„Kurz und knapp“ ist eine Interview-Serie des Berliner Fotografen Jens Wazel.
Documentary: www.jenswazelphotography.com/Documentary/Arts
Kurz und knapp … wer bist du?
Ich bin Musiker.
Was heißt das?
Ich spiele Gitarre und singe, schreibe Songs und komponiere Filmmusik. Manchmal produziere ich andere Musiker oder gebe Bücher heraus, die sich mit Musik beschäftigen. Eine Zeitlang habe ich das Rio Reiser Archiv aufgebaut – auch dabei stand die Musik im Mittelpunkt.
Wie hat das mit der Musik angefangen?
Ich bin mit meinen drei Geschwistern in einer Zweiraumwohnung in der Nähe vom S-Bahnhof Pankow aufgewachsen. Als ich zwölf war, zog unsere Familie an den Stadtrand, nach Blankenfelde. Dort begann meine zweite Kindheit im Stil von Huckleberry Finn. Im Sommer lagen wir am See und haben am Lagerfeuer Schlager der Woche gehört. Die klassischen Oldies der 60er-Jahre kamen live aus dem Kofferradio und haben mich infiziert.
Mit 17 lieh mir meine Freundin ihre Gitarre, und an einem Sonntagmorgen fing ich an, mich damit zu beschäftigen. Abends hatte ich blutige Finger von den Stahlsaiten, aber ich konnte viele meiner Lieblingssongs von den Beatles, Stones und Kinks spielen. Ich hatte mir das Gitarrespielen an nur einem Tag selbst beigebracht, das war mysteriös und magisch.
Und dann?
Mitte der 1970er bin ich auf die legendäre Musikschule Friedrichshain gegangen, aber nach einem Jahr wieder ausgestiegen. Das war nicht mein Ding. Ich bin mit einem Schulfreund an die Ostsee getrampt. Wir haben auf der Straße gespielt, am Strand und in Kneipen. Über ihn kam ich dann auch in meine erste Band.
Wir haben uns eine Art Rockoper ausgedacht – so nannte man das damals, wenn man nicht nur einen Song nach dem anderen spielen, sondern eine durchgehende Geschichte erzählen wollte. Die Texte dafür hat uns Gerhard Gundermann geschrieben, das Stück hieß Casino und die Band nannten wir Regenmacher.
Ich habe Bass und Gitarre gespielt und nach und nach auch selbst Texte und Songs geschrieben. Das war Anfang der 80er. Ich habe nebenher noch gejobbt und meine erste Wohnung besetzt.
Wie ging es weiter?
Irgendwann wurde unserem Sänger das Musikerleben zu chaotisch und er stieg aus. Das war hart, aber ich hatte inzwischen genug eigene Songs geschrieben und habe dann seinen Part übernommen. Mit neuen Musikern nannten wir uns Kerschowski.
Schon nach ein paar Konzerten kam völlig überraschend das Angebot von AMIGA, ein Album aufzunehmen. Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet. Aber offenbar passten wir gut in diese unzufriedene Zeit Mitte der 80er. Wahrscheinlich auch, weil ich die Songs komplett selbst schrieb, vor allem die Texte. Das war bei etablierten Bands damals eher unüblich. Ich wollte mein Lebensgefühl ganz direkt ausdrücken und nicht zwischen den Zeilen verstecken.
Wir waren eine starke Liveband und auf unseren Konzerten war unglaublich viel Energie. Diese Energie auf eine Platte zu bringen, war eine Herausforderung. Unsere LP Weitergehn erschien 1986.
Ihr habt damals auch Coverversionen gespielt?
Ich habe schon immer englische Songtexte ins Deutsche übertragen, wenn mir ein Song gefallen hat. Dabei versuche ich, nicht nur den Inhalt nah am Original zu halten, sondern auch Reime, Rhythmus und Phrasierung so umzusetzen, dass der Text gut singbar ist. Das ist gar nicht so einfach, weil man im Deutschen oft ein Drittel mehr Worte braucht.


