Homeschooling…
361.000 Berliner Schülerinnen und Schüler tauschten am 17. März ihren Platz im Klassenraum mit ihrem Platz am heimischen Computer. Seitdem ist Homeschooling angesagt. Wie kann das funktionieren? Wir besuchten Judith Bauch, Schulleiterin an der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule.
Mein/4: Frau Bauch, Sie sind Schulleiterin an einer Gemeinschaftsschule mit fast 1.000 Schülerinnen und Schülern – von der ersten Klasse bis zum Abitur. Am 13. März gab der Berliner Senat bekannt, dass die Schulen ab dem 17. März geschlossen sind. Wie überraschend kam diese Entscheidung? Und wie organisiert man Homeschooling in 48 Stunden?
Judith Bauch: Spannend, ich habe gerade das Gefühl, ich muss mich an Dinge erinnern, die Jahre zurückliegen. Dabei sind es ja nur ein paar Wochen. Es war nicht ganz unwahrscheinlich, dass eine Schließung erfolgen würde, das Schreiben am Freitag kam dann aber doch überraschend. Ich habe dann noch am gleichen Tag die Leitungen der einzelnen Stufen zusammengetrommelt, und wir haben gemeinsam gesammelt, strukturiert, geordnet, die Kommunikationswege festgelegt und so weiter.
Mein/4: Ich stelle mir das sehr schwierig vor, die Anforderungen sind doch recht unterschiedlich in so einer großen Schule? Von der Grundschule bis zu den Abiturjahrgängen, mit Prüfungsjahrgängen etc.
Judith Bauch: Dafür gibt es die sogenannten Stufenleitung. Die gibt es für die Grundstufe, für die Sekundarstufe I und II – sie gehören auch zum Leitungsteam. Wir sind in ständigem Kontakt miteinander und arbeiten Hand in Hand. Ein Punkt, den wir in der weiteren Krise immer wieder bemerkt haben: Wie gut wir eingespielt sind, und dass nur dadurch so eine Gemeinschaftsschule am Laufen gehalten werden kann.
Mein/4: Die Lehrkräfte hatten dann 48 Stunden Zeit, um vorzubereiten, was sie ihren Schülerinnen und Schülern mit nach Hause geben und wie sie den Unterricht aus der Entfernung gestalten wollen.
Judith Bauch: Was uns sehr geholfen hat, ist unsere sehr gute Kommunikation über unseren E-Mail-Verteiler. So konnten wir wirklich alle im Team erreichen. Auch die Eltern erreichen wir sehr gut über den E-Mail-Verteiler. Die Schülerinnen und Schüler selbst wurden noch in der Schule informiert. Wir wollten, dass wirklich jeder weiß und sich darauf einstellen kann: Am Montag ist auf unbekannte Zeit der letzte Schultag. Für uns war wichtig: Wie kommunizieren wir, ohne Panik zu verbreiten? Das ist etwas, was auch viel über Beratung im Team läuft: Woran haben wir nicht gedacht? Was müssen wir noch überlegen?
Mein/4: Die Kommunikation aufrechtzuerhalten – sowohl innerhalb des Teams als auch zu Schülern und Eltern – ist in außergewöhnlichen Situationen sicher schwierig?
Judith Bauch: Wir haben versucht, die Kommunikationswege zu den Eltern zu vereinfachen. Gerade in den ersten Tagen und Wochen waren wir wirklich rund um die Uhr beschäftigt, zum Beispiel weil es ja immer wieder neue Verordnungen gab, die umgesetzt werden mussten (z. B. die Notbetreuung). Wir haben diese dann direkt an die Eltern kommuniziert, das geschah auch teilweise vorab, ohne den Umweg über die Schulaufsicht. Uns war es wichtig schnell zu informieren, und ich glaube, das ist uns gut gelungen.
Intern haben wir einen Geschäftsverteilungsplan, so heißt das in Schuldeutsch: Wer ist wofür Ansprechpartner? Dann haben wir Telefonkonferenzen eingerichtet in den jeweiligen Leitungsstufen, um uns täglich über die neuesten Positionen auszutauschen.
Mein/4: Gab es Vorgaben seitens der Schulleitung oder der Schulaufsicht, wie der Unterricht zu Hause für die Schülerinnen und Schüler organisiert werden soll?
