Geheimer Häftlingsfreikauf

Nach einem Besuch einer Westberliner Freundin bei Rölligs Eltern, sucht diese ein prominentes Rechtsanwaltsbüro in Westberlin auf. „Die hat sich an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen gewandt, und das war der Lottogewinn meines Lebens. So kam ich auf die geheime Freikaufsliste für politische Gefangene der DDR. SED-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel schrieb mir dann sinngemäß: ‚Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich um Ihren Fall.’“

Anlässlich der Amnestie zum 38. Jahrestag der DDR werden 2000 politische Gefangene ohne Gerichtsprozess und Urteil aus Gefängnissen entlassen, darunter Röllig. Die vermeintliche Gnade Erich Honeckers hat einen banalen Hintergrund: den aufsehenerregenden Strauß-Deal mit der DDR. Als Röllig seine Zivilklamotten entgegennimmt, sind sie verschimmelt. Seine West-Armbanduhr zertritt ein Offizier vor seinen Augen. Er muss unterschreiben, alles in ordnungsgemäßem Zustand zurückbekommen zu haben. Am 18. September 1987 liegt eine vierstündige Fahrt im Lieferwagen vor ihm, die am Bahnhof Rummelsberg endet; dort wird Röllig rausgeschmissen. „Ich musste mir 20 Pfennig für die Fahrkarte nach Friedrichshagen zusammenbetteln.“ Seine Eltern erwarten ihn schon, die Stasi hat sie zuvor auf der Arbeit darüber informiert, dass ihr Sohn rauskommt.

Ausreise unter Zeitdruck

Am 6. März 1988 klingelt in Rölligs Elternhaus das Telefon. Eine Dame aus der Abteilung Inneres fordert ihn auf, am nächsten Morgen seine Ausreisepapiere abzuholen und die DDR binnen acht Stunden zu verlassen. „Allerdings müssen Sie vorher noch zur Post und zur Bank, und Ihre Eltern müssen unterschreiben, dass Sie keine Schulden haben“, fügt die Anruferin hinzu. Ein kaum stemmbares Unterfangen im Hinblick auf die seinerzeit sehr eingeschränkten Öffnungszeiten und im Urlaub weilenden Eltern. Doch diese brechen ihren Ferienaufenthalt in Thüringen sofort ab; Post und Bank betritt Röllig durch den Hintereingang. Am Bahnhof Schöneweide setzen ihn seine Eltern, unter den strengen Blicken zweier Stasileute, in den Bummelzug nach Köthen. Von dort geht es in den Interzonenzug, der Richtung Wolfsburg fährt. Die Stasimänner geben Röllig ein paar Drohungen mit auf den Weg: „Wenn Sie sich um Mitternacht noch auf unserem Staatsgebiet befinden, verhaften wir Sie wieder. Hoffentlich hat die Bahn keine Verspätung. Und wenn Sie über das, was Sie bei uns erlebt haben, irgendwo öffentlich im Westen reden, denken Sie daran: Wir finden Sie überall. Ein Autounfall kann auch in Stuttgart, in München und in Westberlin passieren.“ Es wird ein Ringen um die letzten Minuten: Um 23:30 Uhr erreicht der Zug den Grenzübergang bei Oebisfelde, kurz vor Wolfsburg. Auf DDR-Seite muss Röllig erst noch mal den Zug verlassen, um sich in der Grenzbaracke nackt auszuziehen. „Erst vier Minuten vor Mitternacht durfte ich in den Zug zurück, und um null Uhr fuhr der Zug mit mir über die deutsch-deutsche Grenze in die Freiheit.“ Die Abteilfenster gehen runter, den Reisenden weht ofenheizungsfreie Luft entgegen – der Geruch des Westens. Diakonieschwester Hildegard holt Röllig auf Geheiß von Westfreunden am Bahnhof ab und bringt ihn am nächsten Morgen zum Flughafen Hannover, per Businessclass darf Röllig nach Tegel fliegen. Von den Eltern informierte Freunde erwarten ihn in der Empfangshalle: Eine rote Krepppapierrolle als roter Teppich fliegt ihm entgegen, die Sektkorken knallen, es kullern Tränen der Freude und Erleichterung.

