Im Leben von Mario Röllig gibt es zwei Geburtstage – der zweite ist der 8. März 1988, der Tag, an dem er aus der DDR ausreisen darf. Als junger Mann erlebt er am eigenen Leib, was Kontrolle, Erpressung, Unterdrückung und Freiheitsentzug in der DDR bedeuten. Seine persönliche Geschichte handelt von moralischen Werten und vom Kampf für Gerechtigkeit und Menschlichkeit.

Text: Silke Schuster
Fotos: Jens Wazel

Mario Rölligs Jugend zwischen Freiheitsdrang und Unterdrückung in der DDR


Mario Röllig wird 1967 in Köpenick geboren. Er erinnert sich an Menschen wie seine Kindergärtnerin oder seinen Deutschlehrer, die trotz des Systems fair bleiben und die Kinder zu selbstständig denkenden Menschen erziehen möchten. „Mir ist das unglaublich wichtig“, betont Röllig, „Diktatur ist nicht nur schwarz-weiß, sondern es gibt auch ein Grau dazwischen: Menschen, die auch in einer Diktatur anständig bleiben.“

Kindheit und Jugend zwischen Ideologie und Idylle

Rölligs Eltern gehören der Kriegsgeneration an. Beide sind zwar in der SED, aber nicht übermäßig ideologisch. Westfernsehen ist ein selbstverständlicher Teil des Familienlebens. Nach dem Krieg wünschen sie sich nichts sehnlicher, als in Frieden zu leben; sie glauben an etwas Besseres und Gerechteres. Dass sie von der Idee der „guten sozialistischen Gesellschaft“ betrogen wurden, realisieren sie erst später, als ihr Sohn verhaftet wird.

Die Schulzeit verläuft angesichts der äußeren Umstände weitgehend in Ordnung, auch wenn die Schülerinnen und Schüler im Wehrkundeunterricht eine Kalaschnikow auseinandernehmen und wieder zusammensetzen müssen, im Sportunterricht Weitwurf mit Handgranaten-Attrappen auf dem Plan steht und die Textaufgaben im Matheunterricht eher von Panzern und Soldaten als von Äpfeln und Birnen handeln. „Ich habe mich untergeordnet“, schaut Röllig zurück, „denn ich wollte Abi machen.“ Doch das System sieht anderes für ihn vor. In der zehnten Klasse wird er aussortiert, weil sein Vater als studierter Ingenieur zur sogenannten Intelligenz gehört, die in der DDR um eine Generation übersprungen werden muss. Ohne Abi und ohne Beziehungen platzt dann ebenso sein Traum von der Schauspielschule. Allerdings herrscht in der DDR die Pflicht zur Arbeit: Wer nicht arbeitet, wird als asozial und arbeitsscheu abgestempelt und bekommt Probleme. Röllig versucht sein Glück in der Gastronomie: Er bekommt eine Ausbildungsstelle im edlen Flughafenrestaurant Schönefeld. Die Ideologie schlägt auch bei den Prüfungsvorgaben durch: Als Abschlussstück soll eine Festtafel vorbereitet werden; Röllig lässt sich von der Komischen Oper inspirieren, doch seinem durchdachten Ritter-Blaubart-Arrangement fehlt das „Sozialistische“.

Kick-out statt Coming-out

In der Schule als Frauenheld und Frauenversteher etikettiert, erlebt Röllig seine erste schwule Liebe mit einem Mitschüler. Obwohl Homosexualität – im Gegensatz zur Bundesrepublik – laut DDR-Strafgesetzbuch nicht mehr strafbar ist, fehlt zum großen Teil die gesellschaftliche Akzeptanz. Vielmehr gilt Homosexualität offiziell als schmuddelig und krankhaft. Irgendwann geht Röllig zu seinem Hausarzt: „Ich bin krank.“ Der selbst homosexuelle Arzt entpuppt sich als Glücksfall für den jungen Röllig. „Du brauchst weder Tabletten noch Therapie“, sagt er, „leb es aus, aber erzähl es nicht rum, denn nicht jeder hat dafür Verständnis.“ Rölligs Coming-out gleicht eher einem Kick-out: Von einem Tag auf den anderen bricht es aus ihm heraus, schrill und direkt. Die Einzigen, die es nicht sehen wollen, sind seine Eltern. „Ich habe damals Kajalstift benutzt und mich wie Boy George geschminkt. Aber wir haben nicht darüber gesprochen. Obwohl sie viel Verständnis hatten, war mein Elternhaus ein bisschen autoritär.“ Dass sie unter allen Umständen zu ihrem Sohn halten, zeigt sich später, als sie während seiner Inhaftierung unterschreiben sollen, den Kontakt zu ihm abzubrechen – was sie schlichtweg verweigern. „Wir wissen davon“, entgegnet der Vater, „und er bleibt trotzdem unser Junge.“

