mir im Moment schwer vorstellen, diese Musik auf der Bühne zu performen, während andere dazu tanzen. Gerade ist die Zeit für andere Musik.“ In der Vorweihnachtszeit 2021 erschien Gurzhys Buch über den neuen jüdischen Sound in Deutschland. Viel darüber sprechen möchte er nicht. „Ich bin nach wie vor sehr stolz darauf. Bloß habe ich das Gefühl, dass es gerade absolut irrelevant geworden ist. Mein Kopf ist voll mit ganz anderen Problemen.“
Band oder Buch – zurzeit ist in Gurzhys kreativem Kopf kein Platz für fröhliche Musik oder andere lebensfrohe Themen. Seine Gedanken kreisen um den Krieg, der ihm als Ukrainer wesentlich näher geht als uns im europäischen Nachbarland. Obwohl wir tagtäglich mit den grausamen Bildern konfrontiert werden, können wir uns in Deutschland von unseren heimischen Sofas aus nicht ansatzweise vorstellen, was die Kämpfe für die Menschen in der Ukraine bedeuten: „Ich merke, dass meinen deutschen Mitbürgern der Kontext des Ganzen fehlt, was auch normal ist. Es ist nicht ihr Land.“ Trotz der schrecklichen Bilder bleibt dieser Krieg für jene abstrakt oder irreal, die ihn nicht direkt spüren müssen. „Ich versuche, den Krieg ein wenig näherzubringen. Das ist eine undankbare Aufgabe.“ Wenn er sich gerade nicht ablenken kann, denkt er an seine Freunde in der Ukraine, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um ihr Land zu verteidigen. Gurzhy hat seine aktuellen Aufgaben sehr klar für sich definiert. „Wir Musiker können etwas machen, was vielleicht ein bisschen Ablenkung schenkt. Musik ist Therapie und dient gleichzeitig auch als Waffe. Wir können mit der Musik Geld sammeln – egal ob live oder online.“ Seine Mission: Mit verschiedenen Kollegen sammelt er Spenden, die er weiterleitet. So hat er zusammen mit Katya Tasheva, der RotFront-Sängerin, und mit bekannten britischen Musikern die The Anti-DicKtators ins Leben gerufen; ihr zweiter Song ist demnächst fertig. „Inzwischen ist Paypal auch in der Ukraine eröffnet, und man kann binnen einer Minute das Geld direkt an die Menschen überweisen, die es gerade am meisten brauchen. Das finde ich toll, und das motiviert mich.“ Alle paar Tage überweist er nach dem Aufwachen Geld dorthin, wo es z. B. für Schutzwesten, Evakuierungen, Essen oder Medikamente benötigt wird.
„Wir Musiker können etwas machen, was vielleicht ein bisschen Ablenkung schenkt. Musik ist Therapie …“
Bilder und Erinnerungen, die das ukrainische Herz zerreißen
Für den Ukrainer ist die Gesamtsituation in seinem Heimatland fast unerträglich. Er versucht irgendwie, damit umzugehen. Er bemüht sich um Konzentration, aber es fällt ihm schwer. Wenn er an sein deutsch-ukrainisches Theaterprojekt zurückdenkt, das er in den vergangenen zwei Jahren mit Kindern im Donbass realisiert hat, und sich die heutigen Bilder von der Stadt Popasna anschaut, bricht es ihm das Herz – übrig sind nur noch Schutt und Asche. Was ist aus den Kindern geworden? Die meisten dürften ausgereist sein, aber zu einigen von ihnen ist der Kontakt abgebrochen. Regelmäßig schicken ihm Freunde Bilder und Videos aus der Heimat, wenn sie z. B. einen Spaziergang machen. „Es sieht so aus, als ob da ein irgendein Virus im Handy unterwegs ist. Du siehst eigentlich sonniges Wetter. Du siehst bekannte Straßen. Auf den ersten Blick ist alles beim Alten, außer dass sehr wenig Leute unterwegs sind. Aber wenn du ein bisschen genauer hinschaust, ist da ein Haus weg, Fenster sind komplett raus oder ausgebrannte Autos stehen rum. Es ist brutal.“ Bei der medialen Berichterstattung hält er sich zurück, weil ihm das kostbare Zeit raubt. Er bekommt auf anderen Wegen mehr als genug mit und das völlig ungefiltert: direkt von seinen Freunden von der Front oder über Telegram-Kanäle. „Das ist sehr roh“, gibt er zu.
