Bärbel Stolz Kolumne

Bärbels ungebetener Ratschlag

Lieblingsorte

Eine Kolumne von Bärbel Stolz

Ich wollte so gern die Yayoi Kusama-Ausstellung im Martin Gropius Bau sehen, leider sind die Museen wieder geschlossen. Aber man kann eine digitale Eröffnung und eine Retrospektive anschauen. Das hätte ich ansonsten vielleicht nicht gemacht. Und womöglich wäre es mir so gegangen wie mit der Ai WeiWei-Ausstellung. Und mit Hannah Arendt: „Au, da will ich hin! Da geh ich noch hin, das läuft ja noch ne Weile, da hab ich immer noch Zeit, wenn die Touristenströme abgeebbt sind, da geh ich mal unter der Woche hin … Ach Mist! Jetzt ist das schon rum!“ 

Wie oft ist mir das passiert. Theaterinszenierungen, Ausstellungen, Konzerte, Blühevents im Botanischen Garten. Was ist nicht alles geboten (gewesen), und ich hab mir hier und hier und hier ein Gedankenhäkchen gesetzt – und am Ende des Jahres eine Schüssel voll klappernder Versäumnisse zusammengekehrt. 

Jetzt kann man grade nicht. Immer noch nicht. Immer wieder nicht. Es gab ein kleines Zeitfenster im Sommer/ Herbst 2020, da war ich aber noch zu vorsichtig und wollte stabile Zahlen abwarten. Also sinkende. Sie stiegen stabil, deswegen habe ich mich bei den Öffnungen 2021 auch zurückgehalten. Aber ich bin zuversichtlich, dass es noch dieses Jahr klappt. 

Lieblingsort. Das fällt mir plötzlich ein. „Was ist dein Lieblingsort in Berlin?“, wurde ich vor 15 Jahren mal gefragt. Und schon damals konnte ich mich nicht für einen entscheiden. Der Hamburger Bahnhof, der Würgeengel und die Admiralsbrücke waren damals darunter. 

Was fällt euch spontan dazu ein? Könnt ihr euch für einen entscheiden? Ich bewundere Menschen, die das können, diese Absolutheit, das ist so leidenschaftlich. Meine Mutter zum Beispiel antwortet wie aus der Pistole geschossen: „der Schwaltenweiher“. Das ist ein schöner See. Reicht das, um der Lieblingsort zu sein, oder muss auch ein bestimmtes Gefühl dazukommen? Und der Ort oder schon der Gedanke daran katapultiert dich sofort in dieses Gefühl hinein? 

Ich kann mich wieder nicht entscheiden. Aber die Euphorie für einen oder anderen Ort ist ja auch tagesformabhängig („also je nachdem, ob du grade ein Kreis, ein Kubus oder ein Zylinder bist“, sagt mein witziger Sohn). Bücher sind für mich Lieblingsorte. Sie nehmen mich stärker als jeder Film mit in andere Länder, Epochen, Denkweisen. Ich habe das Gefühl, anders zu atmen, zu schmecken und zu riechen, wenn ich lese. 

Yoga ist ein Lieblingsort. Es ist eine Reise ins Jetzt. Ähnlich wie Wandern. Du kannst dich nur auf den Moment konzentrieren, und das putzt die Seele. In den Bergen über Gratwanderwege laufen und sich fühlen wie zwischen Himmel und Erde. Berge. Ausblick lässt dich aufatmen, Landschaft kann sein wie klares Wasser trinken, wenn man sehr durstig ist. Und dann natürlich das Meer. In die Hiroshi Sugimoto-Ausstellung habe ich es immerhin mal geschafft. Das war 2008. Ein Bild habe ich mir gekauft und sehe es immer noch gerne an. Es ist eine Schwarzweißfotografie vom Meer. Sugimoto suchte nach einem Ort, einem Blick, der sich nicht verändert hat und nicht verändern wird. Ein Stück lebendige Ewigkeit sozusagen. Zum Meer hab ich auch gleich ein Lieblingsort-Gefühl – in den Wellen treiben und die Füße an die Oberfläche strecken und die lackierten Zehen vor dem blauen Himmel schaukeln sehen. 

Manchmal bin auch ich selber mein Lieblingsort. Wer wollte nicht schon längst „bei sich selbst ankommen“? Die Wege dahin sind vielfältig und verschlungen, die Umwege machen Spaß und lohnen sich – und ein Ziel für seine Sehnsucht zu haben, ist auch was Feines. 

