Jung – engagiert – provokant
Kaum ein Politiker war in den letzten Wochen und Monaten in den Medien so präsent wie Kevin Kühnert. Und kaum einer polarisierte durch seine Ideen wie er. Für die einen sind seine Ideen die Antwort auf die sozialen Fragen der Zukunft, für die anderen der Rückfall in den Kommunismus.
mein/4: Lieber Kevin Kühnert, du bist 30 Jahre alt und seit 15 Jahren Mitglied der SPD. Wie kommt man als 15-Jähriger darauf, sich in der Politik zu engagieren?
Kevin Kühnert: Ich bin Jahrgang 1989, in den vergleichsweise ruhigen Neunzigerjahren aufgewachsen und dann an die Oberschule gekommen – eine Zeit, als um uns herum politisch ganz viel Aufregendes passierte.
Ein Beispiel: In der ersten oder zweiten Woche am Gymnasium in Lankwitz geschahen die Anschläge vom 11. September 2001. Ich glaube, für meine Generation war sofort klar, dass ab diesem Tag etwas anders sein würde. Das haben wir auch schon mit zwölf Jahren bemerkt. Daraus resultierten viele Debatten um den Irakkrieg, es gab viele Massendemos in Berlin, zu denen wir auf die Straße gegangen sind. Es war eine hochpolitische Zeit.
Insofern war der Eintritt in eine Partei nicht der Moment, in dem ich politisch geworden bin, sondern das war eigentlich schon vorher. Die Überlegung war eher: Reicht es, für sich alleine politisch zu sein oder muss man sich nicht auch organisieren? Ich habe mich für Letzteres entschieden.
mein/4: Wann war für dich klar, dass es die SPD sein sollte? Dein Eintritt war 2005, das letzte Jahr von Schröders Kanzlerschaft.
Kevin Kühnert: Was damals noch nicht klar war …
mein/4: Bist du trotz oder wegen Schröders Politik in die SPD eingetreten? Stichwort Hartz-IV-Agenda.
Kevin Kühnert: Ich bin nicht mit 15 Jahren in die SPD eingetreten, um die Agenda umzuwerfen. Das war auch nicht das Thema, das mich damals groß beschäftigt hat.
Ich bin eher wegen der Situation vor Ort eingetreten. Wir haben uns damals für mehr Jugendbeteiligung in den Bezirken eingesetzt. Am Ende waren es Menschen aus der SPD, die uns unterstützt haben und denen ich Vertrauen zurückgeben wollte. Der letzte Auslöser war ein Schülerpraktikum im örtlichen SPD-Büro.
Von da an stand es fest – die inhaltliche Nähe habe ich aber vorher schon gespürt. Ich habe mich nicht mit einer Plusminusliste hingesetzt und geschaut, was passen könnte; das war ein Bauchgefühl, wenn auch ein deutliches.
mein/4: Du bist in Berlin geboren, du lebst in dieser Stadt und verbringst auch privat deine Zeit hier. Welche Veränderungen erlebst du? Wie verändert sich der Umgang der Menschen untereinander?
Kevin Kühnert: Das Besondere an Berlin im Vergleich zu anderen Großstädten ist ja, dass wir anders aufgebaut sind. In Berlin gibt es nicht das eine Zentrum, in dem sich alles abspielt. Berlin hat Dutzende Zentren. Für jede Neigung, für jedes Interesse gibt es ein eigenes Zentrum. Die Stadt entwickelt sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Ich zum Beispiel bin in den Außenbezirken groß geworden, erst in Lankwitz, dann in Lichtenrade. Da hat sich in den letzten Jahren nicht so fürchterlich viel verändert. Natürlich entwickeln sich auch diese Stadtteile weiter, aber das Tempo ist ein anderes als in der Innenstadt. Inzwischen lebe ich in Schöneberg, das liegt eher am Rande des Epizentrums.
Aber wenn ich nach Kreuzberg, nach Mitte und Prenzlauer Berg gucke und meine 30 Lebensjahre Revue passieren lasse, sehe ich, dass da einmal alles durchgewechselt worden ist – was Wohnraumerneuerung angeht, was die Geschäfte angeht, die ich dort vorfinde, was den öffentlichen Raum angeht.
mein/4: Welche Probleme und Chancen entstehen daraus?