Die erste große Liebe und die Stasi

Rölligs erste Reise in die streng sozialistische Sowjetunion entpuppt sich als persönlicher Flop, Budapest hingegen zieht ihn in seinen Bann. Dort lernt er im September 1985 seine erste große Liebe kennen, einen „Typen aus Westberlin“. Er zieht vom Campingplatz zu seinem Freund ins Hilton auf die Fischerbastei. Auch nach dem Urlaub schaffen es die Männer, sich regelmäßig zu sehen. Doch die Zweisamkeit endet im November 1986, als Röllig, gerade 19 Jahre alt, von der Stasi angesprochen wird. „Ich kam morgens ins Büro meines Chefs, und da saßen zwei Herren. Du hast es im Gespür: finsterer Blick, beige, braun, grau angezogen. Sie sagten: ‚Wir sind mit Ihren Arbeitsleistungen sehr zufrieden. Aber Ihre Kontaktbemühungen zu Personen des westlichen Auslands gefallen uns überhaupt nicht.‘ Da habe ich noch ganz selbstsicher gesagt: ‚Wen ich treffe oder nicht, das geht Sie gar nichts an.‘ Ihre Antwort: ‚Wen Sie treffen oder nicht, das bestimmen wir. Wir sind vom Ministerium für Staatssicherheit, und es ist Ihre Pflicht als DDR-Bürger, mit uns zusammenzuarbeiten.‘“ Röllig macht sich einen Spaß draus, bis ihm klar wird: Die Männer meinen es bitterernst. Schwächen, Stärken, Charakter, politische Einstellung, Arbeitsumfeld, Freundeskreis: Röllig lehnt es kategorisch ab, über seinen Freund auszupacken. „Meine Eltern haben mich erzogen, loyal, offen und ehrlich zu sein. Das bin ich bis heute.“ Röllig handelt nach seinen Werten, ohne sich bewusst zu machen, welche Konsequenzen die Ablehnung nach sich ziehen könnte.

„Ich war so angewidert. Als normaler Mensch wollte man mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Sie wollten mich dann erpressen, dass ich nach der Fahrerlaubnis schneller an einen neuen Trabant® komme oder dass ich mir den Stadtteil aussuchen darf, in dem ich leben möchte.“ Singles müssen zu der Zeit in Ostberlin acht Jahre auf eine eigene Wohnung warten, Familien und Funktionäre werden bevorzugt. „Ich habe ganz frech gesagt: ‚Ich möchte nach Westberlin, Charlottenburg, ziehen.‘ Die standen total wütend auf und sagten: ‚Vergessen Sie es, dieses Gespräch hat nie stattgefunden.‘“ Genau das macht Röllig: das Gespräch vergessen. Bis dieser Fehler ihn wie ein Bumerang einholt. Drei Wochen später wird Röllig in die Personalabteilung zitiert, wo der Personalleiter ihm im Beisein besagter Herren verkündet, seine Stelle müsse aus Kostengründen eingespart werden. Da in der DDR niemand arbeitslos wird, lässt man ihn in einer Selbstbedienungsgaststätte den Abwasch machen. Um vier Uhr aufstehen, um sechs Uhr anfangen – und er macht alles falsch. „Die Chefin war im Auftrag der Stasi dazu da, mich jeden Tag auf der Arbeit zu schikanieren.“

Gescheiterter Fluchtversuch

Röllig und sein Freund sind niemals mehr allein, die Stasi folgt ihnen auf Schritt und Tritt. „Ich habe zwar mit ihm nicht drüber gesprochen, aber irgendwann wurde mein Freund aufmerksam, weil es immer dieselben Typen waren. Die wollten halt auch, dass man sie sieht, nach dem Motto: Ihr könnt nichts machen, ohne dass wir es wissen.“ Sein Freund bekommt Angst und stellt die Verbindung in Frage. Das ist der Moment, in dem Röllig beschließt zu fliehen – ohne zu wissen, dass er längst „Fahndungsobjekt“ ist. Sein Freund gibt ihm den Tipp, es über die grüne Grenze von Ungarn ins blockfreie Jugoslawien zu versuchen, und steckt ihm 1000 DM als Bestechungsgeld für die Flucht zu.

