In diesem Jahr begeht der Mühlenkiez, der zwischen der Greifswalder Straße, Michelangelostraße, Kniprodestraße und der Storkower Straße liegt, seinen 40. Jahrestag. Im Jahr 1977 wurden viele der WBS 70-Plattenbauten bezugsfertig, noch heute leben viele Menschen aus dem „Erstbezug“ in den markanten Hochhäusern des Mühlenkiezes. Nun steht der Kiez vor großen Herausforderungen, die Veränderungen mit sich bringen: Es soll Zuwachs geben – mehr Wohneinheiten, mehr Bewohner. Über das „Wie“ wird seit mehr als zwei Jahren diskutiert.
Die Platte Prenzlberg
Im Nordosten des Prenzlauer Bergs liegt der Mühlenkiez, der mit seinen Hochhäusern so ganz anders als der Kollwitz-Kiez oder das Winsviertel ist. Was nun „typisch Prenzlberg“ ist, das hängt von der Perspektive ab. Auf der östlichen Seite der Greifswalder Straße leben etwa 10.000 Einwohner in einem Kiez , der für sich ein eigenes Universum bildet. An der Greifswalder Straße entlang, zwischen Michelangelostraße und Hanns-Eisler-Straße sind die Mehrfamilienhäuser durch breite Grünstreifen und Parkplätze von der Straße abgeschirmt. In den Innenhöfen finden sich Kindergärten, Schulen und Spielplätze. Die lockere Bebauung sollte den Bewohnern das Durchatmen ermöglichen – im doppelten Sinne. Genügend Raum für die Luftzirkulation ist der Lebensqualität zuträglich und tut dem Auge gut. Bei der Planung der Bauten 1970/1971 als neues Wohngebiet im Rahmen des Wohnungsbauprogramms der DDR wurden Reserveflächen für eine große Straße oder Stadtautobahn freigehalten. Insbesondere die Michelangelostraße blieb bis vor wenigen Jahren als mögliche Trasse für eine Schließung des Berliner Stadtrings im Gespräch.
Dieses Vorhaben steht momentan nicht mehr zur Debatte, vielmehr gibt es einen sich zunehmend verschärfenden Wohnungsmarkt, der die „Großwohnsiedlung Greifswalder Straße“ in den Fokus des Senats und des Stadtbezirks rücken lässt. Die freien Flächen sollen nun für Wohnungen durch “behutsame Nachverdichtung” gemäß eines Beschlusses der Bezirksverordnetenversammlung Pankow genutzt werden. Dafür wurde das städtebauliche Planungsprojekt „Wohnen an der Michelangelostraße“ ins Leben gerufen.
Was ist machbar?
Um herauszufinden, wieviel Potenzial in der zunächst insgesamt 30 Hektar großen Fläche steckt, führte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt im Jahr 2014 einen städtebaulichen Ideenwettbewerb „Wohnen an der Michelangelostraße“ durch. Die Grundidee des städtebaulichen Entwurfs ist das Schaffen von Wohnanlagen für etwa 1500 Wohneinheiten, die sich in die bestehende Bebauung einfügen sollen. Dafür wird nunmehr auch die Straßenführung in der Michelangelostraße und der Hanns-Eisler-Straße überarbeitet, denn Teil des Planes ist die Integration einer Straßenbahntrasse durch die Michelangelostraße, die zukünftig den Wedding mit Marzahn verbinden soll, Baubeginn 2030. Ein vielschichtiges Bauvorhaben, das den Kiez nachhaltig verändert. Die Bewohner des Kiezes erfahren zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Ausschreibung. Erst im Februar 2015 werden der Öffentlichkeit verschiedene Modelle, darunter auch das Gewinnermodell des Wettbewerbssiegers, das Architekturbüro Görge aus Hamburg, in der ehemaligen Sparkasse an der Greifswalder Straße, vorgestellt – für viele Bewohner ist die geplante Bebauung eine völlig neue und sie überraschende Information.
„Das war vom Land Berlin wahrscheinlich nicht sehr geschickt kommuniziert“, gibt Matthias Rogge zu. Er hat im Pankower Stadtentwicklungsamt die vorbereitende Bauleitplanung inne. Zu diesem Zeitpunkt formiert sich massiver Widerstand gegen das Bauprojekt. Man möchte mehr Informationen und Mitspracherecht. Dass daran von der Senatsverwaltung und dem Bezirksamt Pankow nicht gedacht wurde, bemerken alle Seiten bei der öffentlichen Sitzung des BVV-Ausschusses für Stadtentwicklung und Grünanlagen im März 2015 und auch bei der ersten Informationsveranstaltung des Stadtentwicklungsamtes im April 2015, in deren Rahmen in der Gethsemanekirche das weitere Vorgehen und der Zweck einer Machbarkeitsstudie erläutert und diskutiert wird. Außerdem sei der Bezirk mit Schreiben bombardiert worden, so Rogge. Die Planung des Projektes ist zu diesem Zeitpunkt noch in einer Anfangsphase, viele Sachverhalte sind ungeklärt und die meisten Bewohner haben nach der Veranstaltung mehr Fragezeichen im Kopf als Antworten. Eine unbefriedigende Situation. Es entsteht die „Bürgerinitiative Leben! an der Michelangelostraße“, die aus Bewohnern besteht, die die Lebensqualität in ihrem Kiez beibehalten – und im besten Falle verbessern möchten.
Wie funktioniert Teilhabe?