Kevin Kühnert: Herausforderungen sehe ich ganz konkret in der Bezirkspolitik. In Tempelhof-Schöneberg bin ich selbst kommunalpolitisch als Bezirksverordneter aktiv. Da bekomme ich die Probleme vor Ort natürlich aus nächster Nähe mit. Eine Herausforderung ist z. B., dass wir unendlich viele Kitaplätze schaffen müssen, mitunter 100 pro Monat in den letzten Jahren. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, Kitaplätze anzubieten und zwar für jeden. Natürlich auch für jene, die jetzt neu nach Berlin kommen. Das verlangt nach unheimlich viel Organisation. Es müssen Schulen neu gebaut werden, neue Sportplätze müssen angelegt werden, gleichzeitig wollen wir Grünanlagen erhalten und verteidigen.
Wir kommen in einer wachsenden Stadt an einen Punkt, an dem Widersprüche entstehen. An dem Dinge, die eigentlich schützenswert sind, im Widerspruch stehen zu Dingen, die wir zwingend brauchen, um einer immer größer werdenden Masse an Berlinerinnen und Berlinern gerecht werden zu können. Das sorgt für Konflikte, vor allem für Verteilungskonflikte, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch was den öffentlichen Raum angeht. Die größte Ressource in einer Stadt ist Raum, und das merken wir mittlerweile.
mein/4: Die Verteilungskonflikte, die du beschreibst, sorgen ja auch für eine Spaltung der Stadt. Wie bringt man die Menschen zum Großteil wieder zusammen? Wie findet man eine breite Zustimmung?
Kevin Kühnert: Ich glaube, es geht hauptsächlich um zwei Sachen. Zum einen brauchen wir eine aktive demokratische Gesellschaft. Nicht nur zehn Prozent müssen sich engagieren, sondern eine breite Mehrheit. Menschen, die ihr Lebensumfeld als Aufgabe begreifen und diese auch mitgestalten. Und das Lebensumfeld sind nicht die Bezirke. Die haben teilweise 300.000 und mehr Einwohner; das ist viel größer als der Radius, in dem sich der Einzelne bewegt. Die Menschen reden eher von ihrem Stadtteil oder sogar von ihrer Eisscholle, auf der sie leben. Darum geht es. Es braucht Strukturen darunter, eine aktive Nachbarschaft, so was wie Quartiersmanagement in Kiezen, die sonst abzurutschen drohen.
Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, als Politik vor Ort ein Signal zu setzen: Ihr könnt und müsst ein stückweit selbst gestalten, aber ihr bekommt auch Hilfe dabei, wenn ihr sie braucht. Der zweite Punkt ist, dass wir der andauernden Profit- und Verwertungslogik entgegentreten müssen – und das kann nur durch politischen Willen passieren. Daran arbeiten wir vor allem. Viele Entwicklungen dieser Stadt zeigen, dass wir eine Entmischung in der Innenstadt haben, also dass ärmere Menschen dort rausgedrängt werden und Gated Communities entstehen, in denen man abgeschottet unter seinesgleichen ist.
So etwas entsteht, weil immer weiter an der Preisschraube gedreht wird. Die Mieten gehen hoch. Es gibt ja auch immer jemanden, der es zahlen kann. Es bewerben sich nur nicht mehr 20 Menschen auf eine Wohnung, sondern 200. Aber einer davon nimmt diese Wohnung auch für die Mondmiete, die für sie aufgerufen wird. Die anderen Menschen werden an den Rand oder noch weiter nach außen verdrängt.
Dafür muss es eine Politik geben, die ganz klar sagt: Wenn wir so nicht im Raum zusammenleben wollen, und wenn wir miteinander auskommen wollen, dann müssen wir die Kontrolle über den Wohnungsmarkt und überhaupt das Gemeinwohl behalten und teilweise sogar erst einmal zurückgewinnen. Das bedeutet, eigene Wohnungen zu bauen, aber auch Mobilität und Gesundheit gehören dazu. All das muss wieder stärker in öffentlicher Hand sein, sonst können wir es nicht gemeinsam gestalten.