Sehnsucht ist eh ein gutes Stichwort. Wenn ich viel unterwegs bin, dann ist mein Zuhause ein Sehnsuchts-Lieblingsort. Zuhause ist natürlich auch ein Gefühl. Als ich meine Kinder frage, sagt mein Sohn: „Mein Lieblingsort ist hier zu Hause – nachdem man den ganzen Tag draußen war, und jetzt ist man so richtig müde und ein bisschen kalt, und dann ist es hier so kuschelig und gemütlich.“ 

Meine Tochter antwortet auf die Frage ganz spontan: „Mein Bett. Nein, euer Bett.“ Klar, unseres ist größer. Und man wird bekuschelt. Das war abends beim Abendessen, und wir waren tagsüber viel herumgetollt und eine gemütliche Schwere hatte sich bei uns allen breitgemacht. Allerdings: „Mein Bett“ rangiert recht weit oben, haben meine Recherchen ergeben. Das ist verständlich. 

Ein Lieblingsort muss schon behaglich sein. Und im Bett wartet ja … der Schlaf – ein Lieblingsort, der einen an neue Lieblingsorte bringen kann. Mit die schönsten Sätze über Schlaf stehen in Virginia Woolfs „Orlando“: „Ist er ein Heilmittel – eine Trance, in der die verbitterndsten Erinnerungen, Ereignisse, welche dazu angetan scheinen, das Leben auf immer zu verkrüppeln, von einem dunklen Flügel gestreift werden, der ihre Rauheit glättet und sie, auch die häßlichsten und gemeinsten, mit einem Glanz, einer sanften Glut übergoldet? Sind wir so geschaffen, dass wir den Tod täglich in kleinen Mengen zu uns nehmen müssen, weil wir sonst mit dem Geschäft des Lebens nicht weiterkämen? Muss sich der Finger des Todes von Zeit zu Zeit auf den Tumult des Lebens legen, weil der uns sonst zerrisse?“ 

Behaglich kann es aber auch in großem Gewusel sein. Auf dem Flohmarkt, wenn es nach staubigen Erinnerungen alter Zuhauses und frisch gebackenen Waffeln riecht, bei Musikfestivals, die man drei Tage ungeduscht durchtanzt. Das sind momentan noch Sehnsuchtsorte, aber das kriegen wir wieder!

Oh. Lieblingsorte. Es gibt so viele! Sie können sich je nach Tageszeit oder Jahreszeit ändern. Das Lautertal ist ein Lieblingsort von mir und meiner Mutter. Früh morgens, wenn es gerade hell wird, noch ein bisschen Nebel hochsteigt, als würde die Schlafdecke sich auflösen, und niemand außer dem Fuchs und der Amsel uns begegnet. Später oder gar am Wochenende muss man den Radlern ausweichen, statt Nebel ziehen Rauchwolken aus der Grillstelle – dann gehört der Lieblingsort jemand anderem. Auch in Berlin bin ich am liebsten Frühmorgens allein draußen – der Mauerpark, die Behmbrücke, der Blick auf den Fernsehturm.

Komisch ist es, wenn du nach langer Zeit an einen Lieblingsort zurückkommst und der sich verändert hat. Anders riecht. Umgebaut womöglich. Bäume gefällt. Dann stellt sich das Gefühl nicht ein, das zu dem Ort gehört, und das irritiert. Wie ein Dia, sich verfärbt hat oder ein Puzzlestück, das nicht passt. Dann musst du ihn neu entdecken oder nur in der Erinnerung zurückkehren oder dir einen neuen suchen. Gibt ja zum Glück so viele. „Lieblingsort? Da, wo meine Familie ist“, sagt mein Mann, und das finde ich nach 14 Monaten Pandemie sehr nett.  

Mein Rat: Sucht euch jeden Tag mindestens einen Lieblingsort und genießt ihn. Virtuell, im Kopf oder live.

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ist Schauspielerin und Autorin. Mit ihrer Figur die Prenzlschwäbin hat sie schwäbische, deutsche und großstädtische Eigenheiten aufs Korn genommen und mit ihren YouTubeVideos und Liveauftritten Menschen im ganzen Land begeistert. Hoffentlich bald ist sie mit ihrem neuen Programm Toller Arsch wieder auf Tour. www.prenzlschwaebin.de 

 

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© Foto: Pavol Putnoki