Ständig muss ich mir von den Neuhinzugezogenen Beschwerden über Berlin anhören, die Stadt sei schmutzig, viel zu dreckig für die berühmte deutsche Ordnung, zu viel Müll würde hier auf der Straße liegen. In der Regel sage ich nichts dazu, ich schweige höflich. Ja, es liegen viele Sachen in Berlin auf der Straße, doch das ist eine Folge der Mülltrennung. Die BerlinerInnen trennen sich von ihrem Müll, und sie wissen immer, welcher Müll in welche Straße gehört.
Eine Kolumne von Wladimir Kaminer
Meine Hipster-Nachbarn in Prenzlauer Berg drehen richtig auf bei der Mülltrennung, wir haben inzwischen nicht zwei und nicht drei, sondern vier verschiedenfarbige Mülltonnen auf dem Hof. Es sind gute Menschen, sie glauben die Welt retten zu können, auch dann noch, wenn die Welt sich dagegen wehrt. Kann Mülltrennung die Welt retten? Das weiß man nicht, aber versuchen kann man es ja. Neulich habe ich eine Karikatur gesehen, ein Mann mittleren Alters steht mit seinem sauber in vier verschiedene Tüten getrennten Müll auf dem Hof und schaut auf den Horizont, wo sich gerade ein riesiger Atompilz ausbreitet. „Es war also doch alles umsonst,“ sagt er.
Die BerlinerInnen lieben ihren Müll, er ist ein wichtiger Bestandteil des großstädtischen Images, man sollte diese Stadt als Gesamtkunstwerk wahrnehmen, oft wird hier Müll zu Kunst und umgekehrt. Neulich hat eine Putzfrau nach der Vernissage in einer Kunstgalerie in Mitte mehrere Kunstwerke, Installationen aus Schläuchen und Metall aus dem Ausstellungsraum entsorgt, weil sie dachte, diese Schläuche seien von den Gästen liegen gelassener Abfall gewesen. Sie hätte sie aber genauso gut in ein Museum bringen können, es gibt in Berlin ein gut besuchtes Müll-Museum, in Kreuzberg. Dort werden Kunstwerke aus Kiez-Müll ausgestellt, fantasievolle Objekte: Döner aus Knete, Elektroschrott-Skulpturen und eine mit Plakaten bis zur Unkenntlichkeit zugeklebte Bretterbude. Die Besucher kommen aus der Nachbarschaft, aber auch aus Japan, Italien, Südafrika und der Ukraine, berichtete die Museumsleiterin. Die einen wollen den Berliner Müll bestaunen, die anderen den eigenen Müll loswerden.
Schon immer hat diese Stadt es gut verstanden, sich clever zu vermarkten. Mal waren wir „arm, aber sexy“, dann eine „Partystadt,“, eine „Kiffer-Metropole“, ein Club, in dem die Musik rund um die Uhr spielt.
Dieser ständige verspielte Imagewechsel führt zur Steigerung der Kreativität in der Bevölkerung. Viele Menschen leuchten hier sogar vor lauter Kreativität in der Dämmerung, was der Stadt zugutekommt, denn das Geld für die Weihnachtsbeleuchtung fehlt. Jedes Jahr gibt es in dieser Stadt kein Geld für Weihnachtsbeleuchtung. Bereits im Herbst beginnt die Diskussion darüber. Und in jedem Jahr schreiben die Zeitungen, es wird diesmal ein dunkles Weihnachtsfest werden. Der Bürgermeister muss die Haushaltsnotlage erklären: Wo ist das Geld aus der Stadtkasse hin gerutscht? Paff, weg war es!
Dann aber, kurz vor Weihnachten, passiert jedes Mal etwas Überraschendes: Der Bürgermeister findet plötzlich doch das Geld, oder irgendeine Firma springt als Sponsor ein, oder eine reiche alleinstehende Berliner Witwe stirbt und vermacht ihr ganzes Geld dem Senat für die Weihnachtsbeleuchtung – auf einmal leuchtet Berlin so unverschämt teuer als wäre es Wien. Und die Berliner sagen: „Schade. Wir hatten schon gehofft, ein bisschen in der Dunkelheit zu verweilen und niemanden zu sehen.“ Die Berliner meckern immer. Unzufrieden sein ist hier die am häufigsten anzutreffende Form des sozialen Zusammenlebens. Und dafür müssen die Berliner büßen. Angeblich ist in Berlin ein unsichtbarer Weihnachtsmann unterwegs, und jeder bekommt von ihm am Ende des Jahres ein unerwartetes Geschenk, etwas, was er oder sie sich gar nicht gewünscht hat.
Was ist das Geheimnis dieser Stadt, warum kommen trotz allem jeden Tag neue Menschen nach Berlin? Vor allem Künstler mögen es hier, sie versprechen sich Ruhm, Spaß und zehn Millionen Follower. Neulich sagte mir ein Zugezogener, endlich sei er in einer deutschen Großstadt gelandet. Eine Großstadt? Mit gerade Mal vier Millionen Einwohnern?
Ja, Berlin sieht immer nach mehr aus, die Frage ist, wie wird hier eine Volkszählung eigentlich durchgeführt? Wie kann man alle diese Chaoten, die nachts durch die Stadt ziehen, zusammenzählen? Für die Volkszählung werden bloß die Daten aus den Melderegistern herangezogen, dabei bleiben viele BerlinerInnen ihr Leben lang hier nicht gemeldet, andere melden sich bei jeder Freundin sofort an.
Zusätzlich wird hier ab und zu so etwas wie eine stichprobenartige Haushaltserhebung durchgeführt. Viele BerlinerInnen schlafen aber tagsüber oder sind nicht da. Andere haben Schulden und machen die Tür einfach nicht auf, wenn jemand unangemeldet klingelt. Es ist also möglich, dass man hier tatsächlich zehn Millionen Menschen treffen kann, vor allem nachts, wenn es draußen dunkel wird.
Infobox
Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste Zeit
unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.
Kürzlich erschien sein neues Buch
Mahlzeit!
Geschichten von Europas Tischen
im Goldmann Verlag.

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