Enno Kraus ist Chansonsänger, Nachtschattengewächs und Städter durch und durch. Zum Gespräch trifft er sich mit uns im Café Baier, das einen nostalgischen Wiener Kaffeehaus-Charme verströmt und gut zu der Figur passt, über die wir uns in den nächsten zwei Stunden unterhalten.
© Fotos: Pavol Putnoki
mein/4: Enno, du bist Ur-Berliner. Wo zieht es dich in der Stadt denn so hin?
Enno Kraus: Primär ist es das Gebiet, das ich fußläufig um mich herum habe, weil ich dann gerne durch die Nacht spaziere. Mein Radius geht immer so bis zur Museumsinsel und dann zurück zu meiner Wohnung. Ich finde, nachts sieht man irgendwie mehr als tagsüber. So eine Stadt, die fängt eigentlich erst nachts an zu sprechen. Tagsüber ist die Schminke drauf, und nachts zeigt sie sich, wie sie ist. Zum Beispiel an so einem Turm hochzugucken in der Nacht. Die Weite ist eine ganz andere, obwohl es dunkel ist. Ich weiß nicht, woran es liegt. Es ist, als ob so eine Stadt zu sich selbst kommt in der Nacht.
mein/4: Auch auf der Bühne bist du eine Nachtgestalt, ein Wanderer zwischen Welten, Zeiten und Geschlechtern. Wie kam diese Figur zu dir? Oder gehörte sie schon immer zu dir?
Enno Kraus: Oh, das ist eine gute Frage! Ich glaube, es hat sich fast zwangsläufig so ergeben. Nachtmensch war ich schon immer, seit ich denken kann, auch schon als Kind. Ich hatte nie Probleme, lange aufzubleiben. Ich hatte immer Probleme, früh aufzustehen. Das ist also eine Seite, die sowieso in mir vorhanden ist. Und zwischen den Welten bewege ich mich auch schon seit eh und je. Als Kind fand ich zum Beispiel nie aktuelle Musik gut, ich bin total auf Mozart abgefahren und weiß gar nicht, woher das kommt. Meine Eltern sind 68er, die waren musikalisch eher auf die Beatles und die Stones abonniert. Meine Mutter hat sich, als ich ein Kind war, gewünscht, dass ich Rockstar werde.
mein/4: Und wie kamst du dann zur Klassik?
Enno Kraus: Wir hatten bei uns zu Hause diese Schallplatten mit den beiden letzten Mozart-Symphonien. Die habe ich rauf und runter gehört. Und ich habe mich auch verkleidet als Mozart. Kennst du noch diese Notizzettel in Quadratform, die man von so einer Spirale abreißt? Da musste meine Mutter dann immer Locken rausdrehen, und aus diesen großen Wattebahnen habe ich mir eine Perücke gebastelt.
Dieses Verkleidende ist ja auch ein Wandern zwischen den Zeiten, würde ich sagen. Die Kinder machen es sowieso, man trainiert es sich nur leider als Erwachsener ab. Dabei ist eine Verkleidung doch letztendlich ein Enthüllen dessen, was in einem liegt.
Ich wollte als Kind auch immer nach Wien ziehen. Ich dachte, ich wandle auf den Spuren der großen Klassik und werde Komponist. Ich wollte Mozart werden.
Mit elf oder zwölf bin ich dann tatsächlich mit meiner Klavierlehrerin nach Wien gereist, und da habe ich diese Nähe zu den Komponisten total gespürt. So intensiv wie als Kind oder Jugendlicher spürt man das als Erwachsener nur noch selten, da saugt man das ja auf wie ein Schwamm. Später ging mir das mit Paris nochmal so, da hatte ich auch das Gefühl, dass jeder Stein mit mir spricht. In Paris habe ich dann auch angefangen, mich mehr mit dem Chanson zu beschäftigen.
mein/4: Was hat dich dazu bewogen, von der Klassik zum Chanson zu wechseln?
Enno Kraus: Ich habe zunächst Klavier und Musiktheorie studiert und hätte zu dieser Zeit nie gedacht, dass ich Chansonsänger werde. Aber dann habe ich in Paris eine befreundete Kommilitonin besucht, die da Erasmus gemacht und im Rahmen ihres Studiums einen Chanson-Kurs belegt hat. Sie wohnte in einem Schwesternheim und hatte ein Klavier in ihrem Zimmer stehen, worauf sie sich selbst begleitet hat, während sie ihre Chansons geübt hat. Da habe ich erstmals so richtig Juliette Gréco wahrgenommen, weil sie mir Sous le ciel de Paris vorgesungen hat. Das war so ein poetischer Moment, das hat etwas mit mir gemacht.
Und dann gab Juliette Gréco 2015 ihr letztes Konzert hier in Berlin. Dadurch, dass ich in Paris dieses Lied von ihr kennengelernt habe, hatte ich einen persönlichen Bezug und bin natürlich hin. Juliette war schon Ende achtzig und musste auf die Bühne geleitet werden, aber kaum stand sie da, bewegte sie sich anmutig wie eh und je. Und sie ist ja wirklich eine der ganz großen Meisterinnen. Ich finde es faszinierend, was sie darstellerisch drauf hat mit wenigen Mitteln.
mein/4: Hast du dir davon auch ein bisschen was abgeguckt?
Enno Kraus: Das war auf jeden Fall meine Lehrmeisterin. Und dann habe ich irgendwann gesehen, dass Georgette Dee diesen Sommerkurs an der UDK gibt. Ich dachte immer, wenn ich jetzt Chanson mache, wird mein Markenzeichen sein, dass ich nichts dazwischenrede, ich werde nur die Lieder singen.
Aber dann fing der Kurs an, und Georgette meinte, als sie reinkam: „So, dann singen Sie doch erstmal alle Ihre Lieder vor und erzählen Sie mal die Geschichten, die Sie sich ausgedacht haben!“ Keiner hatte natürlich eine Geschichte. Der Kurs hat nur acht Tage gedauert, aber ich fand ihn toll, weil Georgette die Gabe hat, in den Leuten etwas freizulegen. Bei mir hat sie das freigelegt mit dem Quatschen dazwischen, das war gar nicht mehr anders denkbar danach. Da war ich aber noch nicht die Figur, die ich jetzt bin. Erst habe ich mir noch überlegt, ob ich mir jetzt einen Künstlernamen geben muss, aber alles, was mir einfiel, war so gespreizt, und ich beschloss: Ich bleibe einfach Enno Kraus, der Name hat eine gute Melodie. Dann habe ich gemeinsam mit dem wunderbaren Kostümbildner Sascha Thomsen eine Vision entwickelt, wie die Figur aussehen könnte. Mir war wichtig, dass es kein alltägliches Make-up und kein alltägliches Kostüm wird, es sollen Elemente sein, die einen aus dem Alltäglichen herausheben. Gleichzeitig soll es wandelbar sein, angedeutet, unfertig. Eigentlich ist diese Figur wie so eine Art Anziehpuppe. Gewisse Elemente stehen fest, und da kann das Publikum dann noch seine eigenen Fantasien dranpappen. Man muss sich als Zuschauer*in auch immer noch selbst lesen können in der Figur. Wie in einem Buch, in dem man sich ja auch selbst liest. Und so muss eine Figur letztendlich auch sein.
mein/4: Wenn du dich umziehst und zu deiner Bühnenfigur wirst, fühlt sich das für dich dann an wie eine Verwandlung?
Enno Kraus: Nein, eigentlich ist das eher vergleichbar mit einem Brand, mit einem Destillat. Wie bei einem Himbeergeist. Der Himbeergeist schmeckt doch viel doller nach Himbeere als die Himbeere! Das ist die Essenz der Himbeere. Das finde ich auch das Tolle an guten Cocktails, die man leider selten kriegt. Das hat fast etwas von Alchemie. Eigentlich werde ich auf der Bühne zu meinem eigenen Konzentrat, zur Essenz der Sache an sich.
mein/4: Wie würdest du dein Repertoire umschreiben?
Enno Kraus: Was ich jetzt bin, das kann alles machen. Das kann sich auch alles nehmen. Ich benutze das alles eher wie so einen Steinbruch, wo ich rausmeißeln kann, was ich daraus mache. Ich kann Brahms singen, aber ich kann auch einen Rap machen. Deshalb ist ja auch Chanson diese Kunst, die einem, finde ich, am meisten ermöglicht, diese ganz unterschiedlichen Stilrichtungen zu bündeln, ohne dass man irgendwelche Konventionen beachten muss.
mein/4: Aktuell entwickelst du ein neues Programm Es ist alles nicht so einfach, das du im Oktober in der Berliner WABE uraufführst. Wie kommst du auf diesen Titel? Was erwartet uns?
Enno Kraus: Tja, wenn ich das wüsste! In erster Linie ist dieser Titel eine Projektionsfläche. Er kann eine Bestandsaufnahme sein, er kann ironisch sein, er kann sogar etwas Tröstliches haben. Wir müssen ja alle damit umgehen, dass es nicht so einfach ist. Man hat auf vieles keine Antwort. Ich würde sagen, dieser Titel präsentiert ein Kaleidoskop von Nichteinfachheiten, vom banalen Kleinen bis zum Großen, wenn es gelingt. Ich hoffe, dass es gelingt!
Infobox
Enno Kraus
ES IST ALLES NICHT
SO EINFACH (Premiere)
mit René Pöhler am Klavier
04.10.2024, 20 Uhr
WABE Berlin
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