Kunst & Kultur Portrait

Die Berliner Singakademie wird 60

Berliner Singakademie

Das Publikum sieht ihn meist nur von hinten: Im Interview mit Sophie Bentzien plaudert Chordirektor Achim Zimmermann ein wenig aus dem Nähkästchen.

Das Publikum erlebt im Konzert nur das Ergebnis langer Arbeit. Dem geht aber einiges voraus. Worin besteht deine Aufgabe als Direktor der BSA?

Zuerst muss man das richtige Stück auswählen, das ist schon eine Schwierigkeit für sich: Reicht die Probenzeit, reicht das Budget, ist es einigermaßen wirkungsvoll für das Publikum? Ansonsten sehe ich meine Aufgabe u. a. darin, den Chor menschlich zu führen. Das bedeutet, dass man sich eben um jeden irgendwie kümmert. Jeder muss das Gefühl haben, der da vorne weiß, wer ich bin, der weiß, was ich mache, und der freut sich, wenn ich da bin. Du kannst nicht in die Probe kommen und ansagen: Takt 17. Und deswegen habe ich auch nach über 30 Jahren das Gefühl, dass wir eine relativ gute Gemeinschaft sind, und für die fühle ich mich verantwortlich.

Als Chorsänger und -sängerin hat man bei dir nie das Gefühl, nur Werkzeug zu sein.

Einer meiner Lehrer hat mal gesagt: Dirigieren ist nur ein bisschen Handwerk, das kann man lernen, aber an sich muss man mit den Augen führen. Mit dem Gesicht. Denn das ist, was lebendig ist. Ein anderer Lehrer gab mir den Tipp: Versuch nicht in den Proben und im Konzert alles, was dir wichtig ist, zu dirigieren. Beschränke dich auf das, was nötig ist. Alles im Kopf zu sammeln und dann irgendwie zu dirigieren, geht gar nicht: Erstens ist es rein technisch nicht möglich, zweitens verlierst du die große Linie aus dem Kopf und bist am Ende nur noch Verkehrspolizist.

Wie wichtig ist für dich das Publikum hinter dir? Lenken dich Hüsteln und Bonbonpapierknistern ab?

Ich versuche, im Konzert von vornherein eine gewisse Spannung für alle aufzubauen, für die Mitwirkenden, fürs Publikum – dass man eben nicht sofort anfängt, sondern einen Moment wartet, bis es ruhig ist. Pausen sind auch Musik. Und das ist auch eine Frage der Spannung. Mache ich eine Pause, in der man runterkommt, in der man etwas nachklingen lässt, wo die Spannung erstmal abfällt, oder mache ich eine Pause, die so ist, dass jeder merkt: Jetzt darfst du dich nicht rühren. Das kommt sicher auch immer aufs Stück an. Wenn man ein Requiem macht, ist automatisch die Spannung eine andere, als wenn man Komm holder Lenz aus den Jahreszeiten singt. Bei letzterem würde mich z. B. überhaupt nicht stören, wenn jemand hinter mir wackelt. Beim Agnus Dei einer Messe wäre das schon ärgerlich. Ich habe aber eigentlich immer das Gefühl, dass wir das Publikum erreichen.

Denkst du, dass Chormusik, wie wir sie machen, immer sein wird?

Das ist ziemlich vielschichtig. Generell glaub ich, dass man immer Schwankungen erlebt. Aber ich bin überzeugt, dass klassische Oratorienmusik niemals aussterben wird. Die Leute werden auch in zwanzig Jahren noch gern Beethoven hören, wenn es gut aufgeführt wird. Aber in Berlin ist das Angebot eben riesengroß. Sich da einigermaßen zu behaupten, ist schon schwer. Als ich meine erste Stelle in Suhl hatte, gab es einen einzigen Chor, da ist ganz Thüringen hingegangen. Und hier gibt’s unfassbar viele Chöre, da muss man sich wesentlich mehr kümmern.

War Dirigent für dich eigentlich die richtige Berufsentscheidung?

Ja. Als ich von der Armee kam, wollte ich Tanzmusik studieren. Aber ich bin durch die Prüfung geflogen, beim Improvisieren. Der Prüfungsvorsitzende an der Dresdner Hochschule hat gesagt: „Herr Zimmermann, war sehr schön, aber es klang alles wie Bachs Matthäuspassion. Das ist nicht Ihr Ding, lassen Sie’s mal lieber.“ Auf Umwegen kam ich zum Dirigieren. Meine Stärke war immer Blattspiel, Harmonie erfassen. Daher ist der Bereich Chorsinfonik genau das Richtige gewesen. Ich hätte ja nie gedacht, dass ich mal im Konzerthaus Berlin ein Konzert dirigiere!

Und Konzert-Pannen?

Ich bin sehr bedacht darauf, dass alles stimmt, bevor ich auf die Bühne gehe. Da habe ich auch meine Rituale. Zum Beispiel ziehe ich nie vor dreiviertel acht meine Jacke an. Oder die Hose niemals vor halb acht. (lacht) Mitten im Konzert ist mir mal die Fliege weggeflogen. Dann ist mir mal der Taktstock abgebrochen, damals noch in Suhl, bei der Walpurgisnacht (Mendelssohn). Da singt der Chor: „Kommt mit Zacken und mit Gabeln“, und da habe ich das Pult mit einem Schlag erwischt. Einen Teil des Stocks hatte ich in der Hand, der andere flog ins Publikum. Einmal bin ich vom Podest geflogen, aber nichts Nennenswertes. Man ist vor nichts gefeit. Als der, der da vorne steht, hast du so viel im Kopf, und wenn da mal was verloren geht, ist das so. Wenn es dann ausgerechnet der erste Einsatz ist, ist das schon ein bisschen tragisch, aber das ist mir noch nie passiert.

Was wünschst du dir für die nahe Zukunft?

Dass wir inneren und äußeren Frieden haben, dass wir alle gesund bleiben und weiterhin viel Freude am gemeinsamen Singen auf möglichst hohem Niveau haben.

Infobox

Achim Zimmermann
  • 1958 bei Dresden geboren, 1969–1977 Mitglied im Dresdner Kreuzchor
  • Studium an der Musikhochschule Franz Liszt
    in Weimar
  • 1984 Chordirektor der Suhler Philharmonie sowie Leiter der Singakademie Suhl
  • seit 1989 Direktor der Berliner Singakademie
  • 1991–2001 Professor an der HfM Hanns Eisler, Berlin
  • seit 2002 Leiter des Bach-Chors und des Bach-Collegiums an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
  • 2015 Bundesverdienstkreuz am Bande