Schon am nächsten Morgen zerreißt es erneut sein Herz, als er zu seinem Freund in den Grunewald fährt, am Gartentor klingelt und ihm dessen kleine Tochter die Haustür öffnet. Mit einer Tasche, die nichts mehr als seine Zeugnisse und Unterwäsche enthält, steht Röllig vor dem Haus des Mannes, mit dem er auf ein gemeinsames Leben hofft. Als sein Freund ihm kreidebleich entgegenblickt, realisiert Röllig, dass er selbst jahrelang der dunkle Teil eines geheimen Doppellebens hinter der Mauer war. Um die Familie nicht zu belasten, entschuldigt sich Röllig: „Ich glaube, ich habe mich in der Haustür geirrt.“

Kampf um Gerechtigkeit und Traumaverarbeitung

Einige Jahre arbeitet Röllig im KaDeWe, verkauft Zigarren und ist mit seinem großen Gerechtigkeitsempfinden im Betriebsrat. Er versucht nach vorn zu schauen und nicht mehr zurück, auch wenn ihn Träume einholen, die mit Rachegelüsten zu tun haben. Am 18. Januar 1999 hat er auf der Arbeit eine folgenschwere Begegnung mit dem „Model-Stasimann“. Als würde er dem Teufel höchstpersönlich in die Augen blicken, reagiert sein Körper sofort. Röllig spricht den braungebrannten Mann im dunklen Anzug an und erntet Gebrüll: „Er schrie mich an, was mir einfällt, ihn anzusprechen, ob ich nicht begriffen hätte, dass ich zu Recht im Gefängnis gewesen sei, nach den Gesetzen der DDR sei ich schließlich schuldig gewesen. Wofür er sich denn entschuldigen solle? Reue sei was für kleine Kinder.“ Mit diesen Worten dreht sich der Stasimann um. Während für diesen die Sache damit offenbar erledigt ist, holt Röllig die Geschichte ein. Er rennt ins Treppenhaus und schreit derart, dass die Betriebskrankenschwester ihm eine Beruhigungsspritze verpassen muss und er nach Hause geschickt wird. „Ab dem Zeitpunkt konnte ich die Wohnung nicht mehr verlassen. Ich dachte, jetzt haben sie mich gefunden. Ich konnte nicht mehr rational denken.“

Der Versuch mit Freunden darüber zu sprechen, scheitert. Ein paar Wochen später nimmt Röllig eine Überdosis Schlaftabletten. Ein Freund findet ihn und ruft Hilfe; im Krankenhaus wird ihm der Magen ausgepumpt. Sein erster Gedanke nach dem Aufwachen: „Scheiße, es hat nicht geklappt.“ Die Ärzte wissen nicht so recht, wie sie ihm helfen sollen, denn psychische Erkrankungen infolge von Folter, Haft oder Krieg sind seinerzeit kein Thema. Nur dem Chefarzt der Klinik wird nach einem langen Gespräch mit Rölligs Eltern bewusst, dass der Jugendliche ein Trauma hat. Ihm hat es Röllig zu verdanken, dass er sich heute in der Gedenkstätte als Zeitzeuge engagiert: „Er kam mit einem Flyer vom ehemaligen Stasigefängnis an mein Bett und sagte: ‚Junge, wenn du nicht mehr leben willst, haben die doch erreicht, was sie wollten. Nicht für jeden, aber für dich ist es das Beste, wenn du dorthin zurückgehst und erzählst, was du erlebt hast. Dann wird es dir besser gehen.“

Politisches Engagement

2003 lässt sich Röllig von einem anderen Zeitzeugen überzeugen, der CDU beizutreten. „Damals setzte sich die Union insgesamt massiv für die Förderung von Zeitzeugenprojekten in den Gedenkstätten ein. Das war vorher in der rot-grünen Regierung nicht so. Außerdem sind wir bis heute die einzige Partei, die den 3. Oktober feiert und den 9. November nicht nur als Gedenktag für die Opfer der Pogromnacht ansieht, sondern auch den 9. November 89 als Mauerfall feiert.“ 
2018 tritt Röllig der LSU Berlin bei, Lesben und Schwule in der Union. Als der Posten des Landesvorsitzenden frei wird, kandidiert er. Er sieht großen Bedarf im Bereich der inneren Sicherheit: Angriffe auf queere Menschen, Transphobie, aber auch Antisemitismus und Gewalt gegen Frauen – die Liste ist lang, die Aufgaben sind ihm wichtig.

Infobox
Mario Röllig

ist Kreisvorsitzender der LSU Pankow, Mitglied des Kreisvorstandes der CDU Pankow und stellvertretender Vorsitzender des Beirates der Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen.

www.mario-roellig.de