Wenn reiche Menschen sich alles selbst kaufen können – Mobilität, private Schulen, Eigentumswohnungen in teuren Lofts usw. –, dann mag das für sie schön sein, aber es treibt die Stadt auseinander. Ich habe es immer so wahrgenommen, dass alle, die nach Berlin kommen – auch die Reichen –, die Mischung der Stadt schätzen. Ihnen gefällt die Vielfältigkeit. Wenn wir jedoch nichts gegen den gegenwärtigen Trend tun, geht uns diese Mischung verloren.
mein/4: Die Parteienlandschaft in Deutschland hat sich sehr verändert. Von CDU/CSU und SPD als große Volksparteien, mit der FDP als Koalitionspartner bis in die 70er Jahre der BRD, auf heute sechs Parteien, die regelmäßig in Landtage einziehen. Wie schwierig wird es zukünftig sein, parteiübergreifend Koalitionspartner zu finden, ohne die eigene Identität der Partei zu verlieren? Wie kann die gemeinsame Schnittmenge einer Koalition sein, ohne das eigene Profil zu verlieren und Wähler zu enttäuschen?
Kevin Kühnert: Wir haben in Berlin das Glück, dass wir jetzt seit fast 20 Jahren mit einer sehr stabilen, wenn man so will, linken Mehrheit arbeiten. Die einzelnen Parteien wechseln sich da mal ab, aber diejenigen, die man eher links verortet, haben konstant 55 bis 60 Prozent Zustimmung. Das gibt uns die Möglichkeit, Rot-Rot-Grün in Berlin zu machen.
Das ist in vielen Fragen keine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners, das wäre auch zu langsam für Berlin, sondern man kann wirklich gestalten. Beispiele: Mietendeckel, Gebührenfreiheit bei den Kitas, kostenfreies Mittagessen an den Grundschulen. Das wäre mit anderen so nicht möglich gewesen.
Ich erlebe aber zum Beispiel auch, dass eine Partei wie die CDU in Berlin anders tickt. Warum? Weil sie auch nicht vorbei können an den Realitäten dieser Stadt. Ich war kürzlich zu Gast bei einer Veranstaltung der Berliner CDU und der Moderator begrüßte die Gäste mit den Worten: „Wir begrüßen Sie heute das letzte Mal in diesen Räumlichkeiten. Wir müssen hier raus mit unserer Geschäftsstelle, weil die Gewerbemieten durch die Decke gehen und inzwischen ein Vielfaches der Miete verlangt wird. Wir können das nicht mehr zahlen.“ Das hat natürlich eine gewisse Ironie, nachdem sie sich so lange gegen den Mietendeckel gewehrt haben. Sie erfahren jetzt auf eine traurige Art, dass wir alle diesen Entwicklungen in der Stadt ausgeliefert sind, wenn wir uns politisch nicht wehren.
Das wird vor niemandem haltmachen. Irgendwann kippt der Schalter im Kopf, und das Denken passt sich den Realitäten an.
mein/4: Du bist jetzt zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt worden. Die SPD ist in den letzten Jahren politisch immer weiter in die Mitte gerutscht und hat ihre innere Zerrissenheit auch nach außen dargestellt. Wie ist deine Vision? Wie möchtest du die SPD auf einen linken Politikkurs bringen und das Profil der SPD zurückgewinnen?
Kevin Kühnert: Ich würde sagen, die SPD rückt in letzter Zeit wieder ein ganzes Stück nach links. Oder besser gesagt: zu sich selbst. Wir haben uns Ende letzten Jahres endlich von diesem ganzen Hartz-IV-Ballast verabschiedet. Und das glücklicherweise nicht nur, wie vorher, durch die Behauptung, wir hätten damit nichts mehr zu tun. Nein, wir haben auch endlich ein neues Konzept vorgelegt. Nicht nur, dass wir es nicht mehr „Hartz IV“ nennen, sondern wir möchten konkret verhindern, dass Menschen arbeitslos werden oder den Anschluss verlieren.