Historische Fotos: 1982 & 1986 Ulrich Burchert, 1996 Ralf Henningsen
AMIGA hatte dann die Idee, eine große Rock’n’Roll-Band im Stil der Amiga Blues Band oder der Gitarreros zu produzieren. Daraus entstand unser zweites Album: die Blankenfelder Boogie Band. Wir waren zwölf Musiker: meine Band, fünf Bläser, Bodi von Engerling und Ehle von Pankow. Bei der Tour und auf der LP war auch Cäsar von Renft dabei – einer meiner Heroes.
Die Songs habe ich Anfang 1989 zusammen mit Rio Reiser im Studio von Ton Steine Scherben in Nordfriesland abgemischt.
Wie hast du Rio kennengelernt?
Wir waren ein Jahr vor der Wende bei ein paar Konzerten seine Vorband. Ende 1990 war Rio dann in Berlin und hat ein Album aufgenommen. Erst hat er mich ins Studio eingeladen und später dann auch in seine Tourband geholt. Wir haben aber nicht nur zusammengearbeitet, wir waren auch oft gemeinsam im Urlaub, und er hat eine Zeit lang bei mir im Haus in Pankow gewohnt.
Als sich Rio eine Weile vom Livespielen zurückzog, hatte ich wieder Zeit für ein eigenes Album. Vorbei ist vorbei erschien 1994, und ich war damit auch live unterwegs. Meine Band hat Rio später auch auf seiner letzten Tour begleitet. Es gab noch weitergehende Pläne, aber 1996 ist er unerwartet gestorben.
Du hast dich dann um Rios Nachlass gekümmert?
Auf Wunsch seiner Familie, ja. Sie wussten, wie eng wir befreundet waren – und dass ich mich mit seiner Musik gut auskannte, auch mit dem großen, bislang unveröffentlichten Teil. Anfangs ging es nur um die Musik, aber nach und nach kam vieles andere dazu: Texte, Videos und Fotos. Daraus wurde eine komplexe Archivarbeit, und wir haben eine große Datenbank aufgebaut.
Mir ging es dabei immer vor allem um die Songs. Im Laufe der Zeit haben wir rund tausend Audiobänder digitalisiert. Aus diesem Fundus habe ich dann für das Label, das Rios Bruder gegründet hatte, zahlreiche Produktionen gemacht: von Rio am Piano bis zur 16-CD-Box Blackbox Rio Reiser. Dazu kam die 13-CD-Box Ton Steine Scherben – Gesamtwerk.
Insgesamt waren es etwa vierzig CDs, die ich in zwanzig Jahren produziert habe. Das Ganze hat dann doch deutlich länger gedauert als am Anfang gedacht.
Parallel dazu hast du auch Filmmusik gemacht?
Ja, ich hatte neben dem Songschreiben schon immer Instrumentalmusik aufgenommen. Ende der 90er fragte mich der Regisseur Manfred Stelzer, ob ich Musik für einen seiner Filme machen könnte. Daraus entwickelte sich eine langjährige Zusammenarbeit. Bis zu seinem Tod im Jahr 2020 habe ich rund vierzig Filmmusiken aufgenommen – auch für andere Regisseure, aber vor allem für ihn.

Dann kam „Östlich der Elbe“…
Ein Zufallsprojekt, das meinen Weg gekreuzt hat, und das mir sehr am Herzen lag. Im Grunde war es auch eine Art Archivarbeit, aber diesmal mit dem Fokus auf die DDR: ein Buch mit Fotos von Ulrich Burchert und Songtexten ostdeutscher Bands und Liedermacher. Ich habe rund drei Jahre daran gearbeitet, und durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema ist mir einiges klarer geworden.
Die Musikszene der DDR lässt sich grob in vier Phasen einteilen: Von 1970 bis 1975 war learning by doing angesagt – es wurde viel experimentiert und vieles war herrlich rau. Nach dem Verbot von Renft entstanden zwischen 1975 und 1980 viele wunderschöne Balladen – eher unpolitisch, teilweise sogar schlagerhaft. Ab 1980 wurde es dann wieder direkter, härter, mit mehr Realität in den Texten, vor allem durch Bands wie Pankow und deren Projekt Paule Panke. Ab Mitte der 80er-Jahre begann mit den sogenannten anderen Bands die Antistimmung und der Abgesang.
Für mich war bei der Arbeit am Buch auch spannend zu erkennen, warum meine eigene Band damals in keine dieser Schubladen passte.
Jetzt wohnst du wieder am Stadtrand?
Ich bin in Pankow geboren – und eigentlich immer hiergeblieben. Dreißig Jahre lang haben wir ziemlich zentral gewohnt, in einem besetzten Hinterhaus, zusammen mit vielen Freunden. Vor ein paar Jahren sind wir dann nach Buch gezogen, um unsere Mütter zu pflegen.
Pankow hat sich seither stark verändert. Heute genieße ich es, mit der S-Bahn an den Stadtrand zu fahren, zwanzig Minuten zu laufen, und dann bin ich im Garten – dahinter nur noch Wiesen und Wald.
Und die Welt kommt zu dir?
Ja, es kommt oft Besuch. Ich habe ein kleines Studio, und einmal in der Woche machen wir Hausmusik. Ich habe hier alles, was ich brauche. Wenn ich gerade nicht an Musikprojekten arbeite, lese ich viel.
Was hat dich geprägt?
Ich komme wie gesagt aus einfachen Verhältnissen, und meine Eltern haben nie etwas Bestimmtes von mir erwartet. Das hat mir die Freiheit gegeben, meinen eigenen Weg zu suchen. Ich musste nie anderen nach dem Mund reden.
Man merkt oft erst im Rückblick, welche Entscheidungen wirklich wichtig waren und unserem Leben eine neue Richtung gegeben haben. Ich war schon immer sehr neugierig, und wenn mich ein Thema interessiert, dann bleibe ich dran.
Hast du Zukunftspläne?
Ich rede ungern über Projekte, bevor sie fertig sind. Van Morrison wurde mal in einem Interview gefragt, ob er „irgendeine Vision“ hat. Seine Antwort war: „Ja, irgendeine Vision.“ Gute Antwort, oder?
Vielen Dank!
Lutz Kerschowski

ist Musiker. Neben seinen eigenen Projekten ist er auch für seine Zusammenarbeit mit Rio Reiser bekannt.
Er lebt mit seiner Partnerin in Buch.
Jens Wazel

ist Fotograf und Videofilmer. Im Osten aufgewachsen, wohnt er nach 25 Jahren in den USA wieder in Berlin.