Am 25. Juni 1987 fliegt Röllig nach Budapest. Per Anhalter und Zug fährt er etappenweise in den Süden des Landes, wo – so sagt man ihm – die Chance am größten sei, die Grenze zu passieren. In Mohács angekommen, versteckt er sich im Grenzgebiet. „Seitlich war die Donau, vor mir nur Getreidefelder, auf 300 Meter Entfernung sah ich die Grenzschilder ohne Wachturm, ohne Mauer, ohne Stacheldrahtzaun. Ich sah auch, wie in 150 Meter Entfernung ungarische Armeejeeps patrouillierten, aber nur einmal stündlich mit bewaffneten Soldaten. Da wusste ich, die schießen hundertprozentig auf Flüchtlinge wie mich.“ Er wartet die Dunkelheit ab und sprintet los. Doch jemand schreit ihm „Stopp“ hinterher und feuert einen Warnschuss ab. Röllig rennt um sein Leben, die Kugeln pfeifen nur knapp an ihm vorbei. Etwa 20 Meter vor dem letzten Grenzschild rutscht Röllig aus, das war’s. „Der Typ war ganz schnell bei mir. Ich musste mich flach auf den Boden legen, die Hände hinter den Kopf. Ich flehte ihn vergeblich an, mich laufen zu lassen und gab ihm meine 1000 DM. Durch die Schüsse wurde die Grenzkontrolle alarmiert. Die Soldaten kamen und ich musste auf einen Armeejeep. Es war grauenvoll.“

Ständige Kontrolle der “Liegeposition” im Stasigefängnis

Röllig kommt im Budapester Polizeigefängnis in eine Zelle, die ans Mittelalter erinnert. Holzpritschen mit stinkenden Matratzen, die tagsüber zusammengerollt werden müssen. Allein und umgeben von brutalen Wärtern schreit er vor Angst. Am 3. Juli verkündet ihm ein schicker Typ im breitesten Sächsisch: „Ich bin von der Botschaft der DDR, vom Ministerium für Staatssicherheit. Wir bringen Sie in die Hauptstadt zurück, Sie werden dann dort von uns verhaftet.“ Rölligs Welt zerbricht in tausend Scherben. Handschelle an Handschelle mit einem Stasimann wird er zusammen mit acht gleichaltrigen Jungen und Mädchen in eine Garage getrieben, in der ein Touristenbus wartet. Bei schönstem Sommerwetter werden sie durch Budapest gekarrt, direkt vor eine Sondermaschine mit 150 Sitzplätzen. „Wir waren mit unseren Bewachern 18 Leute. Der Rest der Maschine war leer. Und dann war da eine Stasikrankenschwester. Ich nahm freiwillig eine Beruhigungstablette. Die hatten Angst, dass wir die Maschine entführen oder uns wehren. Dabei hatten wir wahnsinnige Angst vor denen.“

Zwei Stunden später landet die Gruppe in Ostberlin auf einem abgelegenen Rollfeld des Flughafens Schönefeld. Vor dem Flieger stehen zwei kleine Lieferwagen, Barkas B 1000. An der Seite steht in Rot Centrum Warenhaus Berlin Alexanderplatz, auf dem zweiten in blauer Schrift Handelsorganisation Obst und Gemüse. Der Fahrer trägt über seiner Stasiuniform einen weißen Kittel, beschriftet mit Centrum. Er steht mit einer Maschinenpistole zwischen Flugzeugtreppe und Lieferwagen, dann holt er Röllig rein. „Vorn gab es eine Bank und fünf kleine Boxen, wie ein Besenschrank. Dort wurde ich dann im Dunkeln von diesem Stasitypen mit Handschellen festgemacht.“ Sie fahren knappe vier Stunden mit langen Umwegen, damit die Inhaftierten das Orts- und Zeitverständnis verlieren. Die Angst wird größer, diffuser. Irgendwann kommen sie an. Ein Tor knallt hinter ihnen zu. Wenige Sekunden ist es still, bevor die Türen aufgerissen werden und die Inhaftierten angebrüllt werden: „Raus hier, schnell, schnell. Ihr seid hier nicht im Sanatorium.“ Vor dem Lieferwagen stehen fünf Stasiwärter in hellgrauen Uniformen mit schwarzen Reitstiefeln und Schirmmütze auf dem Kopf, Gummiknüppel in der Hand. „Die haben uns überhaupt nicht verprügelt, das Schreien reichte schon“, erinnert sich Röllig an den Alptraum, „ich habe mich gefühlt wie in so einem Nazifilm.“