Wir möchten es schaffen, dass auch über 50-Jährige noch einmal umgeschult werden können und nicht in die Frühverrentung abgeschoben werden. Wir möchten Kinder absichern, von denen immer noch zwei Millionen in Deutschland unter der relativen Armutsgrenze leben. Das ist ein sehr kompaktes Ding, das noch viel mehr beinhaltet als das Genannte. Und es bedeutet einen ziemlichen Bruch zu dem, wofür wir so gescholten worden ist.
Meine Vorstellung von einer Volkspartei SPD ist, dass arbeitsteilig vorgegangen wird. Das gehört dazu. Es muss natürlich einen eher konservativen und einen eher linken Flügel geben. Es gibt Leute, die eher im sehr kosmopolitischen Milieu unterwegs sind, und Menschen, die ein bisschen stärker auf die Verteidigung der alten Welt bestehen. So ist auch unsere Mitgliedschaft aufgebaut.
Aber es kann nur dann funktionieren, wenn immer klar ist, wo das Zentrum dieser Partei ist. Was ist der Konsens dieser Partei, hinter dem sich ohne Wenn und Aber alle versammeln? Wir haben uns diesbezüglich gescheut, Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, wenn wir uns vor einem Parteitag nicht einig waren, ob es eine Vermögenssteuer geben soll. Dann haben wir darüber nicht abgestimmt, sondern haben eine Kommission eingerichtet und die hat dann nicht getagt, und am Ende war kein Problem gelöst. Resultat: Der eine läuft rum und sagt: „Die SPD ist für eine Vermögenssteuer.“ Ein anderer sagt: „Die SPD ist gegen eine Vermögenssteuer, das wendet sich gegen die Leistungsträger in einer Gesellschaft.“
Klare Kommunikation sieht anders aus. Wer soll sich denn an so einer Partei orientieren? Und genau diese Sachen ziehen wir im Moment gerade. Übrigens bei der Frage nach der Vermögenssteuer für Multimillionäre und Milliardäre, indem wir sie mit einem klaren Ja beantwortet haben.
mein/4: Was sind die Grundwerte, hinter die sich alle stellen können? Gibt es die in der SPD?
Kevin Kühnert: Beispielsweise ganz klar die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, zwischen eingewanderten Menschen und sogenannten Bio-Deutschen. Gleiche Rechte, gleiche Chancen für alle. Zum Beispiel im Bildungssystem durch Abschaffung von Gebühren aller möglichen Art.
Das ist auch die Rückdrängung von Marktlogiken in sensiblen Bereichen des Zusammenlebens. Wir haben abgeschafft, dass Angehörige mit normalem Einkommen für ihre zu pflegenden Eltern Zuzahlung leisten müssen, was vorher viele Familien vor riesige Herausforderungen und nicht selten auch Zerwürfnisse gestellt hat. Überhaupt: Wir wollen die Daseinsvorsorge wieder stärker in die öffentliche Hand zurückholen, die in letzter Zeit durch den Druck, Gewinne machen zu müssen, Stück für Stück zur Ware verkommen ist.
Es ist aber genauso der Wert der Arbeit. Wir sind eine Partei, die aus der Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen kommt. Die Arbeitsgesellschaft ist heute eine andere, aber es ist umso wichtiger, sie nicht sich selbst zu überlassen. Wir haben heute neuere Formen der Arbeit, die wir noch schwer erfassen können. Es gibt Leute, die sind nicht richtig angestellt, aber auch nicht richtig selbstständig. Die arbeiten hier und da als Freelancer großen Unternehmen zu, und auch unser Arbeitsrecht erfasst diese Leute nicht richtig. Für die wollen wir verlässliche Absicherungen und für alle Beschäftigten einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung – auch berufsbegleitend.
