Kolumne Wladimir Kaminer

Leck mich …, Jim

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Nicht alle Geschäfte in unserer Straße haben die dreimonatige Corona-Pause überlebt.

Die Friseure, ​die Waschmaschinenreparatur, der komische kleine Laden „Ersatzteile für Wasserpfeifen“ und ein ​von Indern betriebenes mexikanisches Restaurant „El Cactus“ haben es geschafft: Sie sind mit den ​ersten Lockerungen aus dem Corona-Schlaf aufgewacht. ​ Die Spätverkaufsstellen, die eigentliche Infrastruktur ​Berlins, waren gar nicht zu.

Die Spätis sind sowieso das ​Geschäft der Zukunft, sie ersetzen bereits jetzt Kneipen, ​Post, Lebensmittelläden, Telefonshops und Familienbetreuung ​mit psychologischer Beratung. Ich glaube, dass ​die Spätiverkäufer in ihren Läden leben, zumindest sehe ​ich sie Tag und Nacht. Entweder stehen sie hinter der ​Verkaufstheke, oder sie sitzen mit einem dicken Joint ​auf der Bank vor ihrem Laden. ​

Aber das größte Gebäude in unserer Straße, das Filmtheater ​Colosseum hat es leider nicht geschafft, es ist ​in die Insolvenz gegangen. Das Colosseum gehörte natürlich ​zur Risikogruppe, schon über 100 Jahre alt und ​mit Vorerkrankungen. Es wurde Ende des neunzehnten ​Jahrhunderts als Pferdestall gebaut und später zu einem ​Straßenbahndepot umgebaut. In der Weimarer Republik ​hieß es bereits Colosseum. „Das Lichtspieltheater ​für Stummfilmaufführungen mit Orchesterbegleitung“ ​stieg schnell zum beliebtesten Vergnügungsort Berlins ​mit 1.000 Plätzen auf. Im Zweiten Weltkrieg verwandelte ​sich das Filmtheater in ein Lazarett, dort wurden ​verletzte Faschisten und Wehrmachtsoldaten verarztet, ​in der DDR avancierte das Colosseum zum Premierenkino ​der Hauptstadt und damit ganz Ostdeutschlands.

​In der letzten Zeit ging es dem Colosseum nicht gut, ​es wurde von einer amerikanischen Kinokette in Besitz ​genommen, die selbst Tochter einer chinesischen ​Kommerzgruppe war – mit einem Wort: Die hässliche ​Schlange des menschenfeindlichen Turbokapitalismus ​hat unser altes Kino geschluckt. Die neuen Betreiber ​verscheuchten die letzten Kunden mit unsäglichen Preisen, ​sie wollten für eine kleine Portion Nachos mit Käsesoße ​8 Euro haben. Wer kann sich das leisten? Nun hat ​Corona dem Kino den letzten Todesstoß verpasst. ​

Meine Kinder und ich, wir waren schon lange nicht mehr ​in dem Kino, die Filme kann man sich inzwischen alle ​zu Hause ansehen, und die Nachos machen wir selbst. ​Trotzdem haben wir um das alte Kino getrauert, schöne ​Erinnerungen kamen hoch. ​Meine Kinder, inzwischen längst erwachsen, haben in ​diesem Haus ihre ersten Filme auf großer Leinwand ​gesehen. Meine Tochter Nicole war bei der Premiere ​vom „Kleinen Eisbär“ nach 30 Minuten tränenüberströmt ​rausgelaufen, der lustige Zeichentrickfilm erwies ​sich als krasser Horror mit Schwerpunkt Tierquälerei. ​Der kleine Eisbär fiel permanent vom Nordpol ins Wasser und das bei eisigen Temperaturen, er schwebte in ​Lebensgefahr und hatte eigentlich keine Chance. Nur ​mit Glück konnte er dem Tod entkommen. Danach ist ​meine Tochter jahrelang nicht ins Kino gegangen, weil ​sie Angst hatte, den kleinen Eisbären zu treffen und ​wieder mit seinem traurigen Schicksaal konfrontiert ​zu werden.

Ihr jüngerer Bruder Sebastian hat ein Jahr ​später im Colosseum zusammen mit seiner Kindergartengruppe ​die „Brüder Tiger“ erwischt, da ging es ​noch krasser zu als bei dem Eisbären am Nordpol. Die ​Eltern der beiden Tiger-Brüder wurden auf bestialische ​Weise umgebracht, die kleinen Babys missbraucht und ​zu Ringkämpfen gezwungen. ​Das ist sicher nichts Neues, dass beinahe alle sogenannten ​Kinderfilme aus psychologischer Sicht eine Folter ​für empathiegeleitete junge Menschen darstellen. Die ​niedlichen Figuren in diesen Filmen müssen stets Not ​leiden, es gibt sicher eine massenpädagogische Begründung, ​warum das so ist, die habe ich aber nie verstanden. ​Mein Sohn wollte diese Tiger eigentlich gar nicht sehen, ​er war stattdessen an „Herr der Ringe. Teil I“ interessiert. ​„Herr der Ringe. Teil I“ war aber erst ab 16 Jahren ​zugänglich. Ich habe heftig mit den Filmkartenverkäufern ​diskutiert und versucht, sie zu überzeugen, dass ​mein Sohn eigentlich längst reif für den Märchenfilm ​sei, dass er auch sehr bald sechzehn Jahre alt sein werde ​und gar nicht so jung sei wie er aussehe.