Isolationshaft, Angst und Einsamkeit

Drei Monate lang kommt Röllig als „Gefangener 328“ in Isolationshaft. Die Verhöre dauern durchschnittlich 25 Stunden pro Woche. Es geht um sein gesamtes Leben, um persönlichste Details über ihn und sein Umfeld. „Der erste Stasioffizier beleidigte mich im Stil von: ‚Du schwule Sau, du asoziales Subjekt, wir machen aus dir Kleinholz.‘ Dann ging die Tür des Verhörbüros auf und auf einmal stand da ein Modeltyp, der den anderen rausschmiss und sich bei mir entschuldigte.“ Dass dieser Stasimann „ein Arschloch“ ist, diese Erkenntnis trifft Röllig erst deutlich später, nach einer vielsagenden Wiederbegegnung im KaDeWe.

In Haft ist Freigang rar und in den Himmel zu gucken ist verboten. Wenn der Wärter sich umdreht, weil er andere sogenannte Freigangskäfige bewachen muss, ist es für Röllig das Schönste, wenn er weiße Pan-Am-Flugzeuge mit dem runden blauen Logo am Sommerhimmel sieht – die Verheißung von Freiheit.

In den Momenten tiefer Verzweiflung und Einsamkeit hingegen ist der Wunsch zu sterben groß: „Aber wenn ein Flieger über den Käfig flog, dachte ich: ‚Ne, für diese Schweine keine Träne.‘“ Die Einsamkeit ist dermaßen zermürbend, dass Röllig beginnt, sich auf die Verhöre zu freuen. Während andere Häftlinge Bücher bekommen, geht Röllig in den ersten Tagen und Wochen leer aus. Kein Buch, keine Zeitung, kein Radio. Auch keine Möglichkeit, einen Anwalt zu sprechen. Um in der erdrückenden Einsamkeit nicht verrückt zu werden, fängt Röllig an, Gedichte aus seiner Schulzeit aufzusagen, Rechenaufgaben im Kopf zu lösen, die Zelle auszumessen: 14,5 Schritte sind es von der Tür bis zur Heizung. Die Heizung steht auf volle Leistung, die Häftlinge müssen einen dunkelblauen Kunststoff-Trainingsanzug tragen. Dazu kommt nächtlicher Schlafentzug. „Irgendwann nach vier Wochen hatte ich mir nichts mehr zu sagen.“ Röllig kratzt all seinen Mut zusammen und bittet im Verhör um Bücher: „Die waren menschlich ganz mies und psychologisch noch besser.“ Zu seiner neuen Lektüre zählen ein Bildband über Südafrika, ein Reiseführer von New York, ein Roman über Wanderurlaub in der Schweiz – als Flüchtling bekommt er nur Reiseliteratur über Orte, die er nie sehen würde. „Das hat sich angefühlt, wie wenn man einem Hungernden ein Kochbuch schenkt, statt was zu essen.“

Die Stasimänner drohen, seine Eltern zu verhaften, seine Schwester ins Gefängnis zu sperren und seine dreijährige Nichte ins Heim zu stecken – diese Drohungen fühlen sich an wie Prügel. „Das waren die schlimmsten Momente der Angst“, gibt Röllig zu. Sein Körper reagiert mit unkontrolliertem Zittern. Die höllische Angst um seine Familie bringt ihn an Grenzen. „Darüber redet man als Zeitzeuge nicht gern. Ich bin kein Held, ich bin ein normaler Mensch.“