Wir sind außerdem eine internationalistische Partei, uns interessieren ausdrücklich Dinge über den Tellerrand hinaus. Wenn zum Beispiel Geflüchtete nach Deutschland kommen, wissen wir, dass das auch mit uns zu tun hat – nicht nur, weil diese Menschen gerade vor unserer Tür stehen, sondern wir müssen uns auch die Gründe anschauen, warum sie überhaupt flüchten mussten. Das heißt, wir müssen uns für die Welt interessieren, für die Konfliktlage im Ausland, und wir müssen einen Beitrag zur Lösung leisten.
Ja, wir wissen, dass der Klimawandel nicht bei uns allein entstanden ist. Ja, wir werden ihn nicht alleine lösen können. Aber andere finden weitaus schlechtere Bedingungen vor, um sich dem Thema anzunehmen. Wir werden unseren Beitrag leisten müssen, auch als Vorbild.
Das ist also eine ganze Masse an Themen, die die SPD zusammenhält, deshalb würde ich auch immer noch sagen, die SPD ist eine Volkspartei. Weil sie den ernsten Anspruch hat, sich nicht nur an eine Klientel zu richten oder sich nur um eine Fragestellung zu bemühen. Uns interessiert alles, und wir erkennen die Zusammenhänge an.
mein/4: Die Mitgliedszahlen der SPD sinken seit Jahren, die Stammwählerschaft nimmt immer mehr ab. Ihr, der Verband der Jusos, habt steigende Mitgliedszahlen. Wie begeistert man junge Menschen wieder für Politik? Wie läuft die Kommunikation? Nur noch über Social Media?
Kevin Kühnert: Sowas wie eine Stammwählerschaft verliert heute an Bedeutung. Das ist für Parteien, die früher eine große Stammwählerschaft hatten, natürlich erst einmal ärgerlich. Demokratisch ist es aber total erfreulich. Das bedeutet nämlich, dass die Leute bewusster wählen. Sie machen sich vor jeder Wahl im besten Fall Gedanken: Was passt jetzt zu der Situation? Wer hat gerade die besten Antworten? Und nicht nur: Was ist meine Gewohnheit?
Berlin macht hier vor, wie so oft, wohin die Reise geht. Denn in Berlin haben wir seit vielen Jahren eine politische Landschaft, in der es vier relativ gleichstarke Parteien gibt. Hier kommt es auf die Nuancen an, auf die aktuelle Stimmung, auf das Personal, um zu entscheiden, wer am Ende vorne liegt. Dadurch kann sich keine Partei darauf verlassen, dass sie wie immer gewinnen wird.
Das sehen wir auch bei unseren Juso-Mitgliedern. Nur selten tritt jemand ein, weil das in der Familie alle so gemacht haben. Unsere Mitglieder wählen uns sehr bewusst als den Ort aus, an dem sie aktiv werden wollen. Im Internet spielen insbesondere die sozialen Medien gerade in Wahlkämpfen eine riesige Rolle, sind aber kein politischer Inhalt an sich. Das darf man nicht verwechseln. Nur weil man einen guten Netzauftritt hat und auf den entsprechenden Plattformen unterwegs ist, wird man nicht gewählt.
Das hat auch die FDP mittlerweile merken müssen. Schnittige Schwarz-Weiß-Fotos im Unterhemd sind aufregend, locken aber niemanden automatisch hinterm Ofen vor. Wir merken bei jungen Menschen, dass wir eine Zweiteilung haben – wie an vielen Stellen in der Gesellschaft: Die eine Hälfte der jungen Menschen ist hoch politisiert. Das nimmt seit Jahren zu, die politisieren sich auch immer weiter und werden jetzt auch aktiv. Wir sehen das zum Beispiel bei Fridays for Future oder den Demos gegen den Art. 13 der EU-Urheberrechtsreform, in dem es unter anderem um Uploadfilter ging. Die andere Hälfte ist die, die mehrheitlich ein wenig apathisch danebensteht und nicht daran glaubt, dass Dinge verändert werden können. Sie glauben nicht an die Gestaltungskraft der Politik, sei es, weil sie die Gestaltungskraft woanders – zum Beispiel in der Wirtschaft oder im Ausland – vermuten, oder weil sie gar keinen Zugang zur Politik finden.