Judith Bauch: Ja, wir haben vorgegeben, dass jede Lernleitung jedem Fachbereich Aufgaben stellen muss. Dass aber auch das Miteinander und der soziale Kontakt wichtig sind. Wie das dann genau umgesetzt wird, hängt auch immer stark von der eigenen Situation ab. Wir zum Beispiel sind ein sehr junges Team, es gibt viele Eltern, die selbst Kleinkinder betreuen müssen. Es gibt bei uns, wie wahrscheinlich überall, auch Unterschiede. Der eine kann sehr gut strukturieren und seinen Tagesablauf auf die Minute genau planen, der andere kann eben doch nur arbeiten, wenn das Kind schläft oder abends im Bett ist. So war es jedem freigestellt, das für sich passende Kommunikationsmittel zu wählen. Wir haben dann in der zweiten Woche eine digitale Liste erstellt, in der die Lehrerinnen und Lehrer abhaken mussten: Aufgaben erstellt, Aufgaben eingestellt usw. Jeder hat dadurch die Möglichkeit nachzujustieren und nachzusteuern.
Mein/4: Stichwort digitale Plattformen.
Judith Bauch: Wir haben uns gleich am Freitag dazu entschieden, dass wir auf die digitale Plattform Lernraum setzen. Es ist für uns der einzige digitale Raum, der wirklich den Datenschutz gewährleistet. Gestartet sind wir damit in der Sekundarstufe II. Die Sekundarstufe II arbeitet bereits seit längerer Zeit erfolgreich mit Lernraum. So haben unsere Informatikfachlehrer*innen die Struktur für die Sekundarstufe I aufgebaut, so dass wir suksessive einsteigen konnten. Ebenso besteht die Möglichkeit für die Jahrgangsstufen 4-6, die Plattform zu nutzen.
Als das funktionierte, haben wir es nach unten fortgesetzt. Später dann sind wir förmlich überschwemmt worden mit Plattformen, die uns angeboten wurden. Oft waren diese aber mit Folgeverträgen verbunden, die sehr teuer werden können. Wir haben im Team verschiedene Plattformen geprüft und für uns die ANTON-App freigegeben.
Mein/4: Was waren oder sind die Hauptprobleme für die Lehrkräfte?
Judith Bauch: Das Hauptproblem, das ich wahrgenommen habe, war, dass es Kollegen gibt, die diesen Beruf mit viel Herz und Hingabe erfüllen, aber auch mit Herzblut Mutter oder Vater sind. Und die dann gemerkt haben: Ich kriege es nicht hin. Ich schaffe es nicht, die Schülerinnen und Schüler so zu betreuen, wie es eigentlich richtig wäre. Wir konnten dann an der ein oder anderen Stelle ein wenig nachsteuern, zum Beispiel indem ein Kollege oder eine Kollegin unterstützend eingestiegen ist.
Oder auch Hilferufe von Lehrerinnen und Lehrern, die gemerkt haben, ihr eigener Anspruch, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler durch diese Situation bringen wollen, ist so hoch, dass sie an ihre eigenen persönlichen Belastungsgrenzen kommen; weil sie zum Beispiel von 8:00 bis 19:00 Uhr mit jedem einzelnen Schüler per EMail kommuniziert haben. Wir haben dann für unsere Lehrerinnen und Lehrer eine Checkliste Homeschooling erstellt, so konnte jeder gucken: Was mache ich? Was ist wirklich verpflichtend? Was kann ich leisten? Das haben wir dann auch klar an die Eltern kommuniziert, damit sich die Erwartungen angleichen konnten.
Mein/4: Der Sprung ins digitale Lernzeitalter in den letzten acht Wochen war gewaltig. Ein Modell für die Zukunft?
Judith Bauch: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir einen Riesenschritt nach vorne gemacht haben. Der Vorteil, den unsere Schülerinnen und Schüler hatten, war ja, dass egal auf welcher Kompetenzstufe sie sich befanden, sie alle mit dem selbstständigen Lernen und dem strukturierten Arbeiten vertraut waren. Auch in der Schule müssen sie entscheiden: Was nehme ich mir heute vor? Was steht heute an? Wie viel Zeit habe ich jeweils, oder will ich mir mehr dafür nehmen? D. h. jetzt aber nicht, dass jeder das besonders gut kann, das ist ja auch eine Typfrage, aber sie kannten alle diese Strukturen.
Wenn wir jetzt in diese vorbereitende Lernumgebung die digitalen Lernmedien viel stärker einbinden, dann ist das für viele Kinder ein Riesengewinn. Die Kinder merken, dass sie da viel ansprechbarer und motivierter sind. Eine Rückmeldung, die wir zum Beispiel aus der Jahrgangsstufe 4–6 bekommen. Hier haben einige Kinder mit der ANTON-App große Lernerfolge erzielt, es war für sie viel ansprechender als die Papierform.
Mein/4: Die ersten Jahrgangsstufen sind inzwischen wieder in der Schule. Gibt es Schülerinnen und Schüler, die durchs Raster gefallen sind und zu Hause gar nichts gemacht haben?
