Ekaterina Schulmann im Planetarium
Einige von ihnen landeten in Berlin, überrascht und verunsichert. Auch in Deutschland schon lange lebende Russen waren von dem plötzlichen radikalen Wandel des Regimes in der Heimat überrascht, sie hatten Verwandte und Freunde in Russland, sie verstanden nicht, wie geht es weiter? Ich habe versucht die Neuankömmlinge aufzufangen. In dieser Zeit habe ich mehr russische Intellektuelle kennengelernt als in den ganzen Jahren davor, es waren herausragende Persönlichkeiten, Meinungsmacher, die in Russland eine große Autorität, eine laute Stimme und Millionen Zuhörerinnen und Zuhörer hatten. Eine davon war Frau Ekaterina Schulmann, eine bekannte russische Politologin, Journalistin und Wissenschaftlerin, die eine Zeit lang im Menschenrechtsrat des Präsidenten tätig war, wo sie mutig und optimistisch versucht hatte, das Land von innen zu demokratisieren. Von den jungen Leuten geliebt, galt sie als Gesicht der russischen Demokratie, die wenn nicht jetzt gleich, dann in der Zukunft unvermeidlich kommen müsse. Von vielen war sie als eine perfekte Kandidatin für die zukünftige Präsidentschaft in der russischen Föderation favorisiert worden. Mit dem Unglück des Krieges musste auch sie über Nacht in Eile das Land verlassen, in einem fremden Auto mit der ganzen Familie über die Grenze fahren. Auf Umwegen kam sie zu uns nach Berlin.
Diese Menschen müssen die Möglichkeit haben, mit ihren Landsleuten wieder ins Gespräch zu kommen, dachte ich, mit denen, die hier leben und verunsichert sind und mit denen, die in der Heimat geblieben und der Staatspropaganda ausgeliefert sind. Ich überlegte die ganze Zeit, wie und wo ich einen öffentlichen Auftritt für Frau Schulmann organisieren könnte. Ich wandte mich an Markus Beeth, den Herausgeber unseres Stadtmagazins Mein Viertel, einen Mann, der alle kennt und auf jede Frage eine Antwort weiß. Er bot mir sofort drei Orte zur Auswahl an: eine Kirche, ein Theater und ein Planetarium. Bei der Kirche hatten wir Vorbehalte. Wir wissen nämlich nicht genau, ob es einen Gott gibt, und wenn doch, dann hätten wir viele Fragen an ihn. Das Theater ist eine Bühne der schönen Künste, die in der Regel nicht ernst genommen werden, eine Belustigung fürs Volk. Und das Planetarium ist ein historischer Ort, ein Symbol für das Wagnis der Menschheit, zu den
Sternen zu fliegen. Das Planetarium fasziniert und ermutigt, es sagt uns: Alles ist möglich. Einst als Schimpansen auf den Bäumen gesessen, haben wir gelernt, ins Weltall zu fliegen und kennen alle Sterne beim Namen.
Tim Florian Horn, der Präsident der Stiftung Planetarium hat uns angehört und ließ die Russen rein. Die Karten für das Gespräch unter den Sternen, das mit dem Titel Verstand schafft Leiden angekündigt wurde, waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Aus ganz Deutschland kamen meine Landsleute, aus Hamburg und Heidelberg, junge Gesichter, Menschen, die ihre Hoffnung auf die Zukunft Russlands nicht verloren haben. Ich wusste gar nicht, dass es so viele junge, russischsprachige Intellektuelle in Deutschland gibt. Der Weltraum an der Prenzlauer Allee war voll. Und draußen vor der Tür standen noch Spekulanten, die Karten zum doppelten Preis verkauften. Ich habe mich schon als Kind gefragt, ob das übertriebene Interesse der sozialistischen Welt an der Weltraumforschung wirklich gerechtfertigt war. Dasselbe Geld hätten sie in die Hosenproduktion oder in die Landwirtschaft stecken können, doch stattdessen haben sie Kosmonauten ausgebildet, Sputniks und Planetarien gebaut. Spätestens jetzt weiß ich, wofür das gut sein kann, es war ein in die Zukunft gerichtetes Projekt. Dort in dem Weltraum auf der Prenzlauer Allee traf sich die Zukunft Russlands.
Infobox
Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein deutscher
Schriftsteller, ist er die meiste Zeit unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.
Ekaterina Schulmann ist die bekannteste Politologin Russlands. Sie hatte ihre eigene Sendung beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy bis zu dessen Schließung.
© Fotos: Pavol Putnoki