Das macht mir Sorge und fordert unser demokratisches System zu deutlich mehr Sorgfalt heraus. Ich freue mich aber natürlich, dass gleichzeitig so viele Menschen für das Klima auf die Straße gehen, und ich hoffe, sie haben einen langen Atem. Aber es ist eben nicht die junge Generation, sondern es ist nur ein Teil von ihr, wenn auch ein erheblicher.
Als Partei sehen wir solche Bewegungen nicht als Alternative zu uns, sondern als eine notwendige Ergänzung. Und, machen wir uns nichts vor, natürlich auch als Kritik an unserer Politik. Manche von ihnen zweifeln sogar an unserem demokratischen System und der Notwendigkeit von Parteien, weil ihnen vieles träge erscheint. Die möchten sich zu recht nicht mit irgendwelchen Floskeln abspeisen lassen. Diese Menschen wollen Reaktionen sehen. Sie wollen sehen, dass die Politik handlungsfähig ist und die Kontrolle demokratisch ausübt. Wir müssen also unter Beweis stellen, dass unsere Gesellschaft die wesentlichen Dinge unseres Zusammenlebens immer noch selbst gestalten kann und zwar demokratisch.
mein/4: Stichwort Kommunikation auf den Social-Media-Kanälen. Ein großer Teil der Kommunikation findet im Internet statt. Wir erleben teilweise eine Verrohung der Sprache bis hin in den strafrechtlich relevanten Bereich. Beispielhaft dafür ist das Künast-Urteil, aber auch du hast schon Morddrohungen erhalten. Wie gehst du damit um? Geht es auch ohne Internet?
Kevin Kühnert: Es geht natürlich ohne. Aber es geht nicht gut. Die Konsequenz aus Hass im Netz sollte nicht sein, dass wir uns alle aus dem Netz zurückziehen.
Das Netz ist Realität. Es ist auch keine zweite Realität neben dem Real Life, sondern es ist Teil unseres Lebens. Da wird eingekauft, da wird gedatet, da wird kommuniziert, da wird das Familien- und Beziehungsleben organisiert. Das kann ich nicht einfach ausschalten. Ich werde mich damit arrangieren müssen, dass es immer schon Hass und Verachtung in einer Gesellschaft gab.
Den Hass gibt es dementsprechend im Internet auch, aber er muss dort isoliert werden. Ich glaube, wir haben alle ein Gespür dafür, wann eine Grenze überschritten ist. Ab einem gewissen Grad von Aussagen geht es einfach nicht mehr darum, zu sagen: „Du, du, du, das war jetzt aber nicht schön.“ Sondern da geht es darum, anzuerkennen, dass es Leute gibt, die nicht interessiert sind an einer offenen demokratischen Debatte. Ich habe dann beispielsweise die Möglichkeit, sie zu blockieren, was ich bei Beleidigungen oder faschistischen Aussagen auch konsequent mache. Ich möchte solchen Leuten auch gar nicht meine Reichweite schenken. Das hat etwas mit Mediensensibilität zu tun.
Ansonsten geht es auch darum, vorzuleben, wie eine vernünftige Debattenkultur aussehen kann. Wenn wir als Politiker und Politikerinnen, die wir im Netz unterwegs sind, immer nur senden, aber gar nichts empfangen, nicht in den Austausch treten, dann entsteht natürlich schnell der Eindruck: Ich kann schreiben, was ich will, der liest es ja sowieso nicht. Doch die meisten lesen das schon, man sollte es die Leute nur merken lassen.
Ich mische mich in meinen Kommentarspalten in Diskussionen ein, ich signalisiere der Community: Na klar lese ich das. Erstens aus Respekt, denn ihr macht euch Gedanken, ihr schreibt eure Frage. Und natürlich versuche ich, diese zu beantworten. Zweitens möchte ich Sensibilität schaffen. Ich merke nämlich, dass meine Followerinnen und Follower auch viel aufmerksamer reagieren bei einem Shitstorm. Sie schreiten oft bei einer Beleidigung ein, bevor ich das tun kann. Weil sie genau wissen, dass ich es auch selbst lese. Ich soll sehen, dass es hier Solidarität gibt, dass es nicht die Mehrheitsmeinung ist.