Judith Bauch: Wir haben das überwiegend vorher gemerkt. Es gab auch Fälle, in denen Lehrerinnen oder Lehrer mir eine E-Mail schickten und sagten: „Ich erreiche Schüler xy seit zwei Wochen nicht.“
Am letzten Schultag sind unsere Sozialpädagogen durch alle Lerngruppen gegangen, haben Kontaktzettel verteilt mit ihren E-Mail-Adressen und Handynummern, damit die Kinder einen Ansprechpartner haben, wenn es ihnen nicht gut geht. Später haben wir das auch an die Eltern verteilt. Wir wollten, dass jeder einen Anker in der Hand hat.
Wir hatten zwei Fälle, die recht brisant waren. Zum Glück kamen zeitgleich die Lockerungen. Die Sozialpädagogen konnten die Schüler dann zu Hause besuchen. Wir haben es zum Glück bei den meisten vorher bemerkt, aber wahrscheinlich wird das jetzt in der Schule auch noch einmal sichtbar, wenn sie jetzt wieder da sind und ihre Arbeiten präsentieren.
Mein/4: Durch die Hygienemaßnahmen und Abstandsregelung kann ja nur ein kleiner Teil der Schülerinnen und Schüler gleichzeitig in der Schule sein. Die Lehrkräfte betreuen ihre Schüler hintereinander in der Schule, gleichzeitig die Schüler, die von zu Hause aus arbeiten, und dann noch ihre eigenen. Das klingt nach einer noch stärkeren Belastung?
Judith Bauch: Ja, es ist enorm herausfordernd. Man muss sich selbst wieder neu strukturieren, neu kommunizieren, was geht, was geht nicht. Und für sich ein System finden, die Chance zu nutzen, jedes Kind zweimal die Woche aufzufangen, im Gespräch zu bleiben und den Kontakt zu pflegen. Und einen Input zu setzen, der den Schülerinnen und Schülern zu Hause gefehlt hat und den sie sich nicht selbst erarbeiten konnten.
Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch!
Homeschooling aus Schülersicht
Fast sieben Wochen mussten die Berliner Schülerinnen und Schüler auf den Schulbesuch verzichten und sich auf das digitale Lernen umstellen. Auch soziale Kontakte waren auf digitale Formate beschränkt. Die Eltern mussten den Spagat zwischen ihrer Rolle als Mutter oder Vater und Lehrerin oder Lehrer schaffen. Wir trafen vier Schülerinnen und Schüler aus Berlin und fragten sie nach ihren Erfahrungen.
Abaschi (11 Jahre, 5. Klasse Grundschule):
„Selbst zu entscheiden was und wann ich lerne, hat mir sehr gut gefallen. Das spätere Aufstehen natürlich auch“, erzählt Abaschi. Am letzten Schultag seien sie mit ziemlich viel Arbeitsmaterial ausgestattet worden, was weniger digital war. Das fing erst später mit den Lernplattformen an: „Meine Lehrerin kann inzwischen sogar E-Mails mit Anhang verschicken“, berichtet der Schüler lachend. Seine Mutter ergänzt: „Die Kinder beherrschen die Technik relativ gut, Lehrkräfte und Eltern haben da mehr Probleme.“ Was ihm am meisten fehlt: seine Freunde, die Partnerarbeit in der Schule – ein Videochat sei kein Ersatz.
Die Geschwister Artur und Mirdza (11 Jahre, 5. Klasse Grundschule / 13 Jahre, 7. Klasse Gymnasium):
Sie haben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. „Ich bekam gleich am Anfang das Material für mehrere Wochen, deshalb waren die ersten zwei Wochen sehr holprig. Dann kamen die Lernplattformen dazu, und es wurde besser. Videokonferenzen haben wir gar nicht genutzt, die wurden aber auch nicht angeboten“, sagt Artur. „Darüber waren wir auch nicht unglücklich“, erzählt Arturs Mutter, „wir haben in der Familie nur drei Laptops, zwei sind für mich und meinen Mann beruflich nötig. Insofern war nur noch einer frei für zwei Kinder.“
Konflikte habe es nicht gegeben, obwohl die Situation natürlich neu gewesen sei. Auch das Wechseln zwischen den Rollen Lehrer-Eltern sei ungewohnt. Auch wie etwas zu lernen ist, hätte zu Diskussionen geführt, und es hätte eine Weile gedauert, bis die Rollen klar verteilt waren.