Seine Wohnung als Dreh- und Angelpunkt privater Hilfsleistungen
Seine Wohnung in Berlin dient als Umschlagplatz für private Hilfsleistungen. Auch wenn die privaten Initiativen oft in kleinerem Rahmen agieren, haben sie den Vorteil, dass die Hilfe direkt erfolgt. „Innerhalb von einer Woche kaufen irgendwelche Leute in Kalifornien, die ich nicht kenne, zehn Schutzwesten und zwanzig Tablets. Die Sendungen kommen zu mir.“ Dort werden sie von Fahrern abgeholt, in die Ukraine gebracht und verteilt. „Gestern stand mein Nachbar hier mit zwei riesigen Müllsäcken mit Kinderklamotten, obwohl er weiß, dass mein Kind 17 ist. Er wolle das gern spenden und habe noch sieben andere Säcke. Ich habe die zwei angenommen, auch wenn ich nicht weiß, wohin damit. Aber ich werde schon was finden.“ Die ganze ukrainische Diaspora funktioniert gerade wie ein globaler Computer: Wo wird was gebraucht? Wo kann wer was kaufen und zahlen? Wer ist mit wem verbunden? Gurzhy möchte einen Beitrag leisten. Trotzdem hat er ständig das Gefühl, nicht zu genügen. Er ist unzufrieden mit sich, macht sich Vorwürfe. „Und ich kann mich einfach nicht entspannen. Das ist umso schwieriger, weil ich auch nicht rauche, nicht trinke, keine Drogen nehme. Ich mache auch zu wenig Sport, weißt du.“ Der Musiker ist dankbar für all die Hilfsbereitschaft, auch unter seinen deutschen Freunden: „Solidarität, Gastfreundschaft und überhaupt das Beste, was im Menschen steckt, erlebe ich in den letzten drei Monaten in einem Ausmaß, das ich bisher noch nicht gesehen habe.“
„Ich bin oft wütend
in den letzten Monaten.“
Schwere Waffen für die Ukraine
Zum Thema Waffenlieferung an die Ukraine vertritt Gurzhy eine klare Meinung: „Das Land braucht schwere Waffen. Ich kann nur schwer mit dieser We-want-Peace-Mentalität umgehen, weil ich das Gefühl habe, man möchte da einfach ein bisschen vorspulen. Aber vor dem Frieden muss es einen Sieg geben, und Russland ist ein großer, gut bewaffnete Gegner. Um dieses Monster zu besiegen, braucht man eben schwere Waffen. Ich kann nur hoffen, dass ganz viele Leute, von denen das abhängt, meine Meinung teilen oder sich möglichst bald überzeugen lassen.“
Die Pro-Putin-Demos in Berlin machen den Ukrainer wütend. In seinem Heimatland werden Frauen und Kinder vergewaltigt, Bibliotheken und Sehenswürdigkeiten zerstört, Bücher verbrannt. Mehr als eine halbe Million Zivilisten sind mittlerweile in Nachbarländer geflohen, deren Sprachen sie meist nicht beherrschen und ohne zu wissen, ob sie ihre Angehörigen jemals wiedersehen werden. Andere harren seit Monaten in höchst unwürdigen Zuständen in Bunkern aus. Mehrere Tausend Zivilisten und Streitkräfte sind bereits ums Leben gekommen. Wie kann man so etwas gutheißen? „Ich bin oft wütend in den letzten Monaten“, erzählt Gurzhy. „Ich weiß nicht, wie man so was unterstützen kann. Ich kann mir nur vorstellen, dass diese Leute Propagandaopfer sind. Wenn du Zugang zu den Infos hast, siehst du doch, was in der Ukraine getrieben wird. Unter welchem Motto kann man das irgendwie befürworten? Das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft.“
Info
Ihr wollt ebenfalls die Ukraine unterstützen? Unter dem folgenden Link oder QR-Code könnt ihr an die Ukraine-Hilfe Berlin e. V. spenden: