„Kurz und knapp“ ist eine Interviewserie des Berliner Fotografen Jens Wazel, basierend auf seinen Videoporträts auf www.jenswazelphotography.com

Kurz und knapp … wer bist du?

Ich bin ein Berliner Unternehmer und Experte für New Work, also neues Arbeiten, und ich habe Projekte, in denen ich Ideen verwirkliche und die Zukunft mitgestalte. Ein Projekt bringt zum Beispiel einen Konferenzraum an Orte, wo man normalerweise seine Freizeit verbringt. Also in den Wald, an einen Strand, auf eine Wiese. Wir sorgen so dafür, dass Teams oder Firmen in einer kreativen Umgebung Workshops abhalten können.

Du bist auch Mitinitiator von helfen.berlin.

Ja, helfen.berlin ist eine Non-Profit-Initiative, die wir ins Leben gerufen haben, um unsere Lieblingsorte zu retten, damit die nicht in die Insolvenz gehen jetzt in dieser Corona-Zeit. Mit Lieblingsorte meinen wir Lieblingsrestaurants, Cafés, Bars, Klubs, aber auch Lieblingsläden. Eben diese Orte, in denen wir sonst sehr viel Zeit verbringen und die uns ans Herz gewachsen sind.

Die Idee ist eine Gutscheinplattform, bei der Stammgäste jetzt Gutscheine für ihre Lieblingsorte kaufen können, die sie nach der Krise einlösen.

Sind das eher kleinere Läden?

Der Fokus liegt tatsächlich auf diesen kleinen Herzblutorten, an unabhängigen Cafés, aber natürlich gibt es auch größere Theater bei uns auf der Seite. Wichtig ist einfach, dass es den Kiez-Mix widerspiegelt, und dass man digital durch seinen Kiez wandern und sagen kann: „Mensch, ich lebe in einer wirklich außergewöhnlichen Stadt, in einem außergewöhnlichen Viertel, und ich finde hier alles wieder, was sonst so zu meinem Leben gehört.“

Ist das auch längerfristig eine Chance?

Auf jeden Fall. Ich glaube, die gegenwärtige Krise war ein Impuls dafür, so etwas ins Leben zu rufen, aber ich glaube auch, dass unsere Mission, nämlich die Lieblingsorte zu retten, weiterhin bestehen bleiben wird – auch weit über die Krise hinaus. Ich glaube, dass da eine ganz tolle Plattform entstanden ist, auf der wir alle Lieblingsorte zusammenbringen. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir helfen.berlin zu einem Projekt entwickeln, das langfristig die Lieblingsorte unterstützt.

Wie kommt ein Lieblingsort auf die Plattform?

Das geht ganz einfach: Der Lieblingsort registriert sich auf www.helfen.berlin, gibt dort an: „Ja, ich bin betroffen.“ Das geht super einfach. In fünf Minuten ist man registriert, dann schickt uns der Lieblingsort noch ein Foto zu und ist dann in der Regel 24 innerhalb von Stunden online.

Und wie finden die Kunden ihren Lieblingsort?

Die gehen auch auf helfen.berlin, in den Shopbereich. Das ist aufgebaut wie ein ganz normaler Onlineshop: Da kann man seinen Kiez angeben, hat dann die Auswahl aller Lieblingsorte, die sich registriert haben, und kann die durchgehen, anklicken und zu den Gutscheinen klicken und dann Gutscheine kaufen. Gutscheine gibt es im Wert von 10, 25, 50 und 100 Euro.

Wie macht ihr das publik?

Wir sind sehr dankbar, wie viele Leute dabei mitgeholfen haben, unsere Plattform bekannt zu machen. Wir  hatten gleich von Anfang an einige Stadtnetzwerke mit im Boot, und wir hatten ganz viel Presse, die über uns berichtet hat. Wir haben großartige Werbepartner, zum Beispiel Radio Paradiso, WALL und ILG-Außenwerbung mit den Litfaßsäulen. Und wir haben auch eine Content-Kooperation mit dem Rundfunk Berlin Brandenburg 88.8. Wir sind sehr dankbar, wie viele Leute die Initiative ergreifen und mitmachen.

Irgendjemand ist hier ein guter Netzwerker …

Natürlich braucht es Leute, bei denen die Fäden zusammenlaufen. Und diese Kommandozentrale, wenn man es so nennen will, ist natürlich hier bei mir. Aber man muss auch wirklich sagen, dass wir ein ganz tolles Team sind aus 30 Personen inzwischen, von denen jeder und jede rein gibt, was er oder sie am besten kann, und überhaupt dafür sorgt, dass so eine Plattform in dieser Größe und in diesem Umfang überhaupt bestehen kann.

Wie kamen diese Leute zusammen?

Initial war, dass eine Gruppe von Freunden um mich herum gesagt hat: „Hey, wir wollen ehrenamtlich unsere Lieblingsorte unterstützen jetzt in dieser Krise.“ Und dann ist diese Gruppe gewachsen, dann sind Leute, die wir zum Teil noch gar nicht kannten, auf uns zugekommen und haben gesagt „Wir wollen auch mitmachen“, und so ist diese Gruppe angewachsen. Da sind Leute dabei, die sich um den Kundenkontakt oder um den Lieblingsort kümmern. Wir haben ein großes Social-Media-Team. Dann haben wir natürlich das Website-Team, Programmierer, wir haben eine Gestalterin mit an Bord. Wir haben auch Leute, die die Lieblingsorte fotografieren. Wir haben ganz viele Leute, die ihre Netzwerke mit einbringen und uns publik machen. Es gibt ganz viele unterschiedliche Aufgaben in diesem ehrenamtlichen Team von 30 Köpfen.

Ehrenamtlich?

Keiner, der an diesem Projekt arbeitet, verdient auch nur einen Cent daran, und das wird hoffentlich auch so bleiben. Unser Gutscheinpartner Atento hat die ersten Monate auch pro bono gearbeitet.

Seit wann gibt es die Plattform?

Wir haben die Plattform Mitte März innerhalb von einer Woche aufgebaut. Bis Ende April wurden bereits Gutscheine im Wert von mehr als 1,4 Millionen Euro verkauft, was wir nie im Leben gedacht hätten. Und es haben sich bereits mehr als 2.600 Lieblingsorte auf der Plattform registriert, auch viel mehr als wir am Anfang vermutet hätten.

Wie hilft das konkret?

Viele Lieblingsorte sind wahnsinnig dankbar und signalisieren uns das, indem sie uns schreiben oder anrufen und uns sagen, wie sehr es ihnen hilft in dieser Zeit. Die eine Komponente ist natürlich die finanzielle, das heißt viele von diesen Lieblingsorten haben inzwischen über unsere Plattform so viel Geld eingenommen, dass sie davon zwei bis drei Gehälter oder eine Monatsmiete bezahlen können.

Ganz wichtig ist aber auch die psychologische Komponente. Wir als Stammgäste oder Stammkunden signalisieren unseren Lieblingsorten ja mit unserem Gutscheinkauf: „Wir wollen, dass ihr weitermacht, wir wollen, dass ihr nicht aufgebt“, und das ist extrem wichtig in dieser Zeit, wo man kein Feedback bekommt, und natürlich auch Existenzängste hat.

Es gibt mittlerweile in Berlin auch andere Plattformen, die Gutscheine anbieten.

Wir haben natürlich dadurch, dass wir deutschlandweit die erfolgreichste Gutscheinplattform sind, eine gewisse Vorbildfunktion für andere Initiativen. Das macht uns schon sehr stolz, da den Grundstein gelegt zu haben und vorzumachen, wie man mit einem engagierten ehrenamtlichen Team so viel erreichen kann.

Was ist deine persönliche Motivation?

Die ersten zwei Monate habe ich mit Sicherheit 40 bis 60 Stunden pro Woche an helfen.berlin gearbeitet. Meine anderen Projekte mussten dann quasi in der restlichen Zeit vom Tag stattfinden. Und das ist auch in Ordnung, weil dieses Projekt mir ganz viel gibt. Zum einen ist es das Wissen darum, dass man etwas gemacht hat, dass man seine Lieblingsorte unterstützt und eben nicht tatenlos zugesehen hat, wie sie gerade in Existenznot geraten.

Dann ist da auch die Dankbarkeit, die mir zurückgegeben wird. Und es ist schön zu sehen, wie viele Leute solidarisch zusammenarbeiten und ihre Lieblingsorte unterstützen. Wir reden über mehr als 40.000 Gutscheinkäuferinnen und -käufer, das sind richtig viele engagierte Leute in unserer Stadt, denen eben ihr Umfeld nicht egal ist. Das stimmt mich sehr positiv für die Zukunft. Grundsätzlich ist es für mich persönlich aber auch einfach wichtig zu wissen, dass meine Lieblingsorte auch nach der Krise noch existieren.

Was vermisst du in dieser Zeit?

Ich vermisse wahnsinnig, dass man sich einfach treffen kann, auf einen Kaffee im Lieblingscafé oder abends im Lieblingsrestaurant. Ich vermisse das Tanzen gehen am Wochenende. Ich vermisse das echte Leben, wo man sich live sieht, nicht über einen Bildschirm und nicht über einen Telefonhörer, sich umarmt und gemeinsam Dinge tut. Das vermisse ich sehr und ich freue mich darauf, das bald wieder tun zu können.

Vielen Dank!

Karsten Kossatz (28) ist ein Berliner Unternehmer. Er ist Mitinitiator der Gutscheinplattform helfen.berlin, die seit Mitte März ehrenamtlich Lieblingsorte während der Corona-Krise unterstützt. www.helfen.berlin

 

Jens Wazel ist Fotograf und Tanzlehrer. Im Osten aufgewachsen, wohnt er nun – nach 25 Jahren in den USA – wieder in Prenzlauer Berg. Er hat eine Serie mit Fotos von Lieblingsorten in seinem Kiez erstellt. www.jenswazelphotography.com

 

Artikel veröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020