Kolumne Wladimir Kaminer

Alle empören sich gegenseitig

Wladimir Kaminer

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Meine Tochter findet Letzte Generation großartig und würde sich auch gern irgendwo ankleben, zum Beispiel vor einem Späti in Prenzlauer Berg, um gegen den Klimawandel zu protestieren. Doch die Menschen, die in unserem Späti verkehren, scheinen dermaßen am politischen Geschehen desinteressiert, da verhungert man eher, bis die Presse kommt. Einen politisch relevanten Ort zum Ankleben gibt es in unserem Bezirk nicht.

Über die Initiative Letzte Generation wird viel geschimpft, getratscht und gelacht. Es werden mehr Karikaturen über sie gezeichnet als über die Bundesregierung. Die bislang gelungenste Zeichnung, die ich kenne, zeigt einen Champagnerempfang bei einem reichen Kunstliebhaber, der seine Gäste mit einer neuen Eroberung beeindrucken will. An seinem neuen Kunstwerk, gerade frisch bei einer Kunstauktion ergattert und im Gästezimmer ausgestellt, klebte noch eine Klimaaktivistin am Rahmen. „Habe sie nicht abbekommen“, erklärte der Sammler dem Publikum, die junge Frau am Rahmen lächelte gequält in die Runde. Der letzten Generation ist es gelungen, die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und eine gesellschaftliche Diskussion anzustoßen. Über die Ziele der Bewegung, über konkrete Angebote zum Erreichen dieser Ziele wird jedoch kaum gesprochen. Klimawandel hin oder her, viel interessanter scheint für die Öffentlichkeit die Frage: Wann endet der Protest, und wo beginnt eine Rechtsverletzung? Junge Menschen, die sich an die Kunstwerke in Museen festkleben, die Straßen blockieren und berühmte Bilder mit Kartoffelbrei übergießen, setzen auf gesellschaftliche Empörung, ganz im Sinne des populären Traktats des französischen Philosophen Stephane Hessel „Empört Euch!“. Er rief die Jugend zum zivilen Ungehorsam und zur gewaltlosen Revolte auf angesichts des traurigen Zustandes unseres Planeten. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, die Letzte Generation hat den Philosophen falsch verstanden. Er meinte, die Aktivisten sollten sich über die egoistische Gesellschaft empören, in unserem Fall passiert eher das Gegenteil: Die Gesellschaft empört sich über die Aktivisten. Gut, eigentlich empören sich alle gegenseitig.

Die Klimaaktivisten empören sich über die egoistische Konsumgesellschaft: Wie kann man die Kunst genießen und sich über das Leben freuen, wenn woanders Menschen verhungern, die Wälder sterben und die Häuser von Hochwasser bedroht werden?! Angesichts der Umstände möchte die Letzte Generation sozusagen in jedes Champagnerglas spucken, mit dem auf diesem leiderfahrenen Planeten angestoßen wird. Die egoistische Gesellschaft empört sich ebenfalls. Wie kann man so blöd, so kindisch und naiv sein zu glauben, dass man den Planeten retten kann, indem man sich an der Sixtinischen Madonna vergreift oder auf der Autobahn für noch mehr Stau sorgt? Die gegenseitige Empörung ist groß. Dabei liegen beide Seiten in ihren Vorstellungen über den Zustand der Welt gar nicht weit auseinander, inzwischen will niemand bestreiten, dass es dem Planeten nicht gut geht und wir Schuld daran sind.

Die egoistische Gesellschaft möchte schon den Planeten retten, aber nicht jetzt gleich. Und schon gar nicht konsequent. Das würde ja bedeuten, sofort aus dem Auto zu steigen und die weiten Wege zu Fuß zu gehen, während die Inder und die Chinesen weiterfahren. Wir brauchen eine gescheitere Lösung, sagt die Konsumgesellschaft, am besten durch Einsatz von neuen Technologien, mithilfe des Fortschritts und der Wissenschaft, ohne Verlust des ökonomischen und sozialen Status, ohne Umstellung der Bedürfnisse. Es muss doch bestimmt eine Lösung geben, wie man den Planeten quasi im Vorbeifahren rettet, ohne aus dem Auto zu steigen. Wir sollen zuerst mit den Indern und den Chinesen reden, von allen anderen ganz zu schweigen. Es hat keinen Sinn im Alleingang.

Wir überlegen also zuerst bei einem Glas Champagner etwas Gescheites und melden uns, wenn der Champagner alle ist.

Die Letzte Generation kontert, es hat keinen Sinn auf die anderen zu schielen, man muss bei sich selbst anfangen, mit eigenem Beispiel vorangehen, wenn man die Welt wirklich retten will. Die anderen werden es schon begreifen und ziehen nach. Schon möglich, argumentiert die Gesellschaft, und wenn nicht, was dann? Dann stehen wir ganz schön blöd da, und die anderen lachen uns aus.

Mich erinnert die Letzte Generation an den russischen Aktionskünstler, den Vordenker, den Ersten der Letzten Generation, der vor nicht langer Zeit auf dem Roten Platz seine Hoden festnagelte. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass der Staat sich immer weiter zu einer Diktatur entwickelt und alle Bürger des Landes im Sack hat. Der Rote Platz wird rund um die Uhr bewacht. Schon eine halbe Minute später erschien die Polizei und bat den Künstler mitzukommen. „Würde ich gern, aber es geht nicht!“, konterte er.

Seine Aktion hat die Gesellschaft in gewisser Weise schon wachgerüttelt. Der Künstler wurde mit Einladungen und Zuschriften überschüttet. Die Menschen stellten ihm jedoch keine politischen Fragen, sie diskutierten auch nicht, was getan werden muss, um die Kontrolle über den eigenen Staat zurückzugewinnen. Alle wollten wissen, ob sein Hodensack wieder heil ist.

Infobox

Wladimir Kaminer

Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste Zeit
unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.

Kürzlich erschien sein neues Buch Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel.

www.wladimirkaminer.de

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