Vormachen sorgt meistens auch für Nachmacher. Das ist ganz erfreulich zu sehen.
mein/4: Hat dein Tag mehr als 24 Stunden? Wenn du sagst, du diskutierst in deinen Kommentaren selbst?
Kevin Kühnert: Ich kann natürlich nicht alles beantworten. Aber ich kann versuchen, den Kern der Kritik oder der Fragen zu erkennen und zu beantworten. Ich suche mir dann drei bis vier repräsentative Punkte raus, die ich stellvertretend beantworte. Ich empfinde das nicht als Extraarbeit oder -zeit. Für mich ist es Teil meines Alltags. Es gibt nicht die politische Arbeit, die aus Akten lesen und Konzepte entwickeln besteht, während so ein bisschen Social-Media-Chi-Chi nebenbei gemacht wird. Es gehört beides zusammen. Wenn ich Politik mache und nicht darüber rede, dann kann ich es auch sein lassen.
Demokratie besteht daraus, Ideen weiterzutragen und eine Haltung zu transportieren, gegen Kritik zu argumentieren und sich auch selbst dabei zu hinterfragen. Es ist ja auch für mich ein Argumentationstraining, wenn ich in den Austausch mit anderen Leuten trete und mich zwinge, meine Filterblase zu verlassen, die ich im Alltag auch habe. Natürlich bin ich bei den Jusos und in der SPD mit Leuten zusammen, die die Welt eher so sehen wie ich. Deshalb haben wir uns ja in einer Partei zusammengeschlossen. Aber ich muss in dieser Blase nicht verharren, sondern kann sie immer wieder gezielt verlassen, mich anderen Perspektiven aussetzen.
Allerdings nicht, indem ich mir Hasskommentare durchlese. Die sind nicht Teil der demokratischen Debattenkultur. Sondern indem ich mich auseinandersetze mit anderen demokratischen Weltsichten, die es zuhauf gibt und die manchmal zu leise sind, weil sie nicht mit Schimpfwörtern daherkommen.
Wir alle müssen gucken, worauf wir reagieren. Ist es sinnvoll, Hasskommentare, die uns erschreckt haben, noch weiter zu verbreiten, indem wir sie kommentieren? Ich muss das nicht multiplizieren. Da fehlt es uns in der Gesellschaft, auch nach 20 Jahren mit dem Internet als Massenphänomen, manchmal an Medienkompetenz, um klug damit umzugehen.
mein/4: Wo ist Kevin Kühnert in fünf Jahren? Lokalpolitik? Bundespolitik?
Kevin Kühnert: Keine Ahnung. Ganz ehrlich: Ich mache grundsätzlich keine Jahrespläne. Ich habe das noch nie gemacht. Meine Erfahrung ist, wenn man seine Sache ordentlich macht, dann passieren Dinge ein Stück weit von alleine. Ich möchte auch nicht in einen Modus kommen, wo ich vor Ehrgeiz zerfressen auf irgendetwas hinarbeite. Dann gerät nämlich auch der eigentliche Kern der politischen Arbeit aus dem Blick und wird ausgetauscht gegen persönliche Karriereziele.
Ich bin nicht naiv, ich weiß schon, dass man politische Verantwortung, Macht, oder wie auch immer man das nennen mag, anstreben sollte, wenn man etwas verändern will. Nur aus Schöngeistigkeit ändert sich meistens nichts. Aber man kann nichts erzwingen. Es ist kein Bewerbungsverfahren, in dem nach objektiven Kriterien entschieden wird. Da spielen so unberechenbare Faktoren wie Wählerinnen und Wähler mit. Die gesellschaftliche Entwicklung haben wir alle nur bedingt in der Hand.
Was ich garantieren kann, ist, dass ich politisch aktiv bleiben werde in irgendeiner Art und Weise. Und dass der Ort, von dem das herkommt, vielleicht auch noch ganz lange Tempelhof- Schöneberg sein wird, weil das der Bezirk ist, um den sich eigentlich mein ganzes Leben dreht.
mein/4: Kevin Kühnert, vielen Dank für das Gespräch.