Sie haben mir ​nicht geglaubt, die Kartenverkäufer, aus gutem Grund, ​Sebastian war damals 5 Jahre alt. Und im Colosseum ​haben sie immer sehr genau aufgepasst, dass die Kinder ​in die Kinderfilme nur zum Heulen gehen. „Herr der ​Ringe. Teil II“ war später plötzlich ab 12 Jahre erlaubt, ​obwohl dort Zwerge und Trolle nicht weniger heftig ​gekämpft haben. Mit der Altersbeschränkung „ab 12“ ​hätten wir vielleicht doch eine Chance gehabt, immerhin ​war Sebastian zu diesem Zeitpunkt bereits 7 Jahre ​alt, aber da hatte er bereits im Internet den Teil gesehen ​und wollte nicht mehr ins Kino. ​

Auch mein erster Film in Deutschland und Europa habe ​ich im Lichtspieltheater Colosseum ​vor 30 Jahren gesehen. Ich ​kam im Sommer 1990 aus Moskau ​nach Berlin, meine erste Wohnung ​in Prenzlauer Berg war nicht ​einmal 300 Meter vom Colosseum ​entfernt. Mein Freund Andrej und ​ich wollten gerne ins Kino gehen, ​am besten in einen ersten, richtig ​guten Film, in dem viel gekämpft ​und geschossen wird. Im Colosseum ​lief „Pretty Woman“, Woche ​für Woche, mehrere Monate lang. ​Wir sind eines Tages hingegangen, ​mehr aus Verzweiflung als aus Interesse. Der Film lief ​auf Deutsch, unsere Sprachkenntnisse waren nicht ideal, ​wir haben nicht wirklich verstanden, worum es ging. ​Mein Freund Andrej entwickelte eine Theorie, die auch ​erklären sollte, warum dieser Film damals so lange im ​Colosseum lief.

In den Augen meines Freundes sollte ​„Pretty Woman“ eine Metapher für die deutsche Wiedervereinigung ​sein, ein reicher Mann (der Westen) lernt ​eine arme, aber recht nette Frau mit niedriger sozialer ​Verantwortung (die DDR) kennen und versucht, sie in ​seinem Sinn umzuerziehen. Am Ende sind sie zusammen ​glücklich. Wir haben über diese Metapher damals ​gestritten und warteten auf den nächsten Film. Im späten ​Herbst 1990 verschwand „Pretty Woman“ aus dem ​Colosseum und es kam „The Doors“.

Ein großer Kopf ​des Schauspielers Val Kilmer, der Jim Morrison täuschend ​ähnlich sah, verfolgte mich mit seinem Blick, ​kaum dass ich aus dem Haus trat. Ich hatte mich gerade ​an der Humboldt-Universität für das Studienfach „Germanistik“ ​angemeldet, ich lernte Sprache, ich hatte einen ​anstrengenden Job bei der Altkleidersammelstelle und ​musste täglich sehr früh aus dem Haus, um zur Altkleidersammelstelle ​nach Moabit zu fahren. Jeden Morgen ​um 6:30 Uhr stand ich schlecht gelaunt und unausgeschlafen ​auf dem Bahnhof der U-Bahn-Station Schönhauser ​Allee, direkt gegenüber an der Hausfassade des ​Colosseums hing ein übergroßes Plakat mit Morrisons ​Kopf, der mir mit seinem abwertenden, schmaläugigen ​Blick Löcher in die Jacke bohrte. Als wollte er sagen: ​„Was machst du bloß Junge, alles falsch, dein Studium ​wird nichts bringen, deine Arbeit ist pure Ausbeutung, ​schmeiße alles hin, lebe schnell, hab Spaß, Sex, Drugs ​und Rock ‘n‘ roll und sterbe früh.“

​Ich war frisch aus einem sozialistischen Land ausgereist, ​in meiner Heimat bestand das Leben vieler nur aus ​Alkoholismus und Drogenexzessen, ich wollte aber ein ​anderes, ein neues, ordentliches Leben haben, in Freiheit. ​„Leck mich am Arsch, Jim, leck mich am Arsch“, ​dachte ich und stieg in die U-Bahn. ■ ​ ​

 

Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein ​deutscher Schriftsteller, ist er ​hoffentlich bald wieder die ​meiste Zeit unterwegs mit ​Lesungen und Vorträgen. ​Er lebt seit 1990 in ​Prenzlauer Berg.
www.wladimirkaminer.de ​ ​ ​ ​ ​