Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Berlin wirkt wie ein Friedenspflaster auf dem überhitzten Gemüt der Menschheit, allein auf unserer kleinen Straße können die Vertreter unterschiedlichster Völker aus etlichen Brennpunkten der Welt friedlich neben- und miteinander koexistieren. In ihrer Heimat führen sie gegeneinander Kriege: Inder und Pakistanis, Türken und Kurden, Juden und Araber, Russen und Ukrainer. Bei uns brennt es nur an Silvester, und selbst in dieser unruhigen Zeit des Jahres werden die Knaller sozialgerecht und genderneutral allen Bevölkerungsgruppen gleichmäßig unter die Füße geworfen, unabhängig von ihrem Glauben, ihren sexuellen Vorlieben oder ihrem Herkunftsland. Gleich nach Heiligabend beginnt die Knallerei, sie dauert je nach Bezirk mal länger und mal kürzer, aber höchstens bis zum dritten Januar, danach herrscht wieder Frieden. Warum können sie es in Berlin und anderswo nicht? Ist diese Stadt einer Art Friedenselixier, das alles Geschehene vergessen lässt und jedem die Möglichkeit gibt, das Leben neu anzufangen?

So soll die Stadt der Zukunft für mich aussehen: Hundert Blumen blühen, ohne einander das Wasser abzugraben, und sämtliche Kulturen können sich gegenseitig bereichern, einmal im Jahr drehen alle durch, aber nur kurz, dann ist wieder Ruhe im Karton. Berlin ist an meinem Traum nahe dran. Das Gleiche gilt in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, auch hier kann Berlin einen enormen Fortschritt verzeichnen. Die deutsche Hauptstadt war eigentlich schon immer genderneutral, die meisten durch die Stadt torkelnden Gestalten passen überhaupt nicht in die gängigen Genderklischees, besonders im Winter, wenn es draußen kalt und regnerisch ist, sehen die meisten EinwohnerInnen wie formlose Pakete aus, die nicht zugestellt oder zurückgegeben werden müssen, lieblos verpackt, eingerollt in unzählige, nicht definierbare Kleidungsstücke.

Meine Mutter, die noch immer in Sachen Genderkontrolle die simple Optik des vorigen Jahrhunderts benutzt und permanent alle Personen, die ihr im Supermarkt, im Café oder auf der Straße begegnen, in zwei sozialkonstruierte Identitäten „Mann“ oder „Frau“ einzuordnen versucht, tippt ständig daneben. Sie tippt sogar im Schwimmbad daneben, obwohl dort die Menschen vorgeblich in ihrer ursprünglichen Gestalt erscheinen. Seit aber unsere Schwimm- und Sprunghalle, um die Heizkosten zu sparen, die Wassertemperatur auf 23 Grad gesenkt und erlaubt hat, Neoprenanzüge zu tragen, hat meine Mutter aufgehört, die Geschlechtszugehörigkeit zu erraten. In diesen Anzügen kann man Menschen von Fröschen kaum unterscheiden.

Die BerlinerInnen geben nichts darauf, wie ihre Haare liegen, sie setzen stattdessen auf die inneren Werte, nicht auf Äußerlichkeiten, sie lassen sich nicht in vorgefertigte Schubladen stecken. Und deswegen sind in der Parkgarage am Hauptbahnhof auch die Frauenparkplätze immer leer, niemand will sich auf eine Identität festlegen. Gäbe es extra ausgeschilderte Männerparkplätze in der Garage, würden auch sie leer stehen. Ich bin ein BerlinerInnen, sagen die Berliner. Auch die Politik in der Stadt ist menschenfreundlich und lebensbejahend, niemand soll von ihr unter Druck gesetzt werden.

Die wichtigsten Ereignisse des Jahres werden in der Regel wiederholt, damit sie niemand vermisst, wie die Berliner Wahl vom letzten Jahr. Sie wurde falsch ausgezählt, viele Stimmen mussten für ungültig erklärt werden, weil die Kreuze nicht in Quadrate passten, in manchen Bezirken wurden mehr Stimmen abgegeben, als es dort Einwohner gibt, manche Wahlkommission hatte das Wahllokal verwechselt und sich im falschen Lokal versammelt, der eine oder andere falsche Zettel war in der Wahlurne gelandet, das übliche Durcheinander. Die BerlinerInnen waren mit der Wahl nicht zufrieden, man hatte nicht das Gefühl, jemanden gewählt zu haben. Deswegen beschloss der Berliner Senat, die Wahl im Frühjahr noch einmal stattfinden zu lassen. Dahinter steckte die Sorge um die BürgerInnen, die es möglicherweise letztes Jahr verschlafen, verpasst oder nicht bemerkt hatten, das gewählt wurde. Vielleicht waren sie anderswo beschäftigt. Vielleicht hätten sie mehr Zeit gebraucht, um sich eine Meinung zum politischen Geschehen in der Stadt zu bilden. Diese Zeit wurde ihnen vom politischen Personal gegönnt.

Auch die Silvesternacht, so stand es in der Zeitung, sollte wiederholt werden, und zwar pünktlich zum 1. Mai. Sie verlief auch für viele nicht zufriedenstellend. Viele BerlinerInnen haben es gar nicht realisiert, dass ein Jahr zu Ende war und ein neues begonnen hat, das Jahr der Katze nach dem vietnamesischen Kalender, andere haben es nicht geschafft, in einer einzigen Nacht alle ihre Feuerwerkskörper zu zünden.

Dafür dürfen sie bereits zu Ostern damit beginnen, auf Osterhasen zu ballern.

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Wladimir Kaminer

Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste Zeit
unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.

Kürzlich erschien sein neues Buch
Mahlzeit!
Geschichten von Europas Tischen

im Goldmann Verlag.

www.wladimirkaminer.de

Profil Wladimir Kaminer