Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Manchmal können die Schriftsteller ganz schon frech sein. Der berühmte russische Fabeldichter Ivan Krylov, ein moralischer Zeigefinger der Nation, zerstritt sich mit der Zarin Katharina der Großen. Er meinte, sie würde zu sehr unter dem Einfluss ihrer sogenannten Freunde aus Frankreich stehen, die eigentlich nur ihr Geld wollen und ihr mit den obskuren Ideen der sogenannten Aufklärung den Kopf vernebeln. Die Zarin meinte, er solle bitte die Klappe halten, habe er doch seine berühmten Fabeln alle bei den Franzosen abgeschrieben.

Das konnte Krylov nicht auf sich sitzen lassen und erwiderte, Katharina habe sich selbst als Person von den Franzosen abgeschrieben. Sie war nämlich sehr stolz auf ihren Briefwechsel mit Voltaire und fühlte sich in der Tat von den Ideen eines Jean-Jacques Rousseaus inspiriert. Dieser Jean-Jacques propagierte die Idee des natürlichen Menschen, der von Geburt an eine reine Seele hat. Der natürliche Mensch würde erst von der Gesellschaft verdorben, die ihn unterdrückt und verunstaltet. Wenn er aber aus der Zivilisation raus und in seine natürliche Umgebung zurückfindet, wird er wie von allein alle seine großartigen Eigenschaften wieder entwickeln.

Ivan Krylov konnte jedoch diesem Naturmenschen nichts abgewinnen und widersprach der Zarin, der Naturmann wäre eine Bestie, ein Tier, das nichts anderes im Sinn habe, als jedem anderen Kind der Natur in den Hals zu beißen. Die Zarin wurde richtig wütend und sagte dem Fabeldichter, er solle ihr nicht mehr unter die Augen treten, ins Exil gehen, weg aus Russland. Krylov lehnte ab. Damals hatten die Künstler noch richtig Mumm. „Na dann, wie du willst“, sagte die Zarin. Krylovs Werke wurden von der Zensur verboten, er hatte kein Geld, versuchte, sich mit dem Kartenspiel über die Runden zu bringen, häufte aber bloß noch mehr Schulden an. Zum Glück hatte er gute reiche Freunde, die Gutsbesitzer-Familie Tatischew. Er könne auf ihrem Gut leben, so lange er wolle, da sie eine lange Reise durch das Land planen würden, meinte sie.

Dort auf diesem Landgut auf sich allein gestellt, dachte Krylov erneut über das Leben des natürlichen Menschen nach, wie würde so ein Adam sich fühlen, vor allem, wenn er allein wäre, ganz allein in seinem Garten, mit Äpfel und ohne Eva? Krylov hörte auf sich zu rasieren und sich die Haare und Nägel zu schneiden, entledigte sich aller Kleider und zog in den Garten. Dort irrte er nackt herum Tag für Tag, Woche für Woche, aber stets mit einem Buch in der Hand, auf die Bücher, dieses Lametta der Zivilisation, konnte er nicht verzichten. Die Leibeigenen, die auf ihn aufpassen sollten, trauten dem Fabeldichter nicht über den Weg, denn bald sah er tatsächlich wie ein Wilder aus, ein Naturmann, Personne Naturelle, unansehnlich und gefährlich. Er ernährte sich von Früchten und trank aus dem Teich, kam nur nachts ab und zu ins Haus, um sich ein neues Buch zu holen.

Als die Familie der Gutsbesitzer eines Abends von der Reise zurückkam, sah die Frau einen alten weißen, nackten Mann im Garten, der schnell vor der Kutsche weglief und sich im Busch versteckte. Die Dienstmädchen erzählten, was hier los sei. Der Herr des Hauses ging in den Garten, den Fabeldichter rufen. „Kommen Sie raus!“, rief der Gutsbesitzer, „wir werden Ihnen nichts tun!“ „Ich kann nicht rauskommen, ich schäme mich,“ antwortete der Fabeldichter. „Schicken Sie mir bitte Ihren Barbier mit Werkzeug in die Büsche, er soll mir auch eine Jacke und Hose bringen.“

Langsam kehrte die Ordnung ins Haus zurück. Zwei Stunden später saßen alle am Tisch und aßen zu Abend französisches Hähnchen mit Weinsauce, der Fabeldichter sah einigermaßen in Ordnung aus. Er wollte nur herausfinden, wie es sich anfühlt, ein Naturmensch zu sein, erklärte er den Freunden sein merkwürdiges Verhalten. „Und?“, fragten ihn die Gutsbesitzer. „Wie fühlt sich das an, ein Naturmensch zu sein?“ „Naja“, antwortete der Fabeldichter mit vollem Mund, „naja, die Franzosen, die spinnen.

Infobox

Wladimir Kaminer

Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste Zeit
unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.

Kürzlich erschien sein neues Buch
Mahlzeit!
Geschichten von Europas Tischen

im Goldmann Verlag.

www.wladimirkaminer.de

Profil Wladimir Kaminer

Mahlzeit!
Geschichten von Europas Tischen

Kaum jemand ist so neugierig auf seine Nachbarn wie Wladimir Kaminer. Egal ob es um einzelne Menschen oder ganze Länder geht.
Und wie könnte man einander besser kennenlernen als beim gemeinsamen Essen?

208 Seiten | August 2024 | Goldmann
Verlag, Originalausgabe

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