Zu den engagierten Mitbürgern gehört Horst Krüger, der Vorsitzende des Vereins für Lebensqualität an der Michelangelostraße e.V. Der pensionierte Diplomingenieur lebt seit 1982 im Mühlenkiez. „Also kein Erstbezug“, lacht Dr. Gabriele Ahnis, seine Stellvertreterin, die selbst seit 1977, dem Gründungsjahr der Siedlung, hier lebt. Krüger war auch Gründungsmitglied der Bürgerinitiative gewesen. Doch schon bald kristallisierte sich heraus, dass er und weitere Mitglieder das geplante Bauprojekt nicht prinzipiell ablehnen, sondern hinterfragen wollen, indem sie für eine maßvolle Bebauung konkrete Fakten und Sachverhalte ermitteln, alternative Vorschläge entwickeln und vor allem die aktive Bürgerbeteiligung fordern. Sie wollen dabei auf eine organisierte Vereinsstruktur setzen. „Ein Verein hat einfach eine andere Grundlage und einen anderen Status bei Verhandlungen als eine Initiative“, so Krüger. So gehen die Bürgerinitiative und der 2015 gegründete Verein getrennte Wege, wobei sie mittlerweile dasselbe Ziel verfolgen: Eine gut geplante und fundierte Projektstruktur für eine maßvolle Verdichtung und die Teilhabe der Bewohnerschaft. 42 Mitglieder zählt der Verein momentan. Es gebe viele ältere Menschen im Kiez, die sich nicht aktiv einbringen können, so Krüger, die jungen Menschen mit Familie hätten hingegen wenig Zeit. „Wir erhalten von den älteren Menschen aber Schreiben, in denen sie uns Mut machen und stärken und uns auch materiell unterstützen“, so der Vorsitzende.
Wie wachsen wir gesund?
„Wir begrüßen eine Aufwertung der Lebensqualität im Mühlenkiez“, so Gabriele Ahnis. Ein Leerstand der Gewerbeeinheiten an der Greifswalder Straße, marode Schulgebäude und die eine oder andere Ecke, die einer Schönheitsreparatur bedarf – dem muss entgegengewirkt werden, endlich, denn in den vergangenen Jahren wurde hier nicht viel investiert. Ahnis erinnert sich an frühere Subbotniks, freiwillige Arbeitseinsätze, zu denen die Bewohner ihr Wohnviertel ordentlich hielten und durch eine attraktive Bepflanzung lebenswerter machten – dieses freiwillige Engagement ist lange Geschichte, „und heute auch nicht mehr so gewollt“, so Ahnis. Neben dem Plan „Wohnen an der Michelangelostraße“ gibt es für die Großwohnsiedlung „Greifswalder Straße“
das integrierte städtebauliche Entwicklungskonzept (ISEK). Im Rahmen dieses Projektes werden Fördermittel im Kiez eingesetzt, z.B. für eine neue Schule samt Sporthalle. Sanierungen und weitere Aufwertungen des Bestands sind in Planung. Solche Maßnahmen begrüßt der Verein – und auch die Bebauung ist kein rotes Tuch. „Berlin braucht Wohnungen und es gibt freie Flächen dafür“, so Ahnis. Der kritische Punkt ist vor allem die Anzahl der Wohnungen, die mit dem sozial-ökologischen Modellvorhaben Michelangelostraße entstehen sollen. „Unser Ziel ist der Neubau von etwa 500 bis 700 Wohneinheiten“, so Krüger. Diese Forderung beruht auf vielen eigenen Nachforschungen und dem Zusammentragen von Daten zu der Machbarkeit einer Nachverdichtung unter Berücksichtigung von Aspekten aus Umwelt, Verkehr und Baurecht und dem Erhalt gegenwärtiger Lebensqualität. „Das ist eine Vollzeitarbeit“, erklärt Ahnis. Sie und der Vorsitzende Krüger bemängeln die Vorarbeit der beteiligten Planer, also des Architekturbüros Görge, des Verkehrsbüros „LK Argus“ und des Büros für Landschaft und Umwelt „gruppe F“.
Mit seinen eigenen Analysen möchte der Verein deshalb Schwachstellen, Mängel in der Planung und schlicht Ungereimtheiten aufzeigen und zur Diskussion bringen. So fürchtet der Verein, dass durch den Bau der aktuell geplanten 6-Geschosser in der Hanns-Eisler-Straße die künftigen Bewohner in den dahinter befindlichen Häusern wortwörtlich auf der Schattenseite des Kiezes leben. Zudem warnen sie, dass durch das Ein – und Ausparken in den Parknischen, die sich zwischen den aktuellen 11-Geschossern und den geplanten 6-Geschossern befinden sollen, die dort befindlichen Bäume verschattet und verschmutzt werden. Grundsätzlich befürchten die engagierten Bewohner, dass das System der bestehenden Kaltluftproduktionszone durch die Bebauung empfindlich gestört wird und sich das Mikroklima verschlechtert. „Das bedeutet mehr tropische Nächte im Sommer, was vor allem der Gesundheit der älteren Bewohner abträglich ist“, so Krüger. Bezirksstadtrat Vollrad Kuhn (Bü90/Die Grünen) betont, dass das Projektvorhaben „nicht in Stein gemeißelt ist“. So wäre es noch offen, wie viele Wohneinheiten letztendlich entständen. In den ersten Planungen sei man von etwa 1500 Wohneinheiten mit 100 qm ausgegangen. Es sei fraglich, inwiefern diese Zahl haltbar sei. So sind auch kleinere Wohnungen möglich, wodurch die Zahl der Wohneinheiten bei bestehender, zur Verfügung stehender Fläche steigen könne. Rogge geht davon aus, dass mindestens 1200 Wohneinheiten gebaut werden müssen, bei Zahlen weit darunter stehe auch die Wirtschaftlichkeit infrage.