Bei Mirdza war die Situation anders: „Bei uns gab es oft Videokonferenzen, mal mit der gesamten Klasse, oft auch in kleineren Gruppen. Meine Aufgaben konnte ich oft online erledigen.“ Über die Bewertung des Lernerfolges berichtet sie: „Das war von Fach zu Fach unterschiedlich. Im Französischen zum Beispiel habe ich mehr gelernt als in der Schule. Vokabeln und Grammatik kann man gut zu Hause lernen. In einem Fach wie Ethik, das doch stark vom Austausch mit Mitschülern abhängt und wo Themen in Gruppen erarbeitet werden, habe ich weniger gelernt.“
Judith (14 Jahre, 8. Klasse Gymnasium):
„Am Anfang gab es ein Laptopproblem und unser WLAN-Netz brach immer zusammen. Es hat etwas gedauert, bis wir gemerkt haben, dass mein alter Laptop Schuld ist“, sagt Judith. Es gab dann einen neuen. „Mir meine Arbeit selbst einzuteilen, hat mir sehr gut gefallen“, ergänzt sie. Natürlich sei die Versuchung da gewesen, die Beine mal etwas länger hochzulegen. „Ich habe versucht, die nächste Woche immer schon rechtzeitig zu planen. Manchmal kamen dann am Wochenanfang überraschend neue Aufgaben zusätzlich, das fand ich nervig.
Mein Eindruck ist, dass wir langsamer vorankommen als in der Schule, vor allem jetzt, wo die Lehrer in der Schule gebunden sind, aber auch die Schüler zu Hause betreuen und mit Aufgaben versorgen müssen“, fasst Judith ihre Erfahrungen zusammen.
… und Homeoffice?
Zehntausende von Berlinern verlegten ihren Arbeitsplatz ins Homeoffice. Einerseits, um der Ansteckungsgefahr entgegenzuwirken, andererseits, um auf die Schließung der Schulen zu reagieren. Wir unterhielten uns mit Menschen, die nicht nur ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegt haben, sondern nebenbei auch noch das digitale Lernen ihrer Kinder organisieren mussten.
Melanie Struntz, Mitarbeiterin im Service-Center der Berliner Stadtreinigung (BSR)
Mein/4: Frau Struntz, Sie arbeiten im Service- Center der BSR und kümmern sich um telefonische Anfragen von Kundinnen und Kunden. Innerhalb kürzester Zeit haben Sie Ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegt. Wie haben Sie den Übergang erlebt?
Melanie Struntz: Ich hatte Glück, denn bei der BSR gab es schon vorher vereinzelt Homeoffice. Insofern war das Unternehmen auf die neue Situation bereits vorbereitet und die Umsetzung – auch im größeren Maßstab – funktionierte gut. Weil die Schulen geschlossen waren, musste ja auch die Kinderbetreuung sichergestellt werden. Da ist Homeoffice natürlich hilfreich.
Mein/4: Für Sie ist das also Premiere?
Melanie Struntz: Für mich persönlich ja, aber die Möglichkeit gab es schon vorher. Insofern waren auch die technischen Voraussetzungen gegeben.
Mein/4: In der Familie musste bestimmt vieles organisiert werden? Wie war das bei Ihnen?
Melanie Struntz: Ja, das war am Anfang schon anspruchsvoll. Wir haben z.B. nur einen Laptop in der Familie, insofern mussten wir die Zeiten organisieren. Unsere Tochter geht in die sechste Klasse und muss sich bei der Computernutzung nach meinem Dienstplan richten – das klappt aber gut.
Mein/4: Haben sich die Fragen Ihrer Kunden in Zeiten von Corona geändert?
Melanie Struntz: Nein, die Fragestellungen sind oft die gleichen wie vor der Krise. Die Anzahl der Anfragen hat sich aber gesteigert. Und die Öffnungszeiten unserer Recyclinghöfe sind natürlich ein großes Thema: Durch die Einschränkung der Öffnungszeiten haben wir unser ursprüngliches Schichtsystem aus der Vor-Corona-Zeit entzerren können – im Sinne des Infektionsschutzes. Dies hat übrigens entscheidend dazu beigetragen, dass die Höfe trotz Corona geöffnet sind. Nicht alle Kunden finden diese Maßnahme gut, überwiegend haben sie aber Verständnis.
Mein/4: Ist das Arbeiten im Homeoffice ein Modell für Sie in der Zukunft?
Melanie Struntz: Nein, als Dauerlösung kann ich mir das nicht vorstellen. Mir fehlt der persönliche Kontakt zu den Kollegen. Dieser Austausch hilft, schnell Probleme zu lösen. Man darf außerdem nicht vergessen: Nicht jeder ist technikaffin. Deshalb großen Respekt, dass unser Team aus dem Service-Center so mitgezogen hat.
Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch!
Alle Fotos: © Pavol Putnoki
